Die zielgerichtete Gestaltung gesunder Lebensverhältnisse vor Ort – für alle Altersgruppen und in möglichst vielen Lebensbereichen – hat durch die Verabschiedung des Präventionsgesetzes (18.06.2015) an Bedeutung gewonnen. Die Lebenswelten von Menschen stehen im Vordergrund, nicht mehr nur die Förderung des individuellen Gesundheitsverhaltens eines Menschen. Dies bedeutet, dass Ansätze und Interventionen zur Prävention chronischer Erkrankungen und zur allgemeinen Gesundheitsförderung dort implementiert werden sollen, wo Menschen leben, lernen und arbeiten (Weltgesundheitsorganisation, „Health Promotion Glossary“ 1998) und dass sie Veränderungen dieser Lebenswelten zum Ziel haben sollten.

In dieser Ausgabe werden interessante ethische und sozialpolitische Überlegungen zur Implementierung solcher Interventionen sowie Ergebnisse aus empirischen Studien, in denen Interventionen zur Prävention und Gesundheitsförderung in und an verschiedenen Lebenswelten und Settings evaluiert wurden, vorgestellt. Auch enthält diese Ausgabe Ergebnisse aus formativer Forschung, in welcher u. a. Zusammenhänge zwischen individuellem Verhalten und organisationalen Faktoren von Settings exploriert und neue theoretische Konzepte, die für die Weiter- und/oder Neuentwicklung von Präventionsansätzen in Wissenschaft und Praxis von Relevanz sind, vorgestellt werden.

Das Oberthema der ersten 3 Beiträge ist die Prävention von Adipositas vom Kleinkindalter bis hin zum frühen Erwachsenenalter. Im 1. Beitrag werden vier verhältnispräventive Maßnahmen gegen Adipositas bei Kindern und Jugendlichen (Deutsche Allianz gegen Nichtübertragbare Krankheiten) im Hinblick auf eine Bündelung zu einem koordinierten Präventionskonzept kritisch diskutiert (Ried). Trotz wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweise aller vier Maßnahmen weist der Autor auf Grenzen in Bezug auf die Implementierung eines koordinierten Präventionskonzepts hin. Diese ergeben sich aus Deutschlands föderaler Struktur zum einen und, laut Ried, aus einem mangelnden intersektoralen Kommunikations- und Informationsaustausch zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Im 2. Beitrag werden förderliche und hinderliche Faktoren bei der Pilotierung eines Gesundheitsförderungsprogramms (‚JolinchenKids – Fit und gesund in der Kita‘) an Kitas vorgestellt. Mit einem Mixed-Methods-Ansatz wurde die Implementierung dieses Programms, welches vom AOK-Bundesverband in Kooperation mit Wissenschaftler/innen und Fachgesellschaften entwickelt wurde, in drei Pilotregionen untersucht und Empfehlungen für einen bundesweiten Roll-out des Programms abgeleitet (Steenbock et al.). Im 3. Beitrag wurde die subjektive Wahrnehmung über körperliche Aktivität/sitzendes Verhalten mit dem tatsächlichen Verhalten bei jungen Erwachsenen verglichen: als Ergebnis zeigt sich, dass sowohl Über- als auch Unterschätzungen in Bezug auf körperliche Aktivität und sitzendes Verhalten aufgedeckt werden (Rudolf et al.).

Es folgen 2 Beiträge, die sich mit dem Thema Gesundheit am Arbeitsplatz auseinandersetzen. Rüger et al. untersuchen zunächst nachteilige Effekte des beruflichen Fernpendelns und der Varimobilität bei Erwerbstätigen und gehen Unterschieden zwischen soziodemografischen Gruppen auf den Grund. Im 2. Beitrag wird Lehrergesundheit im Kontext schulischer Inklusion beleuchtet und wesentliche Einflussfaktoren werden identifiziert. Diese empirische Arbeit legt nahe, dass die wesentlichen Einflussfaktoren für eine Be- sowie Entlastung von Lehrern auf der Umweltebene zu finden sind und Interventionen zur Förderung von Lehrergesundheit organisationale Veränderungen zum Ziel haben sollten (Hedderich et al.). Mit Cassens et al. schließt ein Bericht aus dem Bereich des Qualitätsmanagements an, der die Entwicklung und Erprobung eines Zertifizierungssystems zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung kommunaler Gesundheitsförderungs- und Präventionsstrukturen darlegt. Auch dieser Ansatz ist zur Multiplikation geeignet und seine Tauglichkeit für einen landesweiten Roll-out wird diskutiert.

Zwei abschließende Beiträge befassen sich mit dem Bereich derGesundheitsinformation‘ bzw. ‚Gesundheitskompetenz‘. So wird im 1. Beitrag im Rahmen einer narrativen Literaturanalyse die Entstehung und Entwicklung des Health Literacy-Konzepts erläutert und die Anwendung des Konzepts in Deutschland sowie seine Ausweitung auf Lebenswelten kritisch hinterfragt (Vogt et al.). In dem sich anschließenden Artikel widmen sich Dietscher u. Pelikan der organisationalen Gesundheitskompetenz. Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie erproben sie den Einsatz eines Selbstbewertungsinstruments zur Erfassung von Gesundheitskompetenz in Organisationen, in diesem Fall in Krankenhäusern. Hintergrund dieser Studie bildet eines der 10 Rahmengesundheitsziele in Österreich, das auf Grundlage der Ergebnisse der Europäischen Health Literacy-Studie in 2012 definiert worden ist. Darin verankert ist: „Das Gesundheitswesen durch Einbeziehung der Beteiligten und Betroffenen gesundheitskompetenter [zu] machen.“ Ziel ist die Vereinfachung von Strukturen und Prozessen und die Schaffung einer Win-win-Situation für Patientinnen und Patienten und Personal von Krankenhäusern.

Die in diesem Schwerpunktheft dargestellten Themen verdeutlichen, dass Ansätze, die über die Adressierung individueller Änderungen im Gesundheitsverhalten hinausgehen, Konjunktur haben. Überdies werden Unterschiede im Fortschritt bezüglich der Entwicklung, Implementierung und Evaluation dieser Ansätze zwischen einzelnen Settings/Lebenswelten deutlich. Allerdings wird auch ersichtlich, dass die Forschung zur gezielten Implementierung von evidenzbasierten Präventionsmaßnahmen bezugnehmend auf unterschiedliche Bedarfe und Lebensverhältnisse verschiedenster Populationen in Deutschland – und vermutlich auch international – noch in den Kinderschuhen steckt. Weiterhin fehlt es an einer Harmonisierung von Erhebungsmethoden zur Erfassung von individuellem Gesundheitsverhalten und Faktoren in Lebenswelten, die sich entweder direkt auf die Gesundheit oder auf Gesundheitsverhalten auswirken. Da die Auswahl, Implementierung und Evaluation von präventiven Maßnahmen, auch nach Verabschiedung des Präventionsgesetzes, auf Länderebene geschieht, wird dies weiterhin eine Herausforderung in Deutschland darstellen.

Neue Impulse kommen hier möglicherweise aus interdisziplinären europäischen Forschungsverbünden, die der Forderung nach einer Vereinheitlichung von Methoden zur Evaluation gesundheitlicher Auswirkungen am Beispiel von Interventionen zur Förderung von gesunder Ernährung und ausreichender körperlicher Aktivität nun nachgehen. Augenmerk liegt hier auf Programmen, die bei Verhalten und Lebensverhältnissen ansetzen (sog. Mehrebeneninterventionen). So wird im Rahmen des ‚Determinants of diet and physical activity knowledge hub‘ (DEDIPAC)-Projekts (https://www.dedipac.eu/), an welchem 68 Institutionen aus 12 europäischen Ländern beteiligt sind, eine Harmonisierung der Entwicklung, Implementierung und Evaluation von Mehrebeneninterventionen und auch von politischen Maßnahmen zur Förderung von körperlicher Aktivität und einer gesunden Ernährung über mehrere europäische Partnerländer hinweg angestrebt. Dies geschieht zunächst über eine ausführliche Bestandsaufnahme und Bewertung von Mehrebeneninterventionen und politischen Maßnahmen nach durch die Forscher entwickelten Good Practice-Kriterien. Ziel ist es auch, evidenzbasierte Mehrebeneninterventionen in einer öffentlich zugänglichen Toolbox mit Anleitungen zur Implementierung zu bündeln. Dieses Projekt könnte möglicherweise Vorbildfunktion für die deutsche Präventionslandschaft haben. Zum einen ist denkbar, dass ein deutscher Forschungsverbund eine zentrale Stelle einrichtet, an die sich Praktiker/innen, Stakeholder/innen aus verschiedenen Organisationen/Settings oder Forscher/innen richten können, um Unterstützung in der Auswahl und Implementierung von geeigneten Präventionsmaßnahmen für ein Setting oder eine Lebensumwelt zu erhalten. Dies setzt eine Bestandsaufnahme von evidenzbasierten Mehrebeneninterventionen in Deutschland voraus. Zum anderen könnte auf diese Weise auch gewährleistet werden, dass in Bezug auf geeignete und machbare Evaluationsmaßnahmen, d. h. einschließlich solcher, die eher niedrigschwellig sind, Beratung orientiert an wissenschaftlichen Erkenntnissen verfügbar ist. Zusammengenommen würden diese Maßnahmen auch dem von der Weltgesundheitsorganisation (2013) im Rahmen des ‚Global Action Plan‘ geforderten Monitorings der Trends und Determinanten von nichtübertragbaren Krankheiten und der kontinuierlichen Erfassung des Fortschritts in Richtung Prävention und Kontrolle selbiger entsprechen.

figure c

B. Steenbock

figure d

C.R. Pischke

FormalPara Interessenkonflikt

B. Steenbock und C.R. Pischke geben an, dass kein Interessenskonflikt besteht.