Liebe Kolleginnen und Kollegen,

seit dem 20. März ist es so weit: pünktlich zu Frühlingsbeginn startete der "Freedom Day". Das Ende der Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes bedeutet für viele von uns weniger Arbeit rund um die Pandemie (die als solche nicht mehr existiert) und damit die Rückkehr zur Normalität in Praxen, MVZ und Kliniken. Soweit der Wunschgedanke - aber ist dies alles zukunftsfähig?

Mitte Februar war der Höhepunkt der Omikron-Welle erreicht, Vertreter der Bundesregierung hatten gerade Schritte zu Lockerungen der Corona-Schutzverordnung beschlossen, da meldeten sich bereits erste kritische Stimmen. Das gehe alles zu schnell, die Pandemie sei noch lange nicht besiegt und spätestens im Herbst müsse man mit einer neuen Virusvariante rechnen. Ob eine zweite Boosterung allgemein zu empfehlen ist, bleibt strittig, für vulnerable Gruppen wie über 70jährige, Immungeschwächte und Bewohner von Pflege- und Seniorenheimen ist ein klarer Vorteil erkennbar. Allerdings ist der Schutz vor schwerwiegenden Verläufen je nach Impfstoff gerade mal zwischen 11% und 30% höher als nach einer 3-fach Impfung. Mit der Zulassung eines Omikron-angepassten Impfstoffes wird nicht vor Mai bzw. August 2022 gerechnet.

Dann gab es die Diskussion um die Impfpflicht. Ab 16. März gilt diese einrichtungsbezogen für Beschäftigte im Gesundheitswesen, Alten- und Pflegeheimen und Arztpraxen. Die Umsetzung läuft eher schleppend, auf den aktuellen Verlauf der Pandemie hat das von Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetz keinerlei Einfluss. Stattdessen müssen sich Länder, Kommunen und allen voran die Gesundheitsämter mit den Konsequenzen herumschlagen. Nach vorsichtigen Schätzungen werden frühestens im Juli/August dieses Jahres die ersten Beschäftigungsverbote ausgesprochen oder Bußgeldbescheide versendet. Bis dahin ist die Pandemielage eine völlig andere, die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer längst in anderen Berufen untergekommen oder im Idealfall mit dem Totimpfstoff Novavax® immunisiert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man die Wirkung einer selektiven Impfpflicht kritisch hinterfragen.

Problematischer wird es mit der allgemeinen Impfpflicht ab dem 18. oder 50. Lebensjahr. Während ich diese Zeilen schreibe, ist die Debatte im Bundestag noch gar nicht eröffnet, von einem genauen Zeitplan für die Umsetzung ganz zu schweigen. Welcher der vorliegenden Anträge durchkommt, ist völlig offen. Eine sterile Immunität ist im Gegensatz zu anderen Vakzinationen wie Masern nicht zu erreichen - übrigens ein starkes Argument der Impfpflicht-Gegner. Ob tatsächlich durch eine verpflichtende Immunisierung gegen das Corona-Virus die Impfquote von derzeit 76% signifikant gesteigert werden kann, bleibt eine Illusion. Aus epidemiologischer und Public-Health-Sicht bleiben zu viele Fragen zur Senkung von Morbidität und Infektiosität unbeantwortet, als dass sich die generelle Impfpflicht als wirksames Instrument zur Pandemiebekämpfung erweisen könnte.

Dazu kommt die nicht unerhebliche Zahl von notorischen Impfgegnern und Corona-Leugnern. Gerade bei dieser Gruppe finden sich viele Vertreter, die am Glauben einer Impfverschwörung festhalten oder mangelndes Vertrauen in Regierung und öffentlichen Institutionen beim Umgang mit der Pandemie haben. Man mag diese absurden und verschwurbelten Theorien belächeln - spätestens bei Fackelaufzügen oder Hass-Spaziergängen wird klar, welche gesellschaftliche Sprengkraft hinter diesen Ideen steckt. Eine verpflichtende Impfung reißt soziale Gräben auf, statt heilende Brücken zu bauen.

Und nicht zu vergessen: die Langzeitwirkung nach stattgehabter Corona-Infektion. Liest man aufmerksam die unzähligen Veröffentlichungen zu Long-Covid, wird mehr als einmal betont: erste und wichtigste Anlaufstelle ist die Hausärztin/der Hausarzt. Die Aufgabe lautet schlicht: zuhören, die betroffenen Patientinnen und Patienten ernst nehmen, eventuell spezifische Untersuchungen veranlassen. Eine gezielte Therapieoption steht in absehbarer Zeit nicht zur Verfügung.

Wer also geglaubt hat, mit Frühlingsbeginn und den Beschlüssen unserer Regierung sei die Pandemie überwunden, wird sich eines Besseren besinnen müssen. In den internistischen Praxen, nicht nur den hausärztlichen, hat das große Aufräumen begonnen. Testbestecke werden in die zweite Reihe geräumt, Schilder entfernt ("Bitte Abstand halten") und unverbrauchte Impf-Vials entsorgt. Das Ganze dient der Vorbereitung auf die Zeit, wenn uns Noch-RKI-Chef Wieler, in gewohnt ernstem Ton und hoffentlich nach vorheriger Absprache mit seinem Chef Lauterbach, an einem trüben Vormittag im Spätsommer auf die fünfte Welle einschwört und verkündet: An Tagen wie diesen - kein Ende in Sicht.

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Dr. med. Ivo Grebe

Vorsitzender der AG Hausärztliche Internistinnen und Internisten des BDI