„Von der Seelenruhe zum glücklichen Leben, von der Muße zur Kürze des Lebens“ - so lautet die Überschrift eines kleinen Büchleins von Seneca, das sich zwischen Arbeitsmappen und Fachzeitschriften einen Platz auf dem Schreibtisch erobert hat. Man könnte meinen, dass der vor fast 2.000 Jahren verstorbene Gelehrte die Zeit vorwegnahm, wenn er von „Missvergnügen auf Grund der Ungebärdigkeit des Seelenzustandes“ spricht. Als Ursache macht er die ewige Unrast und die Überhöhung eigener Ansprüche aus, was dann einen „schwankenden Gemütszustand..., die Hemmung des einer festen Entscheidung unfähigen Lebens und das Einrosten der inmitten vereitelter Wünsche erstarrenden Geisteskraft“ zur Folge hat.

Nicht weit davon entfernt sind die Zustände im heutigen post-industriellen Zeitalter mit all den Wünschen und Verlockungen einer digitalisierten Welt im Überfluss. Einer Gesellschaft, die sich das Höher-Weiter-Schneller auf die Fahnen geschrieben hat und damit das Individuum vielfach überfordert. Passend dazu lesen wir im kürzlich vorgelegten Fehlzeitenreport 2023 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten in Unternehmen einen historischen Höchststand erreicht haben. Lag die Arbeitsunfähigkeits-Quote in den vergangenen Jahren bei 5,4 Prozent, kletterte die Zahl 2022 auf 6,7 Prozent. Während im ersten Quartal 2023 noch Atemwegserkrankungen dominierten, sieht die Lage bei differenzierter Betrachtung über das gesamte Jahr etwas anders aus. Die Anzahl von Fehltagen wegen psychischer Erkrankungen stieg von 2012 bis 2022 um mehr als 48 Prozent, die durchschnittlichen AU-Zeiten lagen pro Kopf bei rund 30 Tagen.

Bei der Suche nach Ursachen kommt wenig Erstaunliches zu Tage. Die größte Gruppe der psychisch Erkrankten sind Erwerbstätige aus dem Gesundheits- und Sozialwesen. Das lässt nur den Schluss zu, dass Arbeitsverdichtung und Fachkräftemangel in Verbindung mit mangelnder Wertschätzung die Entwicklung von Überforderung, Burn-out und ängstlich-depressiver Symptomatik fördert. Andere Gründe für die Zunahme seelisch bedingter Fehlzeiten werden in erhöhtem Leistungsdruck besonders in wirtschaftlich angeschlagenen Sparten, diffusen Zukunftsängsten des Einzelnen und der sozialen Isolation durch das Arbeiten im Home- oder Mobile-Office und den Spätfolgen der Corona-Pandemie gefunden.

Vom Long- und Post-Covid-Syndrom (vier bis zwölf Wochen nach stattgehabter Infektion) sind aktuellen Schätzungen zur Folge etwa 5 bis 10 Prozent der 38 Millionen Sars-Cov-2-Erkrankten in Deutschland betroffen. Über die genaue Zahl lässt sich streiten, Einigkeit unter Wissenschaftlern besteht darin, dass viele Betroffene prämorbid einer hohen psychosozialen Belastung ausgesetzt waren. Ängstlichkeit, erhöhtes Stressempfinden, Einsamkeit und starke Sorge vor einer Infektion ließen sich als Faktoren identifizieren, die mit einem 50 Prozent höheren Risiko für die Entwicklung eines Long- oder Post-Covid-Syndroms einhergingen. Hier wird also deutlich, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die sowohl im körperlichen wie im seelischen Bereich Widerhall findet.

Bekanntlich hat jede körperliche Krankheit auch seelische Aspekte, eine primär psychische Erkrankung kann körperliche Auswirkungen haben, genauso wie eine primär somatische Erkrankung das seelische Gleichgewicht ins Schwanken bringen und damit den Heilungsprozess gefährden kann. Wir sollten uns endlich auf den Weg machen, im ärztlichen Denken die Trennung zwischen Körper und Seele aufzuheben und den Stellenwert der Psychosomatik im Allgemeinen, insbesondere aber in der Inneren Medizin stärken. Dies kann nur gelingen, wenn die Weiterbildungsordnung für alle klinischen Fachgebiete einschließlich der gesamten Inneren Medizin mit ihren Schwerpunkten um einen Grundkurs zur psychosomatischen Medizin erweitert wird. Gerade in Zeiten, in denen der Anteil psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen dramatisch wächst, ist es wichtig, dass jede(r) angehende Internist*in fundierte Kenntnisse im Umgang mit psychosomatischen Patienten*innen erwirbt und diese klug einbringt. Dafür sollten wir uns als BDI auf allen Ebenen einsetzen - denn wie sagte sinngemäß schon Seneca: das Leben ist nicht kurz, sondern lang genug, wenn wir uns um die wirklich wichtigen Dinge kümmern.

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© PHIL DERA

Dr. med. Ivo Grebe

Vorsitzender der AG Hausärztliche Internistinnen und Internisten des BDI