Liebe Kolleginnen und Kollegen,

kürzlich riss mich der hartnäckige Piepton meines Weckers aus dem morgendlichen Tiefschlaf, ich schaute kurz auf das Display meines Handys und sah eine Push-Nachricht. Meine Brille lag weit weg, Lesen war also unmöglich. Gedanken und Bilder des gerade unterbrochenen Traums schwirrten durch mein halbwaches Gehirn. War das Realität oder Einbildung? Landauf landab die Arztpraxen geschlossen, unbefristeter Warnstreik aller niedergelassenen Ärzte in der gesamten Republik, überall Protestkundgebungen mit weißbekittelten Gestalten, Plakate und Protestfahnen: "Es reicht" oder "Wir fordern Reduzierung der Arbeitszeit" - "Ende der Budgetierung jetzt" - "Gerechte Vergütung für alle"... Nach kurzer Denkpause wurde klar - nein, das waren definitiv Traumbilder, erst gestern noch ging die Sprechstunde bis 19 Uhr, niemand hatte am Abend im Chat, im Messenger oder per Social-Media zu einem Streik aufgerufen. Eigentlich schade.

Enttäuscht begann ich das Morgenritual, setzte auf dem Weg zum Bad meine Brille auf und schaute auf mein Handy. Die Nachricht des Tages lautete: "Pflegekräfte bekommen 18 freie Tage mehr - Streik an den Unikliniken in NRW beendet."

Fast könnte man neidisch sein. Einem Verein - ich korrigiere mich: einer Organisation - wie Verdi gelingt es, durch kluge Taktik, Durchhaltevermögen und geschlossenes Auftreten bessere Personalschlüssel und Belastungsgrenzen für das Pflegepersonal durchzusetzen. Werden Grenzwerte überschritten, können die "Belastungspunkte" in finanziellen Ausgleich oder zusätzliche freie Tage umgewandelt werden - bis zu maximal 18 Tage im dritten Jahr der Tariflaufzeit. NRW-Gesundheitsminister Laumann ist voll des Lobes für den erzielten Kompromiss und spricht von einem "Lokführermoment" der Pflege an den Universitätskliniken. Das Land als Träger der Unikliniken wolle rechtssicher für eine "auskömmliche Finanzierung" der Unikliniken sorgen.

Den Beschäftigten der Pflege sei das erzielte Ergebnis im Tarifvertrag gegönnt - viel zu lange hat man die Klagen von Seiten der Schwestern und Pfleger ignoriert, der Abwanderung von qualifiziertem Personal nichts entgegengesetzt und sich damit zufriedengegeben, dass ein "Coronabonus" gezahlt wurde. Auch die Medizinischen Fachangestellten in den Praxen und MVZ haben umfassend auf die eklatanten Defizite ihres Berufsalltags aufmerksam gemacht und dafür von Verbänden, KVB und BÄK viel Verständnis bekommen. Seitens der Politik reichte es gerade für einen steuerbefreiten Gehaltszuschlag von bis zu 4.000 Euro - zu zahlen vom Arbeitgeber.

Womit wir bei unserer Berufsgruppe wären, den Ärztinnen und Ärzten in der ambulanten Versorgung, Arbeitgeber und Arbeitsplatzgarant für über 430.000 Beschäftigte in medizinischen Hilfsberufen. Wer vertritt eigentlich unsere Interessen? Die Kassenärztliche Vereinigung - Fehlanzeige. Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts bewegt sich eigenverantwortlich und interessengeleitet - der Rahmen ist allerdings durch den Gesetzgeber genau definiert und gerade in den letzten Jahren weiter beschränkt worden. Eine kämpferische gewerkschaftliche Organisation war die KV nie und wird es nie werden. Eine allumfassende organisierte Vertretung unserer Interessen ist nicht in Sicht, leider. Dabei bräuchten wir diese nötiger denn je. Gerade wurde vom Bundeskabinett beschlossen, die TSVG-Regelung für Neupatienten (extrabudgetierte Fallvergütung, um Wartezeiten für Patient*innen zu verkürzen) zu streichen. Die gesetzliche Erhöhung der Sprechstundenzeiten auf 25 Wochenstunden aus der Spahn-Ära bleibt selbstverständlich bestehen. Daneben erhalten auf Grundlage des Apotheken-vor-Ort-Stärkungsgesetzes Apothekerinnen und Apotheker das Recht auf Impfungen und die Durchführung eines Medikamenten-Check, Honorar 90 Euro. An den Kosten für den laut Gematik "aus Sicherheitsgründen" unvermeidlichen Konnektoren-Tausch sollen sich die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte mit bis zu 500 Euro beteiligen. Die Einführung von eAU und eRezept bindet bei Vorbereitung, Umsetzung und Implementierung im PVS für jede Praxis ungezählte Stunden an Arbeitszeit. - Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Auf die Idee, dass unsere Grenzen, nämlich die der mehr als 180.000 Vertragsärztinnen und -ärzte, überschritten sind, kommt niemand, ganz sicher nicht die Politik. Die KV belässt es bei halbherzigen Protesten. Der BDI hat sich bereits im Juli eindeutig positioniert und die Rücknahme fundamentaler Eingriffe in ein mühsam errichtetes Vergütungssystem für definierte Patientengruppen gefordert. Gerade jetzt sind die Verbände als die wahren Vertreter haus- und fachärztlicher Interessen gefordert. Nur im gemeinsamen Schulterschluss können wir Signale senden, um unsere Position deutlich zu machen, notfalls durch Praxisschließungen und Arbeitsniederlegung. Dann würde der eingangs erwähnte Traum Wirklichkeit - mit unabsehbaren Folgen.

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© Michaela Illian

Dr. med. Ivo Grebe

Vorsitzender der AG Hausärztliche Internistinnen und Internisten des BDI