Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet Arbeitgeber dafür Sorge zu tragen, dass Gefährdungen durch die psychische Belastung der Arbeit erkannt und zielgerichtete Anstrengungen zu ihrer Reduzierung unternommen werden. Mit dem Ziel, das Wissen über diesbezügliche Möglichkeiten und Grenzen betrieblichen Handelns auszubauen, wurden in einem Feldforschungsprojekt Vorgehensweisen und Erfahrungen betrieblicher Akteure exploriert.

Hintergrund und Fragestellungen

Die psychische Belastung der Arbeit – verstanden als die Gesamtheit der kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Arbeitsanforderungen [6] – ergibt sich aus der Gestaltung der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsorganisation, der sozialen Beziehungen bei der Arbeit sowie den Arbeitsumgebungsbedingungen. Ebenso wie bestimmte Arten und Ausprägungen körperlicher Belastung gesundheitsgefährdend sein können, kann auch die psychische Belastung der Arbeit gesundheitsbeeinträchtigende Wirkungen haben [5, 19], z. B. bei Missverhältnissen von Arbeitsmenge und -zeit [21] oder bei unzureichenden Möglichkeiten zur Erholung, etwa im Falle überlanger Arbeitszeiten [2] oder inadäquater Pausengestaltung [22].

Das ArbSchG verpflichtet Arbeitgeber, die Arbeit „so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird“ (§ 4 ArbSchG). Die Unternehmensleitung muss dem ArbSchG zufolge dafür Sorge tragen, dass die für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundene Gefährdung ermittelt, beurteilt und soweit als möglich reduziert wird. Durch eine im Herbst 2013 vorgenommene Änderung des ArbSchG wurde klargestellt, dass dabei auch Gefährdungen durch die psychische Belastung der Arbeit zu berücksichtigen sind [3, 4]. Im Kern wird damit die Erwartung formuliert, in den Betrieben eine „aktive Gefährdungsvermeidung“ zu betreiben. Darunter verstehen wir Aktivitäten zum Erkennen und Vermeiden von Gefährdungen (durch psychische Belastung), die im Betrieb (1) organisiert, also bewusst herbeigeführt und (2) zielgerichtet zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten unternommen werden.

Um betriebliche Akteure dabei mit Informationen, Handlungshilfen und Beratung wirksam unterstützen zu können, bedarf es profunder empirischer Erkenntnisse über ihre praktischen Möglichkeiten und Grenzen des Handelns in diesem Themenfeld. Zu konkreten Vorgehensweisen, Erfolgsfaktoren und Schwierigkeiten im Umgang mit psychischer Belastung liegen bislang allerdings nur wenige empirische Untersuchungen vor:

  • Vorliegende Surveystudien informieren zwar darüber, wie häufig Aspekte psychischer Belastung in betrieblichen Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigt werden und unter welchen betrieblichen Rahmenbedingungen dies geschieht [1, 7, 17]. Informationen darüber, wie dazu in Betrieben konkret vorgegangen wird, bieten sie allerdings nicht.

  • Einblicke in die Art und Weise des betrieblichen Umgangs mit psychischer Belastung bieten etwa die von Lenhardt [15] aufbereiteten Erfahrungen und Einschätzungen präventionsfachlicher Berater. Vorgehensweisen und Erfolgsfaktoren der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung sind zudem im Rahmen von Modellforschungsprojekten untersucht worden (z. B. [14]). Schließlich liegen eine Reihe von Fallstudien vor, die mit dem Ziel durchgeführt wurden, Empfehlungen für eine fachlich angemessene und praktikable Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu entwickeln [4] oder spezifische Verfahrensweisen anschaulich zu machen (z. B. [23]).

Diese Untersuchungen zeigen, wie und unter welchen Voraussetzungen in ausgewählten, mehrheitlich großen Betrieben die Gefährdungsvermeidung als Aufgabe und Bestandteil betrieblichen Arbeitsschutzes organisiert und umgesetzt werden kann. Weitgehend unbekannt sind allerdings Vorgehensweisen in kleinen Betrieben, in denen Strukturen und Prozesse des betrieblichen Arbeitsschutzes häufig nicht oder nur rudimentär ausgebildet sind [20]. Sofern dort dennoch Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung bei psychischer Belastung organisiert und umgesetzt werden, müsste dies dort daher in anderen Strukturen und Prozessen geschehen.

Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen betrieblichen Handelns sind damit nur unzureichend untersucht. Das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im März 2015 gestartete Feldforschungsprojekt „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis“ (F2358) verfolgte daher das Ziel, die Vorgehensweisen breiter zu explorieren und dabei auch die Herangehensweisen in kleinen Betrieben mit in den Blick zu nehmen.

Studiendesign und Methoden

Datengrundlage und Methoden der Datenerhebung

Empirische Grundlage der Studie sind leitfadenstrukturierte Interviews mit Akteuren aus insgesamt 41 Betrieben, die in ihrem Betrieb federführend Aktivitäten zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung organisieren. Die diesbezüglichen Aktivitäten des federführenden Akteurs repräsentieren in dieser Studie einen „Fall“ im Sinne der Fallstudienforschung [24].

Einen Überblick über die Datengrundlage gibt Tab. 1, die u. a. zeigt, dass die federführenden Akteure keineswegs immer Arbeitsschutzexperten waren. Insbesondere in den kleinen Betrieben waren zumeist die Betriebsinhaber federführend, in größeren Betrieben auch Fachleute aus den Bereichen Personal‑, Qualitäts- oder Gesundheitsmanagement sowie Betriebsräte. In 18 der 41 Fälle waren bei den Interviews neben dem federführenden Akteur weitere Beteiligte zugegen, z. B. Führungskräfte, die mit der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung betraut waren oder Vertreter des Betriebsrates, die bei der Organisation mitwirkten. Die Interviews wurden zwischen Juni 2015 und August 2016 geführt.

Tab. 1 Überblick über das Fallstudiensample

Gegenstand der Interviews waren jeweils (1) die Arbeitstätigkeiten/-bedingungen im Betrieb und die damit verbundenen Gefährdungen, (2) die Art und Weise, wie Gefährdungen ermittelt und beurteilt werden, (3) Maßnahmen zur Vermeidung von Gefährdungen sowie (4) Bewertungen von Sinn/Nutzen und Praktikabilität der geschilderten Aktivitäten. Die Interviews erfolgten mit schriftlicher Einwilligung der Gesprächspartner und wurden für die Zwecke der Studie aufgezeichnet und vollständig transkribiert.

Sampling

Zentrales Einschlusskriterium für die Fallauswahl war, dass die betrieblichen Akteure organisierte und zielgerichtete Aktivitäten unternehmen, um Gefährdungen der Gesundheit der Beschäftigten durch psychische Belastung der Arbeit zu erkennen und zu vermeiden. In 4 der 41 Fälle wurde (erst) im Laufe der Interviewauswertung erkannt, dass die Aktivitäten entweder nicht organisiert waren oder nicht originär auf den Schutz der Gesundheit der Beschäftigten zielten (sondern z. B. auf die Gewährleistung effizienter Betriebsabläufe). Diese Fälle wurden bei den Auswertungen für die vorliegende Publikation nicht berücksichtigt.

Die Fallauswahl und -auswertung erfolgte mit dem Ziel, über Vergleiche und Kontraste von Fällen das Spektrum der Möglichkeiten, Gefährdungsvermeidung im Betrieb zu organisieren, soweit als möglich zu explorieren („multiple case study design“ [24]). Dazu wurde der Feldzugang über zwei Wege organisiert: (1) Über einen Aufruf zur Beteiligung, der auf Fachtagungen sowie in einschlägigen Medien der Arbeitsschutzcommunity veröffentlicht wurde; (2) über Vermittlung von Aufsichtspersonen der Unfallversicherungsträger und Arbeitsschutzbehörden, die die Betriebe bzw. die dortige Gefährdungsvermeidungspraxis aus eigener Beratungs- und Überwachungstätigkeit kennen. Dafür wurde im Forschungsprojekt mit Aufsichtspersonen kooperiert, die Betriebe gezielt zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung kontrollieren und beraten. Über den Aufruf zur Beteiligung, der in Form und Sprache v. a. Arbeitsschutzfachleute adressierte, konnten vornehmlich Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte und sonstige Arbeitsschutzakteure aus größeren Betrieben für ein Interview gewonnen werden. Über die Vermittlung durch Aufsichtspersonen gelang aber auch die Kontaktierung von Akteuren aus kleinen Betrieben, die zwar keine Gefährdungsbeurteilung im Sinne der gegenwärtig konsentierten Standards [9] umgesetzt haben, aber aus Sicht der vermittelnden Aufsichtsperson dennoch zielgerichtete Aktivitäten unternahmen, um Gefährdungen durch psychische Belastung zu vermeiden.

Methoden der Datenauswertung

Die einzelnen Fälle wurden für den vorliegenden Beitrag mit dem Ziel analysiert, die dem Handeln der Akteure zugrunde liegenden Strukturen zu rekonstruieren und anhand dessen die Möglichkeiten, aber auch die durch diese Strukturen gesetzten Grenzen aktiver Gefährdungsvermeidung zu beschreiben.

Anthony Giddens, der Urheber der „Theorie der Strukturierung“ [10], unterscheidet zur Charakterisierung von sozialen Strukturen analytisch die Aspekte (1) Regeln und (2) Ressourcen. Strukturen schränken in der Form von Regeln und Ressourcen das Handeln der Akteure ein und ermöglichen ihr Handeln gleichsam, weil Akteure sich in ihren bewusst vollzogenen Handlungen auf Regeln und Ressourcen beziehen bzw. diese zu „Modalitäten“ [10, S. 81] ihres Handelns machen müssen. „Regeln“ [10, S. 67 ff.] sind verallgemeinerbare Verfahren der Praxis, die im „praktischen Bewusstsein“ [10, S. 57 f.] der handelnden Akteure präsent sind und von ihnen bei ihrer Handlung situationsspezifisch angewendet werden. Analytisch unterscheidbar ist ein sinnkonstituierender Aspekt von Regeln (Sinnbezug, der eine verallgemeinerte Praxis erklärt) sowie ein regulativer bzw. sanktionierender Aspekt von Regeln (Normbezug, der eine verallgemeinerte Praxis rechtfertigt). Geregelt ist z. B., wie etwas bezeichnet oder definiert wird (bspw. „Gesundheit“), wer für was verantwortlich ist (bspw. „Arbeitgeber“), aber auch, wie und warum etwas getan werden muss (bspw. definierten „methodischen Standards“ oder „gesetzlichen Regelungen“ folgend). Im Handeln beziehen sich Handelnde einerseits immer auf Regeln, andererseits aber auch immer auf „Ressourcen“ [10, S. 65 ff.], die ihnen Macht zum Handeln geben. Ressourcen sind z. B. Geld, Sachmittel und Wissen (allokative Ressourcen), aber auch formale Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen sowie persönliche Autorität (autoritative Ressourcen), die es Akteuren ermöglichen, ggf. auch gegen den Willen anderer zu handeln.

Die transkribierten Interviews wurden mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse [16] mit dem Ziel analysiert, die jeweiligen Regeln und Ressourcen zu rekonstruieren, mit denen die Akteure die geschilderten Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung organsiert und umgesetzt haben. Dazu wurden (1) systematisch Deutungsmuster, (Fach‑)Sprache, Interpretationsschemata und/oder Begriffs- und Situationsdefinitionen analysiert, mit denen die Akteure ihre Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung beschreiben und deren Sinn erklären. So wurden z. B. die Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung in einem Teil der hier analysierten Fälle mit Fachbegriffen wie „Gefährdungsbeurteilung“ und „Grenzwerte“ oder unter Verweis auf Definitionen von Fachbegriffen (z. B. „psychische Belastung gemäß DIN 10075-1“) beschrieben, die als Hinweis darauf gewertet wurden, dass Gefährdungsvermeidung in diesen Fällen in den Strukturen des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes organisiert und umgesetzt wird. Hinweise auf Strukturen geben (2) Verweise auf Normen, Standards und Wertvorstellungen, mit denen die Akteure ihr Handeln rechtfertigen. In der vorliegenden Analyse wurden etwa Verweise auf das „Arbeitsschutzgesetz“ und „Unfallverhütungsvorschriften“ bzw. allgemein auf die gesetzliche Pflicht zur Gewährleistung von „Arbeitssicherheit“ und „Gesundheitsschutz“ als weitere Indikatoren dafür gewertet, dass Gefährdungsvermeidung in Strukturen des betrieblichen Arbeitsschutzes organisiert und umgesetzt wird. Hinweise auf die zugrundeliegenden Strukturen geben schließlich (3) auch die autoritativen und allokativen Ressourcen, die im Bemühen um Gefährdungsvermeidung in Anschlag gebracht oder vermisst wurden. Wenn Akteure etwa auf ihre Zuständigkeiten und Kompetenzen als „Fachkraft für Arbeitssicherheit“ abhoben, Beratung und Unterstützung durch die zuständige „Berufsgenossenschaft“ in Anspruch nahmen oder auf Handlungshilfen der „Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie“ zurückgriffen, dann waren dies für uns weitere Hinweise darauf, dass Gefährdungsvermeidung in diesen Fällen in Strukturen des betrieblichen Arbeitsschutzes organisiert und umgesetzt wird.

Nicht in allen der 37 Fälle wurde Gefährdungsvermeidung als Aufgabe und Bestandteil des Arbeitsschutzes organisiert. Insbesondere Akteure aus kleinen Betrieben bezogen sich in ihrem Bemühen um Gefährdungsvermeidung z. T. auf gänzlich andere Regeln und Ressourcen. Im Sample war also ein Spektrum an „Strukturtypen“ repräsentiert, das mittels Fallvergleich und -kontrastierung differenziert wurde. Dazu wurden Einzelfälle zu einer Gruppe zusammengefasst, wenn Akteure auf ähnliche Regeln und Ressourcen Bezug nahmen (interne Homogenität auf Ebene des Typus) und Gruppen von Fällen differenziert, zwischen denen sich die zugrunde liegenden Regeln und Ressourcen unterscheiden (externe Heterogenität auf der Ebene der Typologie; [12]). Dies erfolgte schrittweise: Zunächst wurden Regeln und Ressourcen aktiver Gefährdungsvermeidung wie oben beschrieben für einen ersten Einzelfall rekonstruiert. Im zweiten Schritt wurde die Analyse auf weitere Fälle ausgeweitet, die auf ähnliche Regeln und Ressourcen rekurrierten. In der Zusammenschau dieser Fälle wurde ein „Strukturtyp“ gebildet; es wurden also die Regeln und Ressourcen bestimmt, die für die Organisation und Umsetzung von Gefährdungsvermeidung in diesen Fällen „typisch“ sind. Aus der verbleibenden Teilmenge der 37 Fälle, die nicht diesem ersten Strukturtyp zuordenbar waren, wurden auf gleiche Weise weitere Strukturtypen gebildet, bis alle 37 Fälle mindestens einem Strukturtyp zugeordnet werden konnten.

Maßnahmen zur Qualitätssicherung

Die Gültigkeit und Genauigkeit der Untersuchungsergebnisse bemisst sich an dem Ausmaß, in dem es gelingt, falsche oder verzerrte Darstellungen des tatsächlichen Geschehens (a) bei der Erhebung und/oder (b) bei der Analyse und Zusammenfassung der erhobenen Daten zu vermeiden. Um das Risiko falscher oder verzerrter Darstellungen durch unsere Interviewpartner zu reduzieren, wurden diese zunächst schriftlich und mündlich ausführlich über Projektziele und Verwertungszusammenhänge sowie über die Aufgaben der BAuA aufgeklärt. Insbesondere ging es hier darum, deutlich zu machen, dass die BAuA keine Überwachungsbehörde ist, dass das Gespräch entsprechend nicht zum Zweck der Bewertung der betrieblichen Praxis geführt wird und dass alle Gesprächsinhalte vertraulich bleiben bzw. so aufbereitet werden, dass Rückschlüsse auf Personen und Betriebe nicht möglich sind. Als Beitrag zur Aufklärung, aber auch zur gewissenhaften Vorbereitung des Gesprächs, haben alle Gesprächspartner den Interviewleitfaden mehrere Tage zuvor zugesendet bekommen. In Vorabtelefonaten wurden Themen und Form des Interviews miteinander besprochen, insbesondere mit Blick darauf, welche Personen bei dem Gespräch zugegen sein und/oder welche Dokumente bereitgehalten werden sollten, um die betriebliche Praxis der Gefährdungsvermeidung in der gewünschten Genauigkeit darstellen zu können. Im Interview selbst wurden die Gesprächspartner konsequent angehalten, „Tatsachenbehauptungen“ durch Schilderungen konkreter Abläufe, Situationen und Maßnahmen (bspw. konkret eingesetzte Instrumente, konkret umgesetzte Maßnahmen etc.) zu untermauern sowie durch entsprechende Dokumente (bspw. Betriebsvereinbarungen, Fragebögen, Ergebnisberichte) zu belegen. Insgesamt 18 Interviews wurden zudem als Gruppeninterviews mit mehreren beteiligten Akteuren geführt, was unserer Ansicht nach das Risiko einseitig verzerrter Darstellungen des Geschehens ebenfalls zu reduzieren half. Die auf Basis von Feldnotizen, Gesprächsprotokollen und/oder Transkripten von uns angefertigten Fallberichte wurden den Gesprächspartnern mit der Bitte um Prüfung zugesendet, so dass unsererseits falsch Verstandenes oder Wiedergegebenes rechtzeitig erkannt und korrigiert werden konnte. Bei der Datenauswertung, die den Regeln qualitativer Inhaltsanalyse folgte, wurden die in den Memos, Dokumenten und Interviews vermittelten Darstellungen des Geschehens von uns auf Konsistenz geprüft. Die an diesem Datenmaterial vorgenommene Bestimmung der zugrunde liegenden Regeln und Ressourcen sowie deren Typisierung wurde nicht durch einen Forscher allein vorgenommen, sondern von allen im Projekt mitwirkenden Forschern kritisch daraufhin geprüft, beurteilt und diskutiert, ob sie in dem Datenmaterial hinreichend und nachvollziehbar begründet sind, oder ob das Datenmaterial auch andere Zuordnungen und Interpretationen zulässt.

Ergebnisse

Aktive Gefährdungsvermeidung wird in den hier untersuchten Fällen in verschiedenen Strukturen organisiert und umgesetzt. Insgesamt wurden fünf Strukturtypen differenziert:

  1. 1.

    Gefährdungsvermeidung wurde in den untersuchten Fällen zum einen als Aufgabe und Bestandteil professionellen betrieblichen Arbeitsschutzes beschrieben. Federführend waren dabei überwiegend Arbeitsschutzfachleute, in einzelnen Fällen aber auch Betriebsräte, Qualitätsmanager oder Fachleute aus dem Personalmanagement. Gemeinsam ist diesen Fällen, dass Normen und Standards des Arbeitsschutzes der Bezugspunkt des Handelns waren. Gefährdungsvermeidung wurde hier als Prozess der „Gefährdungsbeurteilung“ organisiert, wie es in einschlägigen Ratgebern und Fachbüchern empfohlen wird (explizit Bezug genommen wurde bspw. auf die Empfehlungen der Träger der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie). Die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung beschrieben die Akteure als einen formal geregelten Prozess. Demnach nehmen typischerweise Fachleute mit professionellen Methoden der Gefährdungsermittlung eine systematische Beurteilung der Arbeitsbedingungen vor, ermitteln Gestaltungsbedarfe im Sinne des Arbeitsschutzes und melden diese der Unternehmensleitung bzw. den für die Arbeitsgestaltung zuständigen Akteuren zurück. Die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen beschrieben die Akteure in diesen Fällen als eine Aufgabe, die ihre Kompetenzen und Zuständigkeiten mitunter übersteigt: „Aber am Ende können wir nur Leute zusammenbringen, wir können nur informieren und sagen, da muss was passieren. (…) Aber wenn am Schluss die Entscheidung nicht ist, es zu tun, dann sind wir wirklich viel zu klein. Und es wäre auch eine völlige Rollenverdrehung, wenn wir jetzt versuchen würden, gravierende Struktur- und Schnittstellenprobleme zwischen dem Bereich [A] und [B] zu klären. Also das ist einfach nicht machbar. (…) Sondern das können wir nur thematisieren.“ (Leiter Arbeits- und Gesundheitsschutz eines Großbetriebs).

  2. 2.

    In anderen Fällen wurde Gefährdungsvermeidung als Aufgabe und Bestandteil fürsorglicher Mitarbeiterführung beschrieben. Federführende Akteure waren in diesen Fällen Inhaber oder Führungskräfte, die ihre Aktivitäten nicht mit arbeitsschutzgesetzlichen Pflichten begründeten, sondern mit ihrer Fürsorgeverantwortung für den Schutz der Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Bezugspunkt ihres Handelns waren ihre persönlichen Erfahrungen und Werthaltungen in Bezug auf Gefährdungen durch psychische Belastung der Arbeit. Gefährdungsvermeidung beschrieben sie als einen Prozess der kontinuierlichen Anpassung von Arbeitsanforderungen und -bedingungen an die Bedürfnisse und Bewältigungsmöglichkeiten ihrer Beschäftigten – und damit als einen originären Bestandteil der Gestaltung und Organisation der Arbeit ihrer Beschäftigten. Beispielhaft ist hier etwa der Fall einer Führungskraft, die sich zielgerichtet um die Belastungsbalance der Arbeit eines jungen Projektleiters bemühte: „Also weil das ein junger Kollege ist, der in einem größeren Projekt jetzt in die Projektleitung kam und dem die Erfahrung auch fehlte. (…) Er hatte aber in mehreren Gesprächen vorher schon gesagt, er würde einfach gern mal mehr alleine laufen und auch andere Projekte bearbeiten. Da haben wir gesagt: ‚Da geben wir dir jetzt mal so ein Projekt‘, aber als er dann anfing zu sagen: ‚Also das ist mir jetzt, ich weiß das nicht, und mir ist das zu viel‘, hat er auch gleich Unterstützung bekommen.“ Charakteristisch für die Umsetzung von Gefährdungsvermeidung ist in diesen Fällen (1) eine ausgeprägte Sensibilität der Führungskraft für die Bewältigungsmöglichkeiten und Bedürfnisse ihrer Beschäftigten, (2) eine direkte und zielgerichtete Kommunikation der Führungskraft mit den (einzelnen) Beschäftigten über Gefährdungen sowie (3) eine unmittelbare, situations- und problembezogene Umgestaltung von Arbeit zur Gefährdungsminimierung.

  3. 3.

    In einer weiteren Gruppe von Fällen wurde Gefährdungsvermeidung als Aufgabe und Bestandteil professioneller Berufsausübung beschrieben. Anders als bei den oben beschriebenen Typen sind es hier nicht Arbeitsschutzexperten oder Führungskräfte, die Gefährdungsvermeidung organisieren und umsetzen, sondern die Beschäftigten selbst. Bezugspunkt ihres Handelns sind hierbei zum einen Standards fachkundiger Berufsausübung, zum anderen aber auch die im Laufe ihres Berufslebens erworbenen Erfahrungen mit psychischer Arbeitsbelastung. Betriebe unterstützen in den hier betrachteten Fällen zielgerichtet die Kompetenzentwicklung der Beschäftigten, etwa durch regelmäßige Erfahrungsaustausche, Trainings und Maßnahmen beruflicher Weiterbildung. Unbenommen davon bleibt aber: Gefährdungsvermeidung ist als Bestandteil fachkundiger Berufsausübung die Aufgabe des Beschäftigten. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist ein Fall aus dem Bereich Gesundheits- und Sozialdienste, in dem ein leitender Therapeut sagt: „Wie weit lasse ich Dinge, die nicht so schön sind, an mich ran? Das ist ein Ausdruck von Professionalität, ne? (…) Also ich muss mich auf jemanden einlassen mit auch all dem Leid, was da im Hintergrund auch da ist. Aber die Frage ist auch da, wie sehr gehe ich da in die Tiefe? Und da muss es eine ganz individuelle Grenze geben. Die ist ja unterschiedlich. Die ist individuell. (…) Das muss man lernen. Das habe ich vor vielen Jahren gelernt. Um sozusagen meine eigene Grenze zu erkennen. Aber das betrifft natürlich alle Kollegen.“

  4. 4.

    Ein weiterer Typ von Fällen beschreibt aktive Gefährdungsvermeidung als Aufgabe und Bestandteil kollektiver Fürsorge. Gefährdungsvermeidung ist hier weder eine Aufgabe von Fachleuten noch allein in der Verantwortung von Führungskräften oder Beschäftigten. Vielmehr wird die Sorge um Gefährdungsvermeidung als Verantwortung des Teams begriffen, wie bspw. im Fall eines inhabergeführten Kleinstbetriebs: „Und jeder weiß natürlich – und unser Geselle auch, der ist jetzt über 20 Jahre bei uns – dass, wenn der eine es nicht schafft, die anderen es versuchen mit aufzufangen, ne? Also jeder fühlt sich für den anderen mit verantwortlich. Und ich denke, das ist natürlich auch wichtig.“ Bezugspunkt des Handelns sind in diesen Fällen nicht fachliche Standards, sondern kollektive Werthaltungen und Techniken der Gefährdungsvermeidung, die in langjährigen Erfahrungen gemeinsamen Arbeitens gewachsen und in der Erfahrung des „aufeinander-angewiesen-seins“ normativ verankert sind. Charakteristisch ist für diese Fälle, dass sowohl Beurteilungen von Gefährdungen der Arbeit als auch Entscheidungen über Maßnahmen zur Gefährdungsvermeidung gemeinsam im Team vorgenommen werden. In einem konkreten Fall setzten sich z. B. der Inhaber und die Beschäftigten eines Kleinstbetriebs regelmäßig am Ende einer Arbeitswoche zusammen, um ihre Arbeitserfahrungen gemeinsam zu reflektieren und dabei u. a. auch zu bewerten, ob etwas bzw. was verändert werden muss, um Gefährdungen für ihre Gesundheit zu vermeiden. Dabei ist z. B. entschieden worden, einen bestimmten Kunden in Zukunft nicht mehr zu bedienen, weil dort keine hinreichenden Bedingungen für ein sicheres Arbeiten gegeben waren. Gemeinsam war diesen Fällen, dass die Inhaber bzw. Führungskräfte durch ihre Mitarbeit im operativen Geschäft die Belastungserfahrungen der Beschäftigten teilten und bei Entscheidungen zur Gefährdungsvermeidung nicht hierarchisch, sondern als Teammitglied „auf Augenhöhe“ agierten.

  5. 5.

    Schließlich wurde im Ergebnis des Fallvergleichs eine letzte Gruppe von Fällen unterschieden, in denen Gefährdungsvermeidung als Aufgabe und Bestandteil betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) beschrieben wurde. Federführende Akteure waren in diesen Fällen mehrheitlich Stabsstellen zur Koordination des BGM, in einem Fall war es der Leiter des Personalmanagements. Im Fallvergleich auffällig war hier zunächst die Sprache, die sich durch viele Anglizismen auszeichnete und insgesamt durch das Bemühen, positive Bilder zur produzieren. Typisch sind bspw. die Darstellungen des Leiters BGM eines großen Unternehmens: „Also wir haben sehr lange von der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen gesprochen. Dann haben wir gesagt, uh das hört sich schon böse an. Gefährdung, Psyche, Belastung, da sind schon drei böse Wörter drin. Waren dann ganz dankbar, dass wir den ‚Healthy Work Check‘ [Name vom Verf. geändert] eingekauft haben und haben gesagt, wir verkaufen das auch unter dem Namen.“ Dass dies nicht allein sprachliche Kosmetik ist, sondern im Kontrast zum Arbeitsschutz auch eine andere Semantik von „Gefährdungsvermeidung“ beinhaltet, machen bspw. die Ausführungen der BGM-Projektmanagerin eines anderen Unternehmens deutlich: „Wir sind so vom Ambiente sehr agil, sehr fit, sportlich begeistert, positiv. Das ist so die Kultur hier, was ich sehr schätze. Aber was uns noch fehlt, ist eine Integration von psychischen Themen. (…) Und daher möchten wir eigentlich die psychische Gefährdungsbeurteilung eigentlich auch nutzen, um das Thema hier nochmal, ja, einzuführen fast, würde ich sagen. Also wir werden im Herbst auch einen Gesundheitstag haben, der steht unter dem Motto ‚psychische Gesundheit‘, (…) einfach um nochmal zu zeigen: Hier haben wir auch Hilfsangebote. Es gibt hier Stressseminare“. Charakteristisch für diese Fälle ist, dass Gefährdungsvermeidung in den „corporate values“ bzw. der Unternehmenskultur normativ verankert und mit dem Nutzenargument legitimiert wird, dass Investitionen in die Gesundheit der Beschäftigten den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens sichern. Charakteristisch ist zudem, dass dabei weniger auf die Vermeidung kritischer Arbeitsbelastung abgezielt wird, sondern vielmehr auf die Entwicklung der Fähigkeit der Beschäftigten, einer hohen Arbeitsbelastung gerecht zu werden.

Einige Fälle machten anschaulich, dass Beiträge zur Gefährdungsvermeidung in ein und demselben Betrieb durch verschiedene Akteure in verschiedenen Strukturen zugleich realisiert werden. Beispielhaft hierfür ist ein Fall, in dem im Gruppeninterview deutlich wurde, dass zielgerichtete Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung zugleich als Bestandteil (1) betrieblichen Arbeitsschutzes, (2) professioneller Berufsausübung und (3) kollektiver Fürsorge unternommen werden. Diese Aktivitäten liefen bislang unverbunden und unkoordiniert nebeneinander. Der für die Organisation der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung verantwortliche Akteur machte im Interview deutlich, dass er die Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung, die im Kontext professioneller Berufsausübung und kollektiver Fürsorge realisiert werden, wertschätzt. Und er machte auch deutlich, dass er seine Rolle und Aufgabe u. a. auch darin sieht, solche Aktivitäten für die Zwecke der Gefährdungsbeurteilung systematisch zu erschließen und abzubilden. Allerdings beschreibt er dies als eine schwierige Herausforderung: „… es ist ganz schwer, das abzubilden und zu dokumentieren, was alles passiert. So, es gibt die Anforderung von außen. Und da gehört dann auch immer zu, man muss das irgendwie abbilden können, was da passiert ist. Es passiert ganz viel intern. Und ich muss immer aufpassen, dass ich es mir mit den Leuten nicht verderbe und ihre Initiative, dass sie auch ganz schnell auf die Dinge immer reagieren, nicht unterminiere, aber trotzdem irgendwie einen Rückfluss kriege, damit ich das abbilden kann“.

Diskussion

Die Fallstudien machen deutlich: Aktive Gefährdungsvermeidung findet in den Betrieben nicht zwingend und ausschließlich in Strukturen und Prozessen des betrieblichen Arbeitsschutzes statt. Sie wird in unterschiedlichen Strukturen betrieblichen Handelns (zugleich) praktiziert. Die Summe der zielgerichteten Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung dürfte daher gemeinhin größer sein als das, was im betrieblichen Arbeitsschutz in der Gefährdungsbeurteilung organisiert und umgesetzt worden ist. Das bedeutet auch: Der Blick allein auf die Gefährdungsbeurteilung führt zu einer Unterschätzung der im Betrieb unternommenen Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung.

Die mit dieser Studie differenzierten Strukturtypen aktiver Gefährdungsvermeidung beschreiben allerdings nicht gleichwertige Alternativen im Sinne des Bildes: „Viele Wege führen nach Rom“. Denn die diese Strukturen charakterisierenden Regeln und Ressourcen setzen der Gefährdungsvermeidung auch in je spezifischer Weise Grenzen: So ist sie als Bestandteil professioneller Berufsausübung auf berufstypische Gefährdungen beschränkt; als Bestandteil fürsorglicher Mitarbeiterführung setzt sie eine entsprechende Werthaltung und Sensibilität der Führungskraft voraus und wird auf Gefährdungen begrenzt sein, deren Vermeidung sie sich aufgrund ihrer persönlichen Präferenzen, Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten zur Aufgabe macht. Auch die Maßstäbe gesundheitskritischer Arbeitsbelastung sind je nach Strukturtyp verschieden: Wo der Arbeitsschutz fachlich begründete Schwellenwerte sucht, definieren berufliche oder kollektive Standards ggf. abweichende Vorstellungen davon, „was man in dem Job aushalten können muss“.

Die Aktivitäten in den verschiedenen Strukturen sind daher eher als Beiträge zu einem „Patchwork“ aktiver Gefährdungsvermeidung zu verstehen (s. auch [11]). Die im Kontext betrieblichen Arbeitsschutzes organisierte Gefährdungsbeurteilung leistet in diesem Patchwork einen grundlegenden und unverzichtbaren Beitrag, denn sie ist in verbindlichen Normen verankert und an fachlich begründeten Arbeitsschutzstandards ausgerichtet (u. a. Bezugnahme auf Fachwissen über Gefährdungen, Qualitätsgrundsätze systematischer Ermittlung und Beurteilung, Beteiligung der Beschäftigten). Gleichwohl kommt auch der betriebliche Arbeitsschutz an Grenzen seiner Möglichkeiten zur Gefährdungsvermeidung, insbesondere dann, wenn Fragen der Leistungs- und Personalpolitik berührt sind.

Dass Betriebe zielgerichtete Anstrengungen zur Prävention auch jenseits der tradierten Strukturen und Prozesse des Arbeitsschutzes unternehmen, ist nicht neu: So explorierten bspw. Fromm und Pröll bereits vor 20 Jahren „Präventive Potenziale der kleinbetrieblichen Arbeitswelt und Möglichkeiten ihres systematischen Ausbaus“ [8]. Im Kontext dieser Studien entwickelte Pröll damals den Vorschlag eines milieugerechteren „Leitbilds der Prävention in der handwerklich-kleinbetrieblichen Arbeitswelt“, das anstelle der Normen institutionellen Arbeitsschutzes u. a. die im Handwerk herrschenden Vorstellungen von einem guten, professionell arbeitenden Handwerker zum Bezugspunkt macht [18]. Einher ging damit schon damals die Kritik am systematisch verengten Blick auf betriebliche Prävention, wenn allein „institutionelle Idealtypen und normative Konstruktionen des großbetrieblichen Arbeitsschutzmodells“ [18, S. 221] zugrunde gelegt werden. Ulrich Prölls damaliger Werbung für unvoreingenommenere Untersuchungen der Phänomenologie betrieblicher Gesundheitspolitik wollen wir uns anschließen: Auch die vorliegende Studie zeigt, dass der Möglichkeitsraum aktiver Gefährdungsvermeidung deutlich größer ist als der Bereich, der mit dem Blick auf den betrieblichen Arbeitsschutz ausgeleuchtet wird.

Was kann aus der Studie geschlussfolgert werden? Sinnvoll und erstrebenswert erscheint es uns, die auch jenseits des Arbeitsschutzes offenkundig gewordenen Möglichkeiten betrieblichen Handelns zur Gefährdungsvermeidung systematischer zu erschließen und zu nutzen. Erstrebenswert wäre aus unserer Sicht, wenn es sich Arbeitsschutzexperten – also Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte sowie Berater und Aufsichtspersonen der Länder und Unfallversicherungsträger – zur Aufgabe machen würden, die verschiedenen im Betrieb unternommenen Aktivitäten zur Gefährdungsvermeidung systematisch zu erschließen, sie zielgerichtet aufeinander zu beziehen und damit ein bewusst verknüpftes „Patchwork“ aktiver Gefährdungsvermeidung aktiv herzustellen und auszubauen. Empfehlenswert wären entsprechende Modellprojekte, aber auch weitergehende Forschung zu den diesbezüglichen Möglichkeiten und Voraussetzungen: Welchen Beitrag können Arbeitsschutzexperten (betriebliche Fachkräfte, aber auch Aufsichtsdienste) dazu leisten? Welche Weiterentwicklungen des betrieblichen Arbeitsschutzes (Aufgaben‑/Rollenverständnis, Kompetenzen, Methoden) sind dazu erforderlich?

Limitationen der Studie

Die Studie hat Limitationen, die bei der Bewertung und Rezeption der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen:

Studiendesignbedingt sind (1) keine Rückschlüsse auf Verhältnisse in der Grundgesamtheit möglich. In welchen Strukturen Gefährdungsvermeidung wie häufig realisiert wird, wäre weitergehend mit repräsentativen Surveys zu untersuchen.

Zu vergegenwärtigen ist (2) auch, dass in dieser Studie ausschließlich Fälle berücksichtigt wurden, die sich zielgerichtet um eine Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung bemühten. Vorliegende Surveys [1, 7, 17] und Einschätzungen von betrieblichen Präventionsexperten [15] legen nahe, dass dies in der Grundgesamtheit der Betriebe nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel ist.

Die Studie kann (3) nicht beanspruchen, das Spektrum der Möglichkeiten vollständig erfasst und dargestellt zu haben. Diesbezügliche Grenzen setzten der beschränkte Feldzugang und auch Kosten-Nutzen-Erwägungen, denn die Suche nach Kontrastfällen wird mit zunehmendem Studienfortschritt immer aufwendiger. Es ist davon auszugehen, dass Gefährdungsvermeidung auch in weiteren Strukturen realisiert wird, die hier nicht beschrieben wurden – z. B. in Strukturen institutioneller Beschäftigtenvertretung. Ein Beispiel hierfür bieten die tarifvertraglichen Regelungen an der Berliner Charité, in denen mit dem Ziel, gesundheitsgefährdende Überlastungen der Beschäftigten zu vermeiden, u. a. Mindestbesetzungen im Pflege- und Funktionsdienst vereinbart wurden [13]. Entsprechend wäre zu empfehlen, die hier vorgelegten Erkenntnisse über betriebliche Strukturen aktiver Gefährdungsvermeidung in weiteren Forschungsprojekten zu konsolidieren und auszubauen. Mehr Augenmerk wäre dabei zum einen auf die Art der Maßnahmen zur Gefährdungsvermeidung und ihr Zustandekommen zu legen. Zum anderen sollten auch die Beziehungen zwischen Aktivitäten in unterschiedlichen Strukturen stärker untersucht werden, u. a. mit den Zielen, (1) Potenziale zu ihrer Vernetzung zu bestimmen und (2) betriebliche „Patchworks“ (s. oben) aktiver Gefährdungsvermeidung zu differenzieren.

Fazit für die Praxis

  • Arbeitgeber sind verpflichtet, zielgerichtete Anstrengungen zum Erkennen und Vermeiden von Gefährdungen auch durch die psychische Belastung der Arbeit zu unternehmen („aktive Gefährdungsvermeidung“).

  • Dafür grundlegend ist die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung, die darauf abzielt, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu ermitteln und umzusetzen.

  • Gefährdungen durch psychische Belastung werden allerdings nicht ausschließlich in Strukturen und Prozessen des betrieblichen Arbeitsschutzes erkannt und reduziert, sondern (zugleich) auch in anderen Kontexten betrieblichen Handelns.

  • Der Blick allein auf den betrieblichen Arbeitsschutz führt daher zu einer verengten Sicht auf die Möglichkeiten, wirksame Prävention im Betrieb zu organisieren.

  • Für Forschung und Praxis gilt es, auch diese jenseits der Strukturen des Arbeitsschutzes liegenden Möglichkeiten betrieblicher Prävention systematisch in den Blick zu nehmen, zu erschließen und auszubauen.