Zusammenfassung
Im Zuge des sozialen und demographischen Wandels ist der Bevölkerungsanteil von Personen mit vergleichsweise geringen Armutsrisiken (z. B. von Hochqualifizierten, Kinderlosen und Personen mittleren Alters) erheblich angewachsen. Dennoch ist die aggregierte Armutsquote im Zeitverlauf nicht gesunken. Um dieses Phänomen aufzuklären, analysiert die Arbeit den Beitrag des Wandels von Alters-, Bildungs- und Haushaltsstruktur zur Armutsentwicklung in Deutschland zwischen 1992 und 2008. Hierzu werden individuelle Armutsrisiken nach Lebensalter, Bildungsniveau und Kinderzahl für jedes Kalenderjahr im Betrachtungszeitraum geschätzt und auf Basis der Bevölkerungsstruktur des Jahres 1992 aggregiert. Damit wird es möglich, die Armutsentwicklung unter konstanten Bevölkerungsbedingungen, also strukturbereinigt, für den Zeitverlauf nachzuvollziehen und mit der tatsächlichen Entwicklung zu vergleichen. Grundlage der Analysen sind die Daten des Sozio-oekonomischen Panels. Die Ergebnisse zeigen, dass durch die Zunahme der individuellen Armutsrisiken heute, strukturbereinigt, etwa ein Drittel mehr Menschen arm wären (16,6 %), als dies aktuell tatsächlich der Fall ist (12,0 %). Der strukturelle Bevölkerungswandel, hin zu sozialen Gruppen mit relativ geringen Armutsrisiken, hat damit einen Anstieg der Armutsbetroffenheit um mehr als vier Prozentpunkte verhindert. Die in den letzten Jahren zumeist stagnierende oder „nur“ leicht gestiegene Armutsquote ist damit zum großen Teil die positive Folge der soziodemographischen Umschichtung der Gesellschaft.
Abstract
In the course of social and demographic changes the share of the population with comparatively low poverty risks (e.g. highly educated, childless and middle-aged persons) increased substantially. Still, the aggregated poverty rate did not sink over time. To explain this phenomenon, this paper analyses the impact that structural changes in age, education, and household composition had on the development of poverty in Germany between 1992 and 2008. For this purpose individual poverty risks are estimated according to age, educational level and number of children for each calendar year in the given period and aggregated on the basis of the population structure of the year 1992. This reveals the poverty development under constant, structurally adjusted conditions and enables the comparison with the actual development.The data analysis is based on the German socio-economic panel. The findings show that due to the increase of individual poverty risks today—structurally adjusted—an additional third of people would be poor (16.6 %) than is actually the case (12.0 %). The structural population changes towards social groups with relatively low poverty risks therefore prevented an increase in poverty rate by more than four percentage points. Thus, the stagnating respectively ‘only’ slightly increased poverty ratio is for the most part a positive result of the socio-demographic changes in German society.
Notes
Dieser Zeitraum ist die Grundlage der Untersuchung, da bei der Erstellung des Beitrags im Jahr 2010/2011 aktuellere Daten nicht verfügbar waren. Aktuellste Daten sind jedoch nicht das Hauptaugenmerk der Arbeit, sondern vielmehr geht es um die Herausarbeitung der generellen Bedeutung des sozialen und demografischen Strukturwandels für die Armutsentwicklung.
Die Haushaltsstruktur insgesamt hat sich natürlich auch abseits der Entwicklung der Kinderzahl verändert. Beispielsweise wird ein Anstieg des Anteils alleinerziehender Haushalte als ein entscheidender Faktor für die Veränderung der Armutsquote angesehen.
Bei der Ermittlung der kontrafaktischen Armutsentwicklung gibt es auch Interaktionseffekte. Diese sind aufgrund der Fülle der Interaktionseffekte aber nicht das Thema der vorliegenden Arbeit.
Mit der modifizierten OECD-Skala, die u. A. vom DIW genutzt wird, weichen die Werte teilweise deutlich ab. Beispielsweise lag im Jahr 2008 die Armutsquote bei 15,5 % anstelle der hier gemessenen 12,0 % nach Citro und Michael.
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Danksagung
Ich danke den Herausgeberinnen und Herausgebern, den Gutachterinnen und Gutachtern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des SOEP sowie Katharina Kunißen, David Binder, Felix Wolter und Peter Preisendörfer für ihre wertvolle Unterstützung.
Anmerkung der Redaktion:
Dr. Alexander Schulze verstarb am 14.01.2015 unerwartet und konnte seinen vorliegenden Beitrag für die KZfSS nicht mehr Korrektur lesen. Prof. Gunnar Otte (Universität Mainz) und die Redaktion der KZfSS haben diese Aufgabe übernommen. Der Beitrag von Herrn Dr. Alexander Schulze erscheint in diesem Heft posthum. Die Redaktion möchte mit dem Abdruck des Beitrags der Witwe von Herrn Schulze auf diesem Weg ihr tiefstes Mitgefühl für diesen tragischen Verlust aussprechen.
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Schulze, A., Dreier, V. Der Beitrag des sozialen und demographischen Strukturwandels zur Armutsentwicklung in Deutschland. Köln Z Soziol 67, 197–216 (2015). https://doi.org/10.1007/s11577-015-0307-8
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