Gesellschaftlicher, sozialer und medizinischer Fortschritt führten im 20. Jahrhundert zu einem Anstieg von Gesundheit und Lebenserwartung, den es so zuvor noch nie gegeben hat. Paradoxerweise ist diese Entwicklung aber von einer gravierend sozial ungleichen Verteilung begleitet. Während sich die Gesundheit der Bevölkerung als Ganzes positiv verändert, hebt sich der Gesundheitszustand sozial schlechter gestellter Personen deutlich negativ ab. Ein Zusammenhang von sozialen Determinanten und individuellem Gesundheitszustand gilt als unumstritten.

Die soziale Lage ist einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Gesundheit der Menschen. Kerndimensionen sozialer Ungleichheit wie Bildung, Beruf und Einkommen üben einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit aus. Da der Anteil sozial benachteiligter Gruppen während der vergangenen Jahre größer wurde, ist auch mit einem Anstieg gesundheitlich benachteiligter Gruppen zu rechnen. Bereits heute kann der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit nicht mehr abgefedert werden und wird damit immer stärker zu einem gesellschaftlichen Problem. So sind wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer substantiell gesundheitlichen Ungleichheit konfrontiert, deren Lösung im politischen Handlungsfeld der Gesundheits- und Sozialpolitik liegt.

Neben sozioökonomischen Determinanten spielen auch andere Dimensionen sozialer Ungleichheit für die gesundheitliche Entwicklung eine Rolle, wie z. B. Alter, Geschlecht, Wohnort etc.. Neuere Erklärungsansätze beziehen auch psychosoziale Variablen und Bewältigungsressourcen mit ein. Daher empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Analyse von gesundheitlichen Daten unter dem Aspekt der sozialen Unterschiedlichkeit nicht zuletzt zur Konzipierung von speziellen Präventionsstrategien zur Erhöhung der Chancengleichheit für diese Problemgruppen.

Die Mundgesundheit als Teil der allgemeinen Gesundheit ist von dieser Problematik nicht ausgenommen. Allgemein betrachtet, hat sich die Mundgesundheit in Deutschland und allen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Dies gilt besonders für den Rückgang der Karies im Kindes- und Jugendalter. Diese als „caries decline“ bezeichnete Entwicklung bezieht sich immer nur auf den Durchschnitt der jeweiligen Alterskohorte. Daneben gibt es die sog. „Risikogruppen“, deren Mundgesundheitsstatus vom Durchschnitt deutlich abweicht. Im Milchgebiss ist der „caries decline“ im Vergleich zum bleibenden Gebiss weniger deutlich, was v. a. an der Zunahme der frühkindlichen Karies – einer besonders schweren Kariesform im Kleinkindalter – liegt. Trotz des „caries decline“ erkranken in den meisten Industrieländern noch 60–90% der Kinder und eine große Mehrheit der Erwachsenen an Karies, wodurch die Zahnkaries nach wie vor ein wichtiges „Public-Health-Problem“ bleibt.

Obwohl die Entstehung der häufigsten Munderkrankungen im Wesentlichen auf das Gesundheitsverhalten zurückzuführen ist, belegen wissenschaftliche Erkenntnisse, dass das Gesundheitsverhalten per se wiederum durch die jeweilige sozioökonomische Lage, der die Individuen unterliegen, geprägt wird. Die genannten Fakten und Zusammenhänge begründeten die Durchführung des Symposiums „Ungleichheit in der Mundgesundheit – Herausforderung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ anlässlich des 25-jährigen Bestehens des WHO-Kollaborationszentrums an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Mai 2008. Wesentliche Beiträge dieses Symposiums sowie weitere Veröffentlichungen zu dieser Thematik möchten wir den Lesern in diesem Themenheft vorstellen. Die Artikel vermitteln nicht nur einen globalen Überblick über die Mundgesundheit aus Sicht der WHO, sondern sie beschreiben Risikofaktoren bei der Entstehung von Munderkrankungen und bieten Erklärungsansätze, Kompetenzen und Konzepte für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zur Vermeidung von Karies, der immer noch – weltweit betrachtet – häufigsten chronischen Erkrankung im Kindesalter.

A. Borutta