Es war eine der ungezählten Diskussionsrunden zum Thema Künstliche Intelligenz. Die Teilnehmer*innen des Forums in Berlin waren sich einig, dass KI die Erfindung des 21. Jahrhunderts sei und die Medizin in Forschung, Wissenschaft und Praxis voranbringen werde. Natürlich sehe man auch Gefahren - Datenschutz, Fehleranfälligkeit, Veränderung der Arzt-Patienten-Beziehung. Aber man müsse sich dem stellen und nach konstruktiven Lösungen suchen. Was Ratlosigkeit und Schulterzucken, zum Teil ein mildes Lächeln bei den Diskutierenden hinterließ, war der Einwand, dass durch den stärkeren Einsatz von Digitalisierung und Technologie im Allgemeinen grundlegende ärztliche Fähigkeiten in den Hintergrund rücken könnten oder gar verloren gehen. Gemeint sind die unmittelbare körperliche Untersuchung und der Einsatz des Stethoskops.

Besonders auffällig ist das bei Studierenden zu beobachten, die in einer internistischen Hausarztpraxis ihr Pflichtpraktikum oder eine Famulatur absolvieren. In den meisten Fällen ragt das Stethoskop mit einem kleinen Teil schüchtern aus der Kitteltasche und bleibt unbenutzt. Erst bei Aufforderung erfolgt der verlegene Griff in die Seitentasche und nach zögerlichem Aufsetzen der Auskultationsmembran auf den Patiententhorax macht sich nicht selten Ratlosigkeit in den jungen Gesichtern breit. Was genau habe ich gehört? Nichts? Oder doch ein Geräusch? Ist das das Herz oder die Lunge? Wie beschreibe ich das? Was folgt, sind Diskussionen über das Gehörte, die Interpretation des Auskultationsbefundes und die klinische Einordnung. Häufig wird von den Studierenden berichtet, man habe bisher im Studium nur rudimentär etwas über den Einsatz des Stethoskops erfahren, die richtige Zuordnung von pathologischen Herz- oder Lungengeräuschen habe man sich mit Hilfe von Amboss selbst beigebracht oder durch Anschauen von YouTube-Videos erlernt.

Als der französische Arzt René Laennec vor über 200 Jahren erstmals die Auskultation mittels eines Hörrohres praktizierte, konnte er nicht ahnen, dass dies die medizinische Diagnostik revolutionieren sollte. Bis 1816 war es üblich, dass der Arzt das Abhören von Körpergeräuschen durch direkte Auflage des Ohres auf den Patientenkörper durchführte - ein nachvollziehbar unpraktischer Vorgang. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich das sogenannte Stethoskop weiter und wurde zu einem der wichtigsten diagnostischen Instrumente im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 und die Einführung der Ultraschalldiagnostik in den 1980er Jahren verdrängten die Bedeutung des Stethoskops mehr und mehr. Bis heute bleibt es untrennbar mit dem Bild des Arztes/der Ärztin verbunden und dient in den Medien oder auf unzähligen Fotos und Anzeigen als Symbol für den ärztlichen Beruf schlechthin.

Spätestens seit Einzug von Digitalisierung und moderner Bildgebung in den verschiedensten medizinischen Disziplinen stellt sich die Frage: Brauchen junge Mediziner noch die gründliche Ausbildung am Krankenbett mit Palpation, Perkussion und Auskultation als handwerkliche Grundlagen der ärztlichen Untersuchungstechnik? Oder ist der Finger (lat. Digitus) überflüssig dank der modernen Semantik des Wortes „digital“ als Inbegriff für virtuelle Realität? Verkommt das Stethoskop zum reinen Statusmerkmal, zum Accessoire, das Ärztinnen und Ärzte auch im 21. Jahrhundert vertrauenswürdig erscheinen lässt? Es verwundert nicht, dass US-amerikanische Kardiologen vor einigen Jahren behaupteten, das Stethoskop werde in naher Zukunft ins medizinhistorische Museum verbannt. Die Entwicklung von portablen, in die Kitteltasche passenden Geräten zur Echokardiografie führe dazu, dass sich der Ultraschall zum Stethoskop des 21. Jahrhunderts entwickeln werde.

Bei allen öffentlichen Stellungnahmen - sei es vom Deutschen Ethikrat, der Bundesärztekammer oder den wissenschaftlichen Gesellschaften - wird immer wieder betont, dass Digitalisierung und KI kein Selbstzweck seien und niemals ärztliches Handeln oder die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung ersetzen dürfen. Dieser Meinung schließen sich auch Hausärztinnen und Hausärzte im BDI an. Dabei ist das Stethoskop weit mehr als ein verstaubtes Instrument, das in der Kitteltasche oder gut sichtbar um den Hals geschlungen ärztliche Kompetenz signalisiert. Es steht für eine patientennahe, empathische Heilkunde, in der sich Arzt oder Ärztin dem Patienten zuwenden, ihm zuhören und in seinen Körper „hineinhorchen“. Ob der Verbindung von digitaler Technik und Auskultation die Zukunft gehört, bleibt abzuwarten. Die Industrie jedenfalls bietet bereits aufgerüstete Stethoskope mit Schallverstärkung und KI-basierter Interpretation der Auskultationsphänomene an. Unter Medizinstudierenden sind diese neuartigen Instrumente bisher kaum verbreitet.

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© PHIL DERA

Dr. med. Ivo Grebe

Vorsitzender der AG Hausärztliche Internistinnen und Internisten des BDI