Über schwer Demenzkranke, die sich kaum noch artikulieren und bewegen können, herrsche zum Teil noch immer die Auffassung, es seien „leere Hüllen“ oder gar „lebende Leichen“, erläuterte Prof. Dr. Klaus Maria Perrar vom Zentrum für Palliativmedizin der Universität Köln auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Mannheim. Dass dies definitiv nicht der Fall ist und schwer demenzkranke Personen über die Nahrungszufuhr und -ausscheidung hinaus komplexe Bedürfnisse haben, wurde nicht zuletzt anhand eines vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekts deutlich. Daraus resultiert eine Arbeitshilfe für Mitarbeiter von Kliniken und Pflegeeinrichtungen, die sich frei zugänglich auf der Webseite des Zentrums herunterladen lässt*.

Feldforschung in Pflegeheimen

Für das Projekt haben Mitarbeiter der Uniklinik systematisch in der Literatur nach Erkenntnissen über die Bedürfnisse und Verhaltensweisen schwer Demenzkranker gefahndet. Sie fanden insgesamt zehn geeignete Publikationen zu dem Thema. Keine einzige davon stammte jedoch aus Deutschland, erläuterte der Gerontopsychiater. Zusätzliche Erkenntnisse versprachen sich die Ärzte daher von Feldforschungen in stationären Einrichtungen der Altenhilfe. Mitarbeiter der Uniklinik suchten sechs solcher Einrichtungen auf, beobachteten dort schwer Demenzkranke und sprachen mit Mitarbeitern sowie Angehörigen. Nachlesen lassen sich die Resultate jetzt in der rund 80-seitigen „Arbeitshilfe für die Versorgungspraxis der stationären Altenhilfe“.

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Demenzkranke haben ein starkes Bedürfnis nach Vertrautheit.

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Menschen mit schwerer Demenz haben danach weiterhin den Wunsch nach Zuwendung, wollen angesprochen und wahrgenommen werden, benötigen Reize in ihrer Umgebung, wollen sich mit etwas beschäftigen, mit anderen Menschen zusammen sein und ihre Emotionen sowie ihren eigenen Willen ausdrücken.

Patienten reagieren positiv auf gewohnte Situationen

Perrar erläuterte dies am Bedürfnis nach Vertrautheit. In der Regel reagieren Demenzkranke positiv auf gewohnte Situationen und Personen, etwa, wenn diese sie anlächeln und Blickkontakt aufnehmen. Teilweise lassen sie Pflegehandlungen nur von bestimmten Personen zu. Auf unbekannte Personen und Situationen reagieren sie dagegen oft mit Angst, Unbehagen, Anspannung, Schreien und verzerrter Mimik. Entsprechend können ein veränderter Tagesablauf oder Ausflüge zu unbekannten Orten das Unbehagen steigern, sagte der Palliativexperte.

Aus dem Bedürfnis „Vertrautheit“ ergeben sich daher einige Handlungsoptionen. So sollte sich ein möglichst gleich bleibender Personenkreis um den jeweiligen Demenzkranken kümmern. Auch sei es von Vorteil, wenn Betreuer und Demenzkranke genug Zeit hätten, einander kennenzulernen. Ein reger Mitarbeiterwechsel ist dem Wohlbefinden eher abträglich.

„Biografiekästen“ am Zimmereingang

Pflegeeinrichtungen sollten zudem die Vertrautheit mit der eigenen Person stärken. Möglich sei dies etwa durch eine ritualisierte Ansprache der Bewohner mit Vor- und Nachnamen, durch die Erwähnung relevanter Lebensthemen, Hobbys, Familie und Beruf, aber auch durch „Biografiekästen“ am Zimmereingang. Solche Kästen könnten Fotos enthalten oder andere biografisch relevanten Gegenstände, die es den Bewohnern erleichtern, sich zu orientieren und ihre eigene Person wiederzuerkennen.

In ähnlicher Weise listet die Arbeitshilfe andere Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Vermeidung von Schmerzen, Kleidung, Sinneswahrnehmungen, Ruhe und Schlaf auf.

Der beste Leitfaden nützt jedoch nichts, wenn er in der Praxis keine Beachtung findet. Deshalb ist in einem gerade laufenden Folgeprojekt geplant, die Arbeitshilfe im Pflegealltag zu implementieren, ihre Praxistauglichkeit festzustellen und sie auf die ambulante Altenhilfe auszudehnen, sagte Perrar. Auch soll ihre Auswirkung auf die Lebensqualität von Demenzkranken und die Arbeit der Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen evaluiert werden.

*Arbeitshilfe für die Versorgungspraxis der stationären Altenhilfe. Bedürfnisse von Menschen mit schwerer Demenz in der letzten Lebensphase erkennen und ihnen begegnen.