Hintergrund

Schäden in der Patientenversorgung sind global eine erhebliche gesundheitliche und wirtschaftliche Belastung [24, 34]. So wird die Prävalenz vermeidbarer unerwünschter Ereignisse in der Gesundheitsversorgung auf 6 % geschätzt [24]. Ein bedeutsamer Ansatz zur Prävention dieser und zur Förderung der Patientensicherheit ist die Einbeziehung von Patient:innen: Ihre eigenen Erfahrungen können essenziell zu einer sichereren Versorgung oder Qualitätsverbesserung beitragen [2, 8, 23, 34]. Beispielsweise sind Patient:innen im Gegensatz zu Gesundheitsexpert:innen während des gesamten Versorgungsprozesses und der Übergänge anwesend oder tragen bei zu verstehen, was passiert ist, wenn Fehler auftreten. Die aktive Einbindung von Patient:innen wurde deshalb als Ziel in den globalen WHO-Aktionsplan für Patientensicherheit aufgenommen und als nationales Gesundheitsziel formuliert [12, 33].

Während die Evidenz für den Mehrwert von Patienteneinbeziehung zunimmt, erhielten das Verständnis und die Haltung von Patient:innen zum Handlungsfeld Patientensicherheit vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Eine unterschiedliche Perspektive der Patient:innen und denen der Gesundheitsexpert:innen ist eine entscheidende Barriere bei der Implementierung von Aktivitäten zur Patienteneinbeziehung und -sicherheit [4, 10, 16, 25, 26, 32]. So können in der Folge kommunikative Missverständnisse, Unzufriedenheit mit der Versorgung oder Probleme in der Beziehung zwischen Versorger:innen und Patient:innen auftreten. Zudem benötigen Patient:innen und ihre Vertreter:innen relevantes Wissen und Kompetenzen im Handlungsfeld Patientensicherheit, um sich effektiv (und partnerschaftlich) zu beteiligen sowie informierte Entscheidungen zu treffen [4, 9, 12].

Die Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven und ein gemeinsames Verständnis von Patientensicherheit, das nicht nur klinische Aspekte, sondern auch die subjektiven Erfahrungen der Patient:innen einschließt, ist kritisch in der Implementierung von Maßnahmen, wie auch die Konzepte „being safe“ und „feeling safe“ unterstreichen [17]. Dafür ist es essenziell, was Patient:innen unter Patientensicherheit verstehen und welche Ereignisse sie als sicherheitsrelevant berichten. Gleichfalls ist die komplementäre Sicht der Versorger:innen wichtig, um die Einbeziehung von Patient:innen erleichtern.

Ungeachtet der zunehmenden Evidenz für dieses Verständnis von Patientensicherheit stammen entsprechende Untersuchungen hauptsächlich aus dem angloamerikanischen und australischen Kontext sowie der Primärversorgung [10, 11, 16, 28, 29, 32]. Dieser Mangel steht dem Ruf nach der Berücksichtigung nationaler Versorgungskontexte in Europa gegenüber [1, 16]. Vor allem bei uns im deutschsprachigen Raum ist die Evidenz zur Perspektive von Patient:innen noch immer spärlich und beschränkt sich auf den Einsatz von Fragebögen mit zuvor vorgegebenen Kategorien [21] oder der Häufigkeit von unerwünschten Ereignissen [7, 31]. Bisher fehlt es in Deutschland an explorativer Evidenz eines Verständnisses von Patientensicherheit aus der Perspektive von Patient:innen, welches durch die qualitative Exploration von patientensicherheitsrelevanten Ereignissen abgeleitet werden kann. Dies hat bedeutsame Auswirkungen auf die Konzeptualisierung von Patientensicherheit, die vorrangig durch Gesundheitsexpert:innen geprägt ist.

Ziel der Studie war daher die Exploration des Verständnisses sowie der Erfahrungen von Patient:innen und ihren Vertreter:innen zu patientensicherheitsrelevanten Ereignissen in Deutschland. Zudem wurde untersucht, wie Gesundheitsexpert:innen diese Perspektive von Patient:innen beschreiben. Die Ergebnisse sollen helfen, die Patientenerfahrungen zur Optimierung der Patientensicherheit heranzuziehen und exemplarisch die Chancen und Grenzen der Implementierung von Patienteneinbeziehung zu identifizieren.

Methode

Studiendesign und -setting

Die Studie erfolgte im Rahmen unserer zweiteiligen Delphi-Studie PEPS 2.0 (Akronym: Einbeziehung von Patient:innen zur strategischen Förderung von Patientensicherheit) [13]. Deren Ziel war die empirische Bestandsaufnahme und Ermittlung des Bedarfs sowie der Voraussetzungen von Aktivitäten zur Patienteneinbeziehung in Deutschland zur Förderung der Patientensicherheit. Die erste Runde der Delphi-Studie beinhaltete qualitative Einzelinterviews, woraus die Statements zusammengefasst und konsolidiert wurden. In der zweiten Runde wurden die zentralen Aussagen denselben Teilnehmenden zurückgespiegelt und mithilfe einer quantitativen Online-Befragung Konsens über alle Teilnehmenden hinweg gebildet. Die qualitativen Interviewtranskripte der ersten Runde wurden für die hier berichtete Studie genutzt. Die quantitativen Ergebnisse werden nicht berücksichtigt, da diese inhaltlich keine Informationen zur Zielstellung liefern. Das Vorgehen und die Ergebnisse werden entlang der „standards for reporting qualitative research“ (SRQR) berichtet [22]. Die Delphi-Studie wurde vor Beginn der Rekrutierung im Deutschen Register Klinischer Studien (DRKS) registriert (DRKS00031837).

Eigenschaften der Forschenden und Reflexivität

Bei einigen Interviewten handelte es sich um engagierte Akteur:innen in der Patientensicherheit, also um Personen mit teilweise langjähriger (beruflicher oder privater) Erfahrung im Bereich der Patientensicherheit oder der Patienteneinbeziehung. Die berufliche und teils langjährige Expertise der Autor:innen im Forschungsfeld könnte die Datenerhebung und -interpretation beeinflusst haben, da sie selbst ein eigenes Verständnis von Patientensicherheit aufweisen. Durch Vorkehrungen in der Studiendurchführung und -auswertung, z. B. Auswertung durch eine weitere Person mit allerdings kürzerer Expertise in der Patientensicherheit, Reflexionsgespräche im Studienteam und Ermittlung der Intercoder-Reliabilität wurden erwähnte Einflussfaktoren limitiert. Zudem wurde für Reflexivität und Transparenz ein elektronisches Forschungstagebuch geführt, indem u. a. zuvor das eigene Verständnis von Patientensicherheit dokumentiert und im Nachgang den Ergebnissen gegenübergestellt wurde.

Rekrutierung und Auswahl der Teilnehmenden

Die Rekrutierung der Teilnehmenden der Delphi-Studie wurde über multiple Wege (Post, E‑Mail, soziale Medien) durchgeführt („convenience sampling“). Einschlusskriterien für die Gruppe verschiedener Stakeholder des Gesundheitswesens waren: Ärzt:innen, Qualitäts- und Risikomanager:innen (QM), Patient:innen und Patientenvertreter:innen, Alter ≥ 18 Jahre, wohnhaft in Deutschland, deutschsprachig.

Datenerhebung und -verarbeitung

Die Datenerhebung erfolgte durch semistrukturierte Einzelinterviews mit offenem Antwortformat (Juni/Juli 2023) durch eine Mitarbeiterin des Studienteams (AK). Diese dienten der explorativen Erhebung von Erfahrungen und Erwartungen zur Patienteneinbeziehung in der Patientensicherheit (s. Studiendesign und -setting) [13]. Für die hier berichtete Studie wurden konkrete sicherheitsrelevante Erfahrungen erfragt, welche die Teilnehmenden selbst oder nahe Personen erlebten (z. B. „Was haben Sie für patientensicherheitsrelevante Erfahrungen gemacht?“). Die Expert:innen wurden nach sicherheitsrelevanten Informationen und Eindrücken gefragt, die durch Patient:innen an sie herangetragen wurden („Was sind häufige Themen der Patient:innen, die in Bezug auf Patientensicherheit an Sie herangetragen werden?“). Zudem wurden demographische Daten erhoben. Ein Pre-Test des Interviewleitfadens wurde vorab mit einer Testperson durchgeführt, dessen Ergebnisse im Studienteam besprochen wurden und bei Bedarf zur Anpassung der Fragen führte. Der vollständige Interviewleitfaden ist im Sachbericht des Projekts PEPS 2.0 zu finden [13]. Die Interviews dauerten maximal 60 Minuten und wurden über die Software ZoomX aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen wurden softwarebasiert (f4x) entlang festgelegter Regeln transkribiert und anschließend korrekturgelesen [5].

Datenanalyse

Die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022) diente der systematischen Aufdeckung latenter Inhalte und Datenreduktion mit Hilfe der Software MAXQDA 2022 [15, 30]. Für die thematische Exploration erfolgte die Entwicklung der Haupt- (HK) und Subkategorien (SK) induktiv und iterativ (LB) [15]. Für die Kodierung der vorläufigen HK und SK erfolgte ein Probedurchlauf (AK, LB) und die Überprüfung der Intercoder-Reliabilität mittels Kappa (Kn) [3, 27]. Differenzen wurden im Studienteam diskutiert und Anpassungen vorgenommen. Abschließend wurden 3 HK mit insgesamt 18 SK entwickelt (Tab. 1). Die Reliabilität über alle 3 HK hinweg betrug Kn = 0,83. Abschließend wurden alle Textpassagen mit den distinkten Kategorien kodiert (LB) [15]. Es erfolgte eine kategorienbasierte Analyse (LB) mit einer Quantifizierung der Segmente und Zusammenfassungen der HK [6, 18]. Weitere Details zur Datenanalyse sind im Online-Material 1 dargestellt. Die Hauptkategorien werden nachfolgend als Handlungsbereiche bezeichnet, da die identifizierten Kategorien aufgrund ihrer Inhalte nicht nur rein deskriptive Elemente darstellen, sondern auch Bereiche aufzeigen, die versorgungs- und praxisrelevante Veränderungsmöglichkeiten bereithalten. Die Ergebnisse werden für beide Teilnehmergruppen zusammenfassend dargestellt, um Redundanzen zu vermeiden. Jeweils wird angegeben, in welcher der beiden Teilnehmergruppen dieses Ergebnis gefunden wurde (Patient:innen: P; Expert:innen: E).

Tab. 1 Patientensicherheit aus der Perspektive von Patient:innen: Handlungsbereiche, Subkategorien und exemplarische Aussagena

Techniken zur Verbesserung der Vertrauenswürdigkeit

Sechs maßgebliche Gütekriterien wurden berücksichtigt, um die Qualität und Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse zu gewährleisten [19]. Beispielsweise wurde die Verfahrensdokumentation durch die Explikation des Vorverständnisses sowie des methodischen Vorgehens berücksichtigt, die Regelgeleitetheit durch die a priori Erstellung und Einhaltung eines Studienprotokolls. Die Nähe zum Gegenstand wurde durch den Einbezug von Patient:innen und deren Vertreter:innen als aktive Teilnehmende adressiert, die von patientensicherheitsrelevanten Ereignissen direkt betroffen sein können. Die kommunikative Validierung erfolgte ausschließlich im Rahmen der Hauptstudie in der zweiten Delphi-Runde [13].

Datenschutz und ethische Aspekte

Die Ethikkommission der Universität Bonn hat die Studie positiv bewertet (091/23-EP). Alle Interviewten signierten vorab die Datenschutzvereinbarung und Einverständniserklärung. Transkripte wurden pseudonymisiert und anschließend anonymisiert.

Patienten- und Öffentlichkeitsbeteiligung

Im Sinne eines partizipativen Designs wurden Patientenvertreter:innen durch 5 unstrukturierte Interviews und Konsultationen in die Planung der Hauptstudie involviert, das Studienprotokoll wurde mit einem Patientenvertreter diskutiert [13, 14]. Weder Dritte noch Teilnehmende wurden für die Forschungsfrage dieser Studie, die Analyse oder Interpretation involviert.

Ergebnisse

Charakteristika der Teilnehmenden

Aus ganz Deutschland wurden 34 Teilnehmende (23 Frauen, 11 Männer) mit einem durchschnittlichen Alter von 56,70 ± 10,80 Jahren (Mittelwert ± Standardabweichung) rekrutiert. Die Perspektive der Patient:innen wurde durch 22 Teilnehmende repräsentiert, die der Gesundheitsexpert:innen durch 12 Teilnehmende. Erstere setzten sich aus 16 Patient:innen und Angehörigen und jeweils 3 Patientenfürsprecher:innen und -vertreter:innen zusammen. Die Gruppe der Gesundheitsexpert:innen bildete sich aus 7 QM-Verantwortlichen aus Krankenhäusern, 3 Ärzt:innen (Fachrichtungen: Notfallmedizin, Anästhesie, Chirurgie und Pädiatrie) und 2 Vertreter:innen von Krankenkassen.

Verständnis von Patientensicherheit

Mittels 3 Hauptkategorien (HK) konnte die Patientenperspektive zur Patientensicherheit in drei unterschiedliche Handlungsbereiche klassifiziert werden: (1) medizinische Aspekte (kodierte Segmente: n = 143; 38,5 %), (2) Patientenorientierung und soziale Interaktion (n = 120; 32,3 %), (3) Versorgungsmanagement und Servicequalität (n = 108; 29,1 %). Die Ergebnisse sind in Tab. 1 mit exemplarischen Zitaten zusammengefasst und detailliert dem Online-Material 2 zu entnehmen.

Medizinische Aspekte

Inhaltliche Schwerpunkte dieser Kategorie waren vornehmlich behandlungsimmanente Probleme des diagnostischen Prozesses, der Dokumentation, der Behandlung und Hygiene sowie Kompetenzen und gesundheitliche Folgen von sicherheitsrelevanten Ereignissen.

Konkret als sicherheitsrelevant beschrieben die Interviewten Verzögerungen, Verwechslungen oder Fehler in der Diagnostik und Dokumentation (wie Arztbriefe) (Patient:innen und Expert:innen). Verzögerungen äußerten sich insbesondere durch eine inadäquate Weiterleitung von Arztbriefen:

„(…) was vielleicht nicht direkt die Patientensicherheit betrifft, aber indirekt definitiv: verzögerte Arztbriefe. Ja, nun zwecks Weiterbehandlung durch den niedergelassenen Kollegen, aber der Arztbrief kommt dann erst sechs Monate später“ [Interview 18].

Diese Verzögerungen waren teilweise darauf zurückzuführen, dass Patient:innen nicht ernst genommen wurden, sich Gesundheitspersonal nicht zuständig fühlte (HK2) oder Termine bei Fachärzt:innen mit Wartezeiten verbunden waren (HK 3). Weiteres umfasste Unter- und Fehlversorgungen im Rahmen der Behandlungen sowie medikamentöse Behandlungen wie Verschreibung falscher Medikamente (P, E), Unverfügbarkeiten oder mangelnde Absprachen (P). Bei Hygiene wurden Aspekte der Desinfektion (P, E) sowie der Isolation infektiöser Patient:innen hervorgehoben (P). Beispielweise äußerte ein:e Gesundheitsexperte/-in:

„(…) die Sauberkeit war nicht in Ordnung, das Klo wurde nicht geputzt, [da] waren noch teilweise Schmutzspuren vom Vorgänger. Da kann man sagen, ist vielleicht Patientensicherheit, weil man nicht weiß, sozusagen Keime, Keimübertragung, Hygiene“ [Interview 16].

Zudem wurden die medizinischen Fähigkeiten und Kompetenzen des Gesundheitspersonals benannt, wie auch, dass Patient:innen selbst informiert und kompetent bei ihrer eigenen Gesundheit sind (P). In Bezug auf medizinisch-technische Aspekte waren Notrufe in Gesundheitseinrichtungen oftmals nicht möglich oder Hilfsmittel defekt (P, E):

„Einmal ist erzählt worden, nach dem Motto ‚Toilettenstuhl, draufgesetzt‘, dann (…) war die Lehne nicht richtig arretiert, dann ist die runtergegangen und die Patientin oder [der] Patient kam zum Sturz“ [Interview 2].

Auswirkungen und Folgen der Versorgung aller identifizierten sicherheitsrelevanten Themen äußerten sich auf physischer und psychischer Ebene (P, E). Als sonstige medizinische Aspekte wurden die Verwechslung von Patient:innen (P, E), Unachtsamkeit von Gesundheitspersonal (E), verlorene Gegenstände sowie das Potenzial der Digitalisierung identifiziert (P).

Patientenorientierung und soziale Interaktion

Der Kern dieser Hauptkategorie umfasste vornehmlich kommunikative Aspekte der patientenorientierten Aufklärung, des Respekts, Empathie sowie des Einbezugs der Patient:innen.

Die Interviewten zählten dazu die Aufklärung von Patient:innen (und ihren Angehörigen) über ihre Erkrankung, den Nutzen und Ablauf von Diagnostik- und Behandlungsschritten, die Dokumentation sowie mögliche Nebenwirkungen in einer für sie verständlichen Sprache (P, E):

„der Mann (…) war nicht in der Lage, mir allgemein verständlich zu erklären, was das überhaupt ist. Und (…) denen fehlte offensichtlich das Vokabular, losgelöst von ihrer tiefsten Kenntnis, dass mir als Laien überhaupt klarzumachen, was (…) ich habe. Das hat über ein Jahr gedauert, bis ich eigentlich mal richtig begriffen habe, was das Wesen meiner Krankheit war“ [Interview 30].

Weiterhin wurden Patientenzentrierung, Einbeziehung von Patient:innen sowie gegenseitige Wertschätzung genannt, wie bspw. die Berücksichtigung von (subjektiven) Symptomen, von selbstdokumentierten Medikationsplänen und eigenen Anliegen bei Diagnostik und Behandlung. So Patient:innen sich als nicht respektiert oder ernst genommen erlebten, dann im Zusammenhang mit einer verzögerten Diagnosestellung oder Behandlung (HK1) (P, E):

„(…), dass manche Pflegekräfte einen nicht so ernst genommen haben (…). Aber man sieht oft noch relativ gesund aus und wenn man da keine Luft bekommt oder so, dass die das eher so ein bisschen als Anstellerei abtun, dass man übertreibt, dass sie das nicht ernst nehmen. Das fand ich auch nicht so gut“ [Interview 34].

Darüber hinaus sollte sich das Personal ausreichend Zeit für Patient:innen nehmen und diese selbst zu Expert:innen ihrer Erkrankungen machen (P). Sonstige Aspekte der sozialen Interaktion beinhalteten u. a. mangelndes Vertrauen durch wechselnde Behandler:innen (P).

Versorgungsmanagement und Servicequalität

Diese Kategorie umfasste vornehmlich prozedurale, sicherheitsrelevante Erfahrungen im Zusammenhang mit der Versorgungskoordination, dem Zugang zur Versorgung, langen Wartezeiten, Personalmangel, systembedingten Faktoren und Serviceaspekte.

Die Interviewten betonten die Koordination der Versorgung bei verschiedenen diagnostischen Verfahren und die Übergänge zwischen verschiedenen Fachärzt:innen. Gleichzeitig waren andere Bereiche (z. B. das Entlassungsmanagement, der Informationsaustausch zwischen Bereichen und Personal, Verantwortlichkeiten des Personals und OP-Pläne) weniger koordiniert und sicherheitskritisch (HK1; P, E). Darüber hinaus war der Zugang zur Versorgung aufgrund fehlender Termine bei Fachärzt:innen eingeschränkt, wie auch Zugang zu gewünschten Leistungen (P):

„Ich bin der Meinung, dass Vorsorge gut ist. Und wenn ich gar keine Termine kriege oder nur sehr verzögert, dann kann es eben u. U. auch bedrohlich werden (…)“ [Interview 22].

Daran anknüpfend stellten lange Wartezeiten ein Problem dar, insbesondere im Rahmen von Terminen, Operationen oder Notfällen (P, E). Weitere Ereignisse der Patientensicherheit wurden mit einem Personalmangel in Verbindung gebracht (P, E). Unter systembedingten Faktoren wurden fehlende Ambulanzzulassungen der Krankenhäuser, unterschiedliche Leistungen der Krankenkassen (P) oder die Grenzverweildauer genannt (P, E). Ein weiteres großes Thema äußerte sich in der Verpflegung und dem sonstigen Service, z. B. bzgl. der Essensversorgung, der Ausstattung von Patientenzimmern (P, E) oder der Parkplatzsituation (E):

„Und da gibt es viele Menschen, um die sich keiner kümmert. Gar keiner. (…) Die kriegen ihren Joghurt dahingestellt und haben dann auch am nächsten Morgen noch keinen Löffel“ [Interview 25].

Sonstige Aspekte zum Versorgungsmanagement mit Relevanz waren Bürokratie, Administration, rechtliche Aspekte oder der Datenschutz (P).

Diskussion

Auf der Grundlage einer qualitativen Untersuchung der Perspektiven von Patient:innen und Gesundheitsexpert:innen aus ganz Deutschland explorierten wir Verständnis und Erfahrungen von Patient:innen zu patientensicherheitsrelevanten Ereignissen. Drei zentrale Handlungsfelder wurden identifiziert: medizinische Aspekte, Patientenorientierung und soziale Interaktion sowie Versorgungsmanagement und Servicequalität. Unsere Ergebnisse können dazu beitragen, die Patientenperspektive bei der effektiven Entwicklung und nachhaltigen Implementierung von Aktivitäten zur Verbesserung der Patientensicherheit besser zu berücksichtigen.

Einzelne Übersichtsarbeiten [10, 16] und Primärstudien [11, 28, 29, 32] außerhalb der EU untersuchten bereits das Verständnis von patientensicherheitsrelevanten Ereignissen aus Patientenperspektive. Für die hiesige Versorgungspraxis beruhten die bisherigen Erkenntnisse auf quantitativen Studien, die hauptsächlich auf der Einordnung durch Gesundheitsexpert:innen basierten [7, 21]. Zudem gab es kaum spezifische Forschung für die stationäre, klinische Versorgung. Im Unterschied zu bisherigen Studien [10, 16, 32] haben wir nicht explizit die Unterschiede zum Verständnis von Patientensicherheit zwischen den Akteur:innen untersucht, sondern im Sinne einer kohärenten Betrachtung auch die Expert:innen zur ihrer Wahrnehmung der Patientenperspektive oder ihnen bekannten Rückmeldungen von Patient:innen befragt.

Dabei zeigten sich zahlreiche Überschneidungen der beiden Perspektiven. Insgesamt führten die Patient:innen selbst aber ein deutlich breiteres Spektrum an sicherheitsrelevanten Ereignissen auf. So äußerten sich die Gesundheitsexpert:innen beispielweise nicht darüber, dass oder ob Patient:innen Fähigkeiten und Kompetenzen aller Beteiligten oder die Digitalisierung als sicherheitskritisch sehen. Auch wurde von Patient:innen selbst ein breiteres Spektrum an Aspekten der sozialen Interaktion sowie systembedingten Faktoren und dem Zugang zur Versorgung genannt. Die Expert:innen schätzten beispielsweise Unachtsamkeiten von Gesundheitspersonal als patientensicherheitsrelevant aus der Patientenperspektive ein, welches die Patient:innen selbst nicht äußerten. Diese teilweise unterschiedlichen Auffassungen sollten allerdings vorsichtig interpretiert werden, da die Gruppe der Gesundheitsexpert:innen zahlenmäßig kleiner war.

Unsere Ergebnisse weisen auf ein breites Spektrum maßgeblicher, auslösender Ereignisse und Kontextfaktoren zum Verständnis von Patientensicherheit hin. Dies fügt sich in die internationale Studienlage ein [7, 10, 11, 16, 21, 28, 29]. Gleichwohl weisen die identifizierten Hauptkategorien auf, was aus Perspektive der Patient:innen zentrale Handlungsfelder der Patientensicherheit sind: medizinische Aspekte [7, 21] als auch operative Herausforderungen in der Versorgung [21]. Allerdings stellen unsere Ergebnisse auch die zentrale Rolle sozialer Interaktion und Kommunikation in der Patientensicherheit heraus. Damit unterstreichen unsere explorativen Befunde, dass Ereignisse, die mit kommunikativen Herausforderungen, psychologischer und emotionaler Sicherheit assoziiert sind, unverändert eine zentrale Komponente im Erleben der Patient:innen sind [17, 20].

Stärken und Limitationen

Unsere qualitative Studie erlaubt erstmals für Deutschland einen vertieften Einblick in das Verständnis von Patientensicherheit aus Patientenperspektive – auf Basis der Aussagen verschiedenster Akteure der Gesundheitsversorgung. Allerdings bestehen mögliche Limitationen in der Zusammensetzung und Rekrutierung unserer (Gelegenheits‑)Stichprobe, als auch Repräsentativität sowie externen Validität unserer Ergebnisse. Wir haben nicht alle möglichen Akteure und Interessengruppen der Gesundheitsversorgung befragt. Die Rollen der Interviewten konnten sich überschneiden. Es handelt sich um eine Reanalyse von Aussagen im Rahmen einer umfassenderen Studie mit einem inhaltlich leicht anders gelagerten Studienziel. Die geäußerten Erfahrungen unterliegen möglichen Erinnerungseffekten.

Obwohl eine quantitative Reliabilitätsüberprüfung aufgrund der Kodierung von Sinneinheiten ohne definierte Segmentgröße und des induktiven Vorgehens nicht notwendig war [15, 27], diente diese der Entwicklung eines distinkten und reliablen Kategoriensystems. Die Berücksichtigung der Gütekriterien stärkte die interne Validität unserer Ergebnisse [19].

Implikationen

Unsere Studie bietet insbesondere in drei Aspekten einen relevanten Erkenntnisgewinn: Erstens konnten internationale Erkenntnisse zum Verständnis von Patientensicherheit aus der Patientenperspektive bestätigt und in einigen Aspekten beispielhaft vertieft werden. Zweitens wurden erstmals explorative, qualitative Erkenntnisse für den deutschsprachigen Kontext gewonnen, die bisherige Befunde insbesondere um Aspekte der sozialen Interaktion und Patientenorientierung erweitern. Drittens erlauben die Stakeholder-übergreifenden und komplementären Ergebnisse einen kohärenteren Einblick in zukünftige Konzeptualisierungen von Patientenperspektiven und -erlebnissen zur Patientensicherheit.

Vorherige Studien zeigten, dass ein unterschiedliches Verständnis von Patientensicherheit zwischen Patient:innen und Gesundheitsexpert:innen eine entscheidende Barriere bei der Implementierung von Aktivitäten zur Patienteneinbeziehung und -sicherheit ist [4, 25]. Folgen können demnach eine ineffektive Übermittlung von Informationen, ein mangelndes Vertrauensverhältnis oder eine insuffiziente Gesundheitsförderung und Versorgung sein. Deshalb brauchen und wünschen Patient:innen Wissen und Kompetenzen im Handlungsfeld Patientensicherheit, um sich erfolgreich zu beteiligen [4, 9, 12]. Differenzen im Verständnis von Patientensicherheit könnten Schulungsbedarf aufzeigen, z. B. bezüglich der patientenorientierten Kommunikation. Unsere und weitere Studien zeigen, dass Patient:innen nicht nur rein medizinische Aspekte sondern u. a. auch kommunikative Faktoren und gegenseitigen Respekt als patientensicherheitsrelevant erachten [11, 16]. Eine patientenorientierte Vorgehensweise, d. h. die Berücksichtigung der Patientenperspektive, scheint deshalb durchweg relevant, wenn die Versorgung aus der Perspektive Aller sicher gestaltet werden soll. Die Implementierung der Einbeziehung der Patienten in Fragen der Patientensicherheit bietet somit die Chance, entsprechende Maßnahmen effektiv umzusetzen.

So wertvoll die Patientenperspektive ist, müssen wir auch ihre möglichen Grenzen berücksichtigen. Unsere Studie weist darauf hin, dass auch Verpflegung, Komfort und Service für Patient:innen sicherheitsrelevant sein können. Allenfalls sollten wir zwischen obligatorischen und optionalen sicherheitsrelevanten Aspekten unterscheiden sowie die Möglichkeit einer unterschiedlichen Auffassung des Themas bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigen. Denn es ist zu bedenken, dass die Teilnehmenden diese Themen aufgrund der allgemeinen Patientenversorgung im Krankenhaus angesprochen haben könnten. Dennoch wurde das Themenfeld Patientensicherheit als Fokus der Interviews durch eine vorangestellte Klärung mit Beispielen zur Patientensicherheit und ggf. wiederholtes explizites Nachfragen nach patientensicherheitsrelevanten Ereignissen eingegrenzt.

Unsere explorative Untersuchung bietet eine geeignete Grundlage für weitere Untersuchungen und quantitativ ausgerichtete Evaluationsmethoden. Repräsentativere Studien sollten untersuchen, inwiefern die identifizierten Handlungsbereiche konsistent sind, wie diese zu priorisieren und wo möglicherweise Differenzierungen nötig sind. Weiterhin ist es auch für den deutschsprachigen Versorgungskontext interessant, wie einheitlich das Verständnis von Expert:innen und Patient:innen zur Patientensicherheit und zu patientensicherheitsrelevanten Ereignissen ist [10, 16, 32].

Schlussfolgerungen

Aus anderen wissenschaftlichen Arbeiten ist bekannt, dass kollaborative Projekte zur Verbesserung der Patientensicherheit und -einbeziehung nur erfolgreich implementiert werden können, wenn ein gemeinsames Verständnis von Patientensicherheit besteht. Unsere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass Patient:innen vorwiegend medizinische Aspekte, die Patientenorientierung und soziale Interaktion sowie das Versorgungsmanagement und die Servicequalität als patientensicherheitsrelevant betrachten. Diese Ergebnisse zur Patientenperspektive auf Patientensicherheit können bei der Optimierung der Gesundheitsversorgung herangezogen werden. Kommende Arbeiten sollten insbesondere die Chancen und Grenzen der Berücksichtigung der Patientenperspektive und einhergehende Herausforderungen in der Implementierung der Patienteneinbeziehung verstärkt in den Fokus nehmen.

Fazit für die Praxis

  • Ein gemeinsames Verständnis zur Patientensicherheit hilft allen Akteuren bei der Planung und effektiven Implementation von Maßnahmen zur Patienteneinbeziehung und -sicherheit. Es sollte vorab ein gemeinsames, handlungsorientiertes Verständnis formuliert werden.

  • Patient:innen berichten eine Reihe medizinischer Aspekte als relevant für die Patientensicherheit: insbesondere Diagnostik, Arztbriefe, (medikamentöse) Behandlung, Hygiene und gesundheitliche Folgen sicherheitsrelevanter Ereignisse.

  • Patient:innen erachten allerdings auch die soziale Interaktion mit dem Gesundheitspersonal, einschließlich gegenseitigen Respekts, der Einbeziehung von Patient:innen sowie der patientenorientierten Aufklärung als patientensicherheitsrelevant.

  • Die Koordination der Versorgung, der Zugang zur Versorgung, Wartezeiten, systembedingte Faktoren sowie der Patientenservice werden zudem aus Patientenperspektive als zentrale Aspekte der Patientensicherheit genannt.