Akremi, Leila, Nina Baur, Hubert Knoblauch und Boris Traue (Hrsg.): Handbuch. Interpretativ forschen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018. 961 Seiten. ISBN: 978-3-7799-3126‑3. Preis: € 49,95.

Wer wäre in Zeiten der Polarisierungen nicht dafür zu haben: ein Wurf, der überbrückt, statt trennt, der versöhnt, statt spaltet? Die Soziologie scheint hiervon mehr denn je zu benötigen, um ihre Fliehkräfte zu bändigen. Entsprechend begrüßen auch wir dieses Verständigungsangebot aus dem Hause der deutschen Wissenssoziologie und im Geiste des weberianischen Programms einer verstehend-erklärenden Soziologie. Der „Wurf“ in dem hier von uns besprochenen, 961 Seiten umfassenden Handbuch fasst „das Interpretative“ als überwölbendes Programm der Soziologie. Unter diesem Dach der Deutung versammeln sich so namhafte „qualitativ“ Forschende wie Hubert Knoblauch, Gesa Lindemann, Jo Reichertz, Gabriele Rosenthal oder Jörg Strübing ebenso wie „quantitativ“ Forschende wie Eva Barlösius, Nina Baur oder Leila Akremi.

Doch was genau wird hier mit „interpretativ“ bezeichnet? Einleitung sowie Beiträge der ersten beiden Kapitel zur „Theorie und Empirie der Interpretativität“ lassen in wissenssoziologischer Tradition sowohl ein starkes (enges) als auch ein schwaches (weites) Programm interpretativer Forschung erkennen. Die Klammer des „Interpretativen“ ist in ersterem auf Max Webers Vorstellung des Nachvollzugs und der Erklärung des subjektiv-gemeinten, auf andere gerichteten Sinns individueller Handlungen bezogen (S. 9 f.). Hinzu tritt Alfred Schütz’ fundamentaler Ansatz einer phänomenologischen Soziologie, der die Deutungsnotwendigkeit und -arbeit jedweder Praxis betont. Diesem engen Programm des Sozialen als interpretativ steht ein weites oder schwaches Programm gegenüber. Letzteres bezieht sich nicht mehr auf das Soziale selbst, sondern auf die Forschungspraxis. Es ist nicht die Handlung, die es für jedwede Soziologie zu interpretieren gilt; es sind die Forschenden, die immer auch – indem sie forschen – irgendwie interpretieren. Die subjektive Aneignung von Forschungsgegenständen, Daten und Resultaten sei demnach unvermeidbar.

Noch entlang des starken Programms macht Andrea Ploder gleich im ersten Beitrag nach der Einleitung geltend, dass der Begriff der „interpretativen Forschung“ aktuell eine neue „Distinktionsfunktion“ (S. 61) erhalten habe, da der Begriff der „qualitativen Forschung“, der seit der Verknüpfung von qualitativer und interpretativer Forschung am Ende der 1970er-Jahre wissenschaftspolitisch „ein großer Erfolg war“ (S. 58), heute an Trennschärfe verloren habe. Dass diese Abgrenzungsfragen nicht abgeschlossen sind, wird im Querschnitt des ersten Kapitels des Handbuchs deutlich, wenn beispielsweise in verschiedenen Beiträgen „qualitativ“ und „interpretativ“ teils synonym (Lindemann, Barth und Tübel, z. B. S. 208) und teils gegensätzlich als Überbegriff verwendet werden: Wird einmal im Sinne der Einleitung von „methodologischen Ansätze[n]“ gesprochen, „die der qualitativen Forschung im interpretativen Paradigma zugeordnet werden können“ (von Unger, S. 172), wird woanders „qualitative Forschung als der generische (Über‑)Begriff verwendet, der Ansätze interpretativer Forschung als Teilmenge einschließt“ (Flick, S. 183). Diese eigenständigen programmatischen Würfe schaffen so in ihrem Nebeneinander teils mehr Verwirrung denn Klärung bezüglich der Bestimmung und des Status des „Interpretativen“. Das Nebeneinander von starkem und schwachem Programm, so unsere Skepsis, mag keine stabile Basis bereiten, um die Vielzahl der Forschungsansätze – von der Biografieforschung über die Variablensoziologie bis hin zur Diskursanalyse – einzufangen.

Das Wechselspiel zwischen starkem und schwachem Programm und die gleichzeitige Bindung an subjektive Handlungen (mal der Beforschten, mal der Forschenden) unternimmt eine Doppelbewegung: mal verengt es den Begriff interpretativer Forschung auf die Diagnose von Einzelfällen und schließt damit Ansätze als lediglich qualitativ aus, wie die Ethnomethodologie, die das Interpretieren der „Members“ fokussiert, oder die Grounded Theory, die die verstreuten interpretativen Konzepte in Handlungsfelder einordnet; mal verbreitert es den Begriff interpretativer Forschung und schließt qualitative und quantitative Ansätze ein, weil diese alle auch interpretieren müssen. Am deutlichsten bringen die ersten beiden Beiträge des Einstiegskapitels dieses Wechselspiel zum Ausdruck: zur „Theorie und Empirie der Interpretativität in der qualitativen Sozialforschung“ (Abschn. 1.1) mit einem überwiegend (unnötig) starken Programm einerseits und zur „Theorie und Empirie der Interpretativität in der quantitativen Sozialforschung“ (Abschn. 1.2) mit einem (unnötig) schwachen Programm andererseits. Das Handbuch suggeriert auch im Aufbau, dass die vorgestellten Methoden jenseits der Unterscheidung qualitativ/quantitativ operieren, ja dass der (wissenssoziologische) Fokus auf das Interpretative diese „unproduktive“ Unterscheidung unterlaufen könnte. Die Kapitelüberschriften „Analyse kultureller und struktureller Ordnungen“ (Kapitel 3), „Rekonstruktion von Handlungsprozessen und -produkten“ (Kapitel 4), „Analyse der Medialität und Materialität von Gesellschaften“ (Kapitel 5) und „Methoden zur Erfassung langfristigen sozialen Wandels“ (Kapitel 6) ordnen die methodischen Ansätze entlang von Bezugsmaterialien, Datentypen und Untersuchungsgegenständen. „Kulturelle und strukturelle Ordnungen“ werden beispielsweise per „Objektiver Hermeneutik“ (Maiwald), „Dokumentarischer Methode“ (Kanter), „Qualitativer Inhaltsanalyse“ (Kuckertz) sowie „Neuen Synthesen von Handlungs- und Strukturanalyse“ (Diaz-Bone) untersucht. Es tauchen hier standardisierte Verfahren neben nichtstandardisierten, quantitative neben qualitativen, methodologisch-individualistische neben holistischen Ansätzen auf. Zwischen den Beiträgen mäandert der Begriff des Interpretativen weiter zwischen einem starken und einem schwachen „wissenssoziologischen“ Programm, ohne dies anzuzeigen oder gar zu reflektieren.

Das starke Programm ist prominent vertreten. In seinem Beitrag zum „Interpretieren in Interpretationsgruppen“ beschreibt Jo Reichertz den Prozess des soziologischen Deutens in Interpretationsgruppen. Angepeilt wird hier die „Übersetzung von Sinn“ (S. 73) in Form eines „komplexen kognitiven, instrumentellen […] kommunikativen Prozesses“ (ebd.) anhand von „textförmigen“ (S. 88) Daten. Reichertz grenzt soziologisches Interpretieren ab von „induktivem Schlussfolgern“ (S. 76) oder „Kodieren“ (S. 77), von „fiktionaler Erzählung“ (S. 77) und „Alltagsinterpretationen“ (S. 77) sowie von anderen „beliebigen“ Interpretationen (S. 79) wie „Geniestreichen“ (S. 79). Beim „gemeinsamen Deuten“ (S. 94) der soziologischen Hermeneutiker und Hermeneutikerinnen ließen sich „bessere Produkte bzw. Ergebnisse erzeugen“ (S. 82), da diese „aktiv in Auseinandersetzung mit Team-Kolleg/innen, der Scientific Community und der Gesellschaft produziert“ (S. 89) würden. Die Deutungen bewegten sich zeitgleich in der „Welt des Wissens“ (S. 89) und „der Macht“ (S. 89). Die Untersuchten nähmen an dieser Produktion „Konstruktionen zweiter [oder] dritter Ordnung“ (S. 103) nicht teil. Hier wird, jenseits der unterschiedlichen Ausprägungen der interpretativen Verfahren, das starke Programm der Interpretation bezogen auf subjektive soziale Handlungen und deren (inter-)subjektive Ausdeutung als Kunstfertigkeit qualifiziert: „Jeder Interpretation“ gehe hier „ein ‚aktiver Sprung‘ voraus, der von den Interpretinnen erbracht werden muss. Allerdings variiert der Aktivitätsgrad mit den jeweiligen Verfahren der Interpretation: Bei Paraphrasen ist der Sprung eher gering, bei Inhaltsanalysen (vgl. Kuckartz in diesem Band) schon größer und bei hermeneutischen Interpretationen (vgl. Maibaum und Herbrik in diesem Band) eher sehr groß“ (Reichertz, S. 77). Entlang dieser provisorischen Graduierung hätte unserer Meinung nach die Möglichkeit bestanden, die Ansätze im Handbuch systematisch zu unterscheiden. Maßgebend wäre dann die Sprungweite zwischen Datum und Deutung, zwischen Material und der Bedeutungszuschreibung.

Ein anders fundiertes Programm der Interpretation jenseits der engeren Wissenssoziologie findet sich im Beitrag von Lindemann, Barth und Tübel. Sie bestimmen in ihrem Beitrag „[m]ethodologisch kontrolliertes Verstehen als Kernstrategie der qualitativen Forschung“, dessen Prinzip einer „vermittelte[n] Unmittelbarkeit“ (nach Helmuth Plessner) dort „implizit wirksam“ (S. 204) ist: „Die interpretierende Sozialforschung stellt den Sachverhalt zentral, dass ihre Forschungsobjekte Subjekte sind, die ihre Lebenswelt interpretieren und ihren sinnhaften Bezug auf Dinge und andere Subjekte eigenständig gestalten“ (S. 205). Lindemann et al. nehmen dafür auf verschiedene „theoretisch-methodologische Schulen“ (S. 211) oder „Ansätze qualitativer Sozialforschung“ (S. 212) Bezug, insbesondere auf die Diskursanalyse „als Teil des Mainstreams der qualitativen Forschung“ (S. 211) oder auf die „Grounded Theory“ (S. 213). „Beide methodologischen Ansätze verschreiben sich klar dem Prinzip der offenen Frage […]. Die methodologischen Kontroversen über das Verständnis des Prinzips der vermittelten Unmittelbarkeit beziehen sich [jedoch] zum einen auf die Strukturmerkmale des Gegenstandes (Diskursanalyse) bzw. zum anderen auf die Reflexion der Forschungsbeziehung (Grounded Theory)“ (S. 213). Unmittelbarkeit tritt hier in verschiedensten Kontaktzonen auf: in der interaktiven Datenerhebung, in der geteilten kulturellen Erfahrung, in der Rückspeisung der Resultate an die Betroffenen. Entlang der Unterscheidungen des starken Programms ist der Status dieses qualitativen Beitrags von Lindemann et al. allerdings unsicher; fällt diese Unmittelbarkeit noch in den vom Handbuch ausgelegten interpretativen Rahmen?

Einen Übergang vom starken zum schwachen Programm markiert (wenn auch implizit) der Beitrag von Hubert Knoblauch mittels des Begriffs der Reflexion. Er argumentiert für eine „reflexive Methodologie“, mit der „die Sozialwissenschaft ihre Methoden und damit auch ihre Befunde begründen kann, ohne auf absolute Prinzipien der Letztbegründung, substanzielle oder naive unausgesprochene Wahrheitsbegriffe zurückgreifen zu müssen. Sie wendet sich vielmehr reflexiv ihren eigenen Praktiken so zu, dass sie ihr eigenes Handeln daran ausrichten kann“ (S. 226). Zentral ist dafür das Konzept der „kommunikativen Reflexivität“, das „[i]m Unterschied [einer] im Selbst verankerten Reflexivität […] eine Sozialtheorie voraus[setzt], die soziales Handeln als wesentlich relational versteht, das sich körperlich vollzieht, deswegen grundsätzlich mit Objektivierungen verbunden, also kommunikatives Handeln ist“ (S. 231). Forschungsdaten dienen dabei der Unterbrechung des „indefiniten Regress“ (S. 237) einer Reflexion des eigenen Vorgehens. „Zentrales Merkmal der reflexiven Methodologie ist also die auf Daten gestützte empirische Beobachtung der realzeitlichen Anwendung einer Forschungsmethode, die ihrerseits mit empirischen Daten arbeitet“ (S. 237). Knoblauch grenzt sich durch seinen Rückgriff aufs interpretierende Subjekt von ethnomethodologischen und praxistheoretischen Betrachtungen ab (S. 240): „Auch wenn man bezweifeln will, dass gerade die Differenz des Subjekts zu den gesellschaftlichen Vorgaben an Methoden, wissenschaftlichem Wissen und Praktiken die Hauptquelle von Innovationen darstellt, so ist ihre Bedeutung doch so groß, dass es selbst in den standardisierten Wissenschaften fast immer einen Unterschied macht, wer die ‚Praktiken‘ durchführt“ (S. 240). Knoblauch unterscheidet hier nicht Arten der Interpretation, sondern „verteidigt“ die zentrale Setzung des (reflexiven wie handelnden) Subjekts in der Wissenssoziologie. Es ist diese Setzung, die nun einen breiten Begriff der interpretativen Sozialforschung trägt.

Diese Stippvisiten mögen genügen, um das Mäandern des Handbuchs zwischen starkem und schwachem Programm zu illustrieren. Dabei verdankt das Handbuch seine eigentliche Pointe einer übergreifenden interpretativen Grundlegung verschiedenster Forschungsprogramme doch allein letzterem. Rainer Keller (Keller 2012, S. 1–19) etwa unterscheidet folgende Kernausprägungen des interpretativen Paradigmas: die Chicago Schule, den symbolischen Interaktionismus, die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie, die Ethnomethodologie und die Soziologie der Interaktionsordnung. Wo nun derart verschiedene Ansätze des Interpretativen im Spiel gehalten werden, riskiert der Band seine begriffliche Konsistenz. Was genau wäre nun eine interpretative Forschung: eine Forschung, die jeden soziologischen Gegenstand letztlich auf ein soziales Handeln zurückführt, das interpretationsbedürftig ist; eine Forschung, die bezogen auf jedweden soziologischen Gegenstand immer auch auf Mittel der Interpretation vonseiten des oder der Forschenden zurückgreifen muss? Das starke Programm zeigt Ansätze an, in denen die Subjektivität der Handlung mit verschiedenen Interpretationsverfahren zusammengebracht wird. Dies schließt etwa Interpretationsgruppen ein (im Band bei Hering, Reichertz, Traue, Schürmann und Pfahl, Tuma und Knoblauch) und gilt auch für Sekundäranalysen, die „unterstellt, dass Daten auch außerhalb ihres unmittelbaren Erhebungskontextes ausgewertet und interpretiert werden können“ (Medjedović, S. 119). Hier kann der Datenkorpus jenseits der „Primärforscherinnen“ (S. 119) erneut interpretiert werden – und so womöglich den Zeitkern von „damaligen“ Deutungen herausarbeiten. Im schwachen Programm wird die Subjektivität des klassischen Handlungsbegriffs auf die Forschung als Handeln rückgespiegelt: auch eine objektivierende Forschung muss (immer auch) „subjektiv“ handeln bzw. interpretieren.

Das schwache Programm begnügt sich damit, die Forschung als „gelegentlich“ subjektivierend darzustellen; so etwa, wenn in der Statistik verschiedene Methoden des weitläufigen Erklärens bemüht werden, die an verschiedenen Zeitpunkten im Forschungsverfahren nach begrifflichen Einordnungen von Daten und Kategorien verlangen und wiederholt das Verhältnis von Fallauswahl und Fallzuschnitt zu bestimmen haben. Die Forschenden sind hier auch „subjektiv“ gefragt, weil der Gegenstand selbst nicht die Unschärfe zwischen analytischer Tiefe und Breite inklusive des Verstehens und der Generalisierbarkeit der Erklärung „objektiv“ diktiert. Weitaus mehr „Subjektivität“ ist allerdings gefordert, wo, wie in der partizipativen Forschung, eine „unkonventionelle Grenzgängerin“ (von Unger, S. 172) involviert wird, die sich „rein wissenschaftlichen Standards und Gütekriterien verwehrt (und damit bestimmte methodologische Anforderungen der interpretativen Forschung vernachlässigt)“ (S. 172). Diese Forschungssubjekte sind gerade in solchen Feldern gefordert, „in denen ein dringender Handlungsbedarf besteht und ethische Gründe dafür sprechen, eine Forschungsstrategie zu wählen, bei dem auch die Beteiligten von der Forschungszusammenarbeit profitieren“ (S. 178). Das Forschen wird hier verteilt, das heißt, die Forschungsteilhabe auf Nichtsoziologen und -soziologinnen „an allen Phasen des Forschungsprozesses“ (S. 165) ausgedehnt. Die Subjektivität der Forschenden ist herausgefordert, wo es nicht mehr nur darum geht, „soziale Wirklichkeit nicht nur zu verstehen, sondern auch zu verändern“ (S. 168). Verfahren für die gemeinsame Auswertung von Forschenden und Co-Forschenden, in denen „implizite Wissensbestände expliziert, gemeinsam interpretiert und transformiert“ (S. 170) werden, müssen „unter Beteiligung der Partner/innen durchgeführt werden können“ (S. 170), sodass „Auswertungsverfahren, die schwer nachvollziehbar sind und ein spezielles Fachwissen oder ein bestimmtes theoretisch-begriffliches Vorwissen voraussetzen, das nur mit einem unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand vermittelt werden kann, weniger geeignet“ (S. 171) sind und „begründete Abweichungen von akademischen Maximalforderungen an methodische Genauigkeit und Vollständigkeit“ (S. 171) stattfinden. Was das wiederum für die Interpretation von Handlungen bedeutet, d. h. welche andere Form von Wissen durch „Co-Interpretation“ erzeugt wird, bleibt hier offen. Im schwachen Programm der Interpretation genügt es, eine Subjektivität der Forschenden anzunehmen und diese mitlaufend zu reflektieren.

Starkes wie schwaches Programm werden in den Beiträgen der folgenden Kapitel (Kapitel 3–6) des Handbuchs anhand verschiedener Datentypen und Erhebungssituationen verschiedentlich mobilisiert, ohne diese wiederum als solche explizit zu unterscheiden und abzugrenzen. Das starke interpretative Programm führt Forschungen auf Kulminationspunkte zu, in denen ein komplexer Handlungszusammenhang am Einzelfall erfasst wird. Die verschiedenen Daten machen je eigene Sinneinheiten zugänglich, die entlang von Beweggründen ausgedeutet werden (sollen). Die Beiträge zur „Analyse der Medialität und Materialität von Gesellschaften“ befassen sich etwa mit der „[v]isuelle[n] Diskursanalyse“ (Traue und Blanc), der „Film- und Fernsehanalyse“ (Keppler und Peltzer), der „Artefaktanalyse“ (Lueger und Froschauer) sowie der „Big Data“ (Reichert). Zur Aufstellung der interpretativen, fallrekonstruktiven Situation entnehmen die vorgestellten Verfahren ihre jeweiligen Daten (Bilder, Filme, Artefakte, Grafiken) aus einem laufenden gesellschaftlichen Geschehen, in denen diese eine relative Relevanz entfalten. Der von den Beiträgen angestrebte Nachvollzug der Deutung dieser „Dokumente“ erfordert nun die Explikation des Umgangs mit dieser (Ab‑)Trennung oder der Explikation der Trias Forschende-Forschungsdaten-Forschungskontext. Die Beiträge gehen also von einer Datensorte aus, deren Analyse die Autoren und Autorinnen systematisch vorführen. Die verschiedenen Forschungsdaten – namentlich veröffentlichte Bilder (Traue und Blanc), eine Fernsehserie (Keppler und Peltzer), eine Unternehmensbroschüre (Lueger und Froschauer) sowie Datenvisualisierungen (Reichert) – zeigen an: Soziologische Interpretation operiert mit sprachlichen Dokumenten und schöpft diese aus den verschiedenen Datentypen per Überführung oder -setzung. So finden sich unter den in den Beiträgen vorgeschlagenen methodischen Schritten die „Transkription“ (Keppler und Peltzer, S. 757) sowie die „Schilderung“ (Traue und Blanc, S. 724) oder „Deskriptive Analyse“ (Lueger und Froschauer, S. 788): „Wichtig ist, dass bei der Transkription der visuellen und auditiven Dimensionen nichts interpretiert, sondern lediglich die denotative Ebene des Gezeigten genau und mit Blick für das Detail beschrieben wird“ (Keppler und Peltzer, S. 757). Das zu interpretierende Dokument soll selbst nicht schon die Interpretation vorwegnehmen. Das untersuchte „Ding“ oder „Medium“ wird damit freigestellt, da es im Zentrum der Analyse stehen soll – ganz entsprechend eines „New Materialism“, in dem dessen Eigensinn zentral für die Theoriebildung wird. Dabei sollte jedoch die formale Ähnlichkeit der methodischen „Schritte“ (Keppler und Peltzer, S. 746; Traue und Blanc, S. 720; Lueger und Froschauer, S. 782), die die Autoren und Autorinnen vorschlagen, nicht von den Unterschieden in den präsentierten Verständnissen des Interpretativen ablenken. Während die Artefakt- und Filmanalysen die Kontexte von Broschüren, Filmen, etc. zeitweise bewusst ausblenden und die visuelle Diskursanalyse einen Kontext erst konstruiert – in Form von Verbindungen zwischen Bildern, die als Folie zur Interpretation eines Ausgangsbilds selbst ausgewählt werden –, belässt etwa Reichert die untersuchten Daten im Kontext ihrer wissenschaftlichen Visualisierungen („heat mapping“, „trending topics“) und damit in ihrer interpretativen Verwendung. Hier zeigt sich wiederum ein Spektrum an „Sprungweiten“ (Reichertz), in denen soziologische Interpreten und Interpretinnen unterschiedlich „frei“ assoziieren. Sie tun dies mehr oder weniger unabhängig von den lokalen Praktiken, in denen die Bilder, Filme, Artefakte und Daten ihren Sinn erfahren.

Doch es sind nicht nur diese unterschiedlich weiten Sprünge zwischen Datum und seiner deutenden Übersetzung mit den dabei ins Spiel gebrachten Subjektivitäten; es sind – dies dokumentieren die verschiedenen Methodenkapitel des Handbuchs eindrücklich – auch die unterschiedlich komplexen soziologischen Forschungsweisen mit ihren präferierten Gegenständen, in denen sich „interpretativ forschen“ unterscheidet. Nur die Forschungsverfahren als Ganze, also als umfassende Herangehensweisen und nicht nur forschende Subjekte, sind überhaupt in der Lage, die vorgestellten Datenerhebungen und -analysen zu leisten. Die reduktionistischen (quantitative) bis verdichtenden (qualitative) Forschungsweisen als soziomaterielle und programmierte Praxen betreiben als Ganze das Geschäft des Interpretierens. In diese ist das jeweilige (theoretisch, analytisch, normativ, etc.) gestimmte Personal eingelassen. Die im starken Programm unterstellte, unmittelbare interpretative Situation, in der das zu deutende Handeln und die Deutung der Forschungssubjekte zusammentreffen sollen, erscheint im Lichte des Spektrums der konkreten Forschungsweisen als zu stark verengt. Wo es die eigene weberianische Version des Sozialen derart auf die soziologische Forschung als Praxis selbst anwendet, erweist sich der Band in seiner Anlage als wissenssoziologisch allzu beschränkt. Hier wären Anleihen bei den Science and Technology Studies, den Laborstudien, der Akteur-Netzwerk-Theorie oder der Praxisforschung angemessen gewesen, um dem Interpretieren seinen jeweiligen Sitz im Forschungsverfahren zuzuweisen.

Ob der im Handbuch vorgeschlagene Begriff des „interpretativ Forschens“ genügt, die Disziplin zu einen, kann derart stark bezweifelt werden; auch, ob es überhaupt erstrebenswert ist, das interpretative Paradigma derart zu veruneindeutigen, um eine geteilte Fundierung vorzunehmen, muss hier bezweifelt werden. Wir meinen: Eine Betonung der Vielfalt und Verschiedenheit „auf einer Linie“ oder innerhalb eines Spektrums wäre durchaus möglich, lehrreich und produktiv gewesen. Handbücher, so ließe sich entgegenhalten, sind keine Orte weitreichender Analysen. Allerdings sollten Handbücher auch Studierenden dabei helfen, begründet zu ordnen und so ein Unterscheidungsvermögen auszubilden, etwa indem die für eine Forschung zur Verfügung stehenden Varianten des Interpretierens programmatisch wie pragmatisch markiert werden. Derart ließe sich anzeigen, wo ein jeweiliger Ansatz als eine Wahl unter anderen mit eigenen Kapazitäten wie Beschränkungen erscheint. Hierzu gehört, dass Ansätze durchgängig als interpretativ erkennbar sind; dass für sie das Interpretieren mal mehr und mal weniger zentral und aufwendig ist; dass es vor diesem Hintergrund stark-interpretierende bis hin zu teils anti-interpretativen Forschungsstrategien gibt.

Demgegenüber geraten dem Handbuch die komplexen Forschungsverfahren mit ihren Instrumenten, Begriffsapparaten, Gegenstandsformaten und Techniken aus dem ordnenden Blick. Der mangelnde analytische Zugriff rächt sich dort, wo Subjekte durchgängig und per se als ausschlaggebende, gleichermaßen relevante Bezugsgrößen gelten (müssen). Dies verstört insbesondere dort, wo, wie in statistischen Verfahren, raumzeitlich verteilte, technisch vermittelte Interpretationen in Anschlag gebracht werden. Der interpretative Bezugspunkt ist mit Blick auf die verschiedenen Verfahren (der Diskursanalyse, Inhaltsanalyse, Big Data, Videoanalysen, etc.) um ein weites vielgestaltiger; sie sind dabei unterschiedlich eingelassen in ihren Untersuchungsgegenstand, dessen Teil sie auf verschiedene Weise werden. Solch ein Programm verteilten Interpretierens ist mit der hier verteidigten Rückfallposition konventioneller Handlungstheorie verstellt – und damit auch der eigentliche Gehalt der Deutungen in den Kultur- und Sozialwissenschaft als rekursive Bestände der von ihnen untersuchten Totalitäten. Dann sind es nicht zuerst Subjektivitäten, sondern Sozialitäten inklusive ihrer Infrastrukturen und Ressourcen, die Forschungsprozesse unhintergehbar interpretativ machen: die natürliche Sprache, die Anleihen an Begriffen und Kategorien der beforschten Kultur, die Symbole und Normen der geteilten Praxiszusammenhänge, die vorgefundenen zeitgenössischen Problematisierungen, die politischen Aufladungen, etc. Sozialforschungen sind verteilte Deutungen einer sozialen Situation und allgemeinen Lage, deren Teil sie immer schon sind und analytisch werden müssen. „An und für sich“ interpretativ sind diese Forschungen dann und nur dann, so unser Vorschlag, wenn sie sich selbst als Teil des Gegenstands begreifen und entwerfen, an dem und in dem sie forschen. Dieses Begreifen und Entwerfen erschließt sich nicht schon in subjektiven Reflexionen, sondern in jeder Beziehung zwischen apparativ angelegten Forschungsverfahren einerseits und ihrem zugeschnittenen Gegenstand andererseits. Aus unserer Sicht wäre es dieses erweiterte, nicht mehr unmittelbar an den Weberianischen Handlungsbegriff angelehnte Programm einer Sozialforschung, das die heutigen vielfältigen Sozialforschungen mit ihren je eigenen bedingten Kapazitäten adäquat zu differenzieren und zu vermitteln vermag.