1 Die Übernahme des Assoziationsproblems und der Übergang von der statischen zur genetischen Analyse

Nach der Philosophie der Arithmetik (1891), die vom psychologischen Ursprung des Zahlbegriffs handelt, vollzieht Husserl eine Abkehr von der Psychologie, indem er aus der phänomenologischen Forschung jede genetische Betrachtung ausschließt, die als Synonym von kausal-empirischer Erklärung gilt. Die Phänomenologie wird als eidetisch-beschreibende Wissenschaft gerade im Gegensatz zur Psychologie bezeichnet, die empirisch-erklärend ist. Dieser Ansatz, der in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen (1900/01) noch nicht eindeutig formuliert wird, wird in der zweiten Auflage (1913) und in den Ideen (1913) stark hervorgehoben. In etwa ab 1916 übernimmt Husserl jedoch den Gedanken der Genesis, indem er eine so tiefe Ausarbeitung seines Denkens durchführt, dass er in Bezug auf die Abscheidung statischer und genetischer Phänomenologie (die er jedenfalls nie ganz deutlich ausgesprochen hat)Footnote 1 von einem „Doppelgesicht der Phänomenologie“ spricht (Hua XV, 617).

Die Übernahme der genetischen Fragestellung fällt mit der Übernahme des empiristischen Assoziationsproblems zusammen, das aber entsubjektiviert wird. Sie stammt nämlich aus der Einsicht, dass Assoziationsgesetze apriorische Gesetze sind, die der Apperzeption zugrunde liegen, weshalb man von Genesis in einem nicht naturalistischen Sinn sprechen kann. In einem Text von 1908-09 bemerkt Husserl, dass die Sinnlichkeit in sich eine Gesetzmäßigkeit aufweisen muss, denn weder die Denkspontaneität noch der Wille können „den Inhalt des unendlichen Laufes bestimmen oder gar ein erst Ungeordnetes geordnet machen“; sie setzen vielmehr „die einheitliche Gesetzlichkeit gegebener Inhalte“ und ihrer „möglichen Änderungen“, d.h. „eine Regelmäßigkeit […] in der Koexistenz und Folge der Empfindungen“ voraus (Ms. B I 4/4b). Assoziationsgesetze werden hier noch als bloß „empirische[], Gesetze‘“ betrachtet (ebd. 22b). 1914 erkennt Husserl, dass Assoziationsgesetze „nicht auf die psychophysische Natur verweisen“, sondern „Wesensgesetze der Genesis“ sind, dass jede Apperzeption auf ihnen beruht, da sie „einen gewohnheitsmäßigen Charakter hat“, und dass also eine „Wesensgenesis“ besteht, „die gefordert ist durch die Assoziationsformen selbst“ (Hua XX/2, 185).

Der wohl erste Text, in dem der Gedanke einer phänomenologischen Genesis ausgearbeitet wird, stammt aus 1916/17 und geht von der Unterscheidung zwischen psychologischem und phänomenologischem Ursprung aus, die als Unterscheidung „zwischen genetischem Ursprung und phänomenologisch-statischem Ursprung“ umgedeutet wird (Hua XIII, 351 f. Anm. 2). Der Begriff „Ursprung“ wird aus den Fundierungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Konstitutionsstufen bestimmt: Das Fundierende ist gegenüber dem Fundierten ursprünglich, insofern es dessen notwendige (wenngleich nicht ausreichende) Bedingung bildet und ohne es bestehen kann. Die Konstitution der noematischen Erscheinungen weist nämlich eine Schichtung auf, vermöge deren jede Einheit sich aus einer niederstufigen Mannigfaltigkeit konstituiert, aber wieder als Mannigfaltigkeit fungiert für die Konstitution höherstufiger Einheiten. Um die Konstitution der Apperzeptionsweisen aufzuklären, muss man also „den Aufbau der Wahrnehmung […] von der untersten Stufe hinauf“ erforschen, indem man zwischen dem „Übergang von Schichte zu Schichte“ und dem Übergang von einer noematischen Erscheinung zur anderen „innerhalb einer und derselben Schichte“ unterscheidet (ebd. 351). Da der Wahrnehmungssinn jeder Ablaufsphase aus dem der vorangegangenen Phase entsteht, findet in der Wahrnehmung nicht eine bloße Folge statt, sondern „ein eigentlicheres Entstehen des Späteren aus dem Früheren, nämlich des Gehaltes des Späteren aus dem des Früheren“ (ebd. 349 Anm. 3). Die Genesis der Apperzeption ist demgemäß auf die Motivationszusammenhänge zurückzuführen, die in der Koexistenz und Sukzession der Erscheinungen vorliegen und in der Ähnlichkeit gründen: Da Ähnliches in analogen Umständen gegeben war, setze ich Ähnliches als kommend oder mitgegenwärtig. Es geht dabei um einen „ursprünglichere[n] Vernunftakt“, denn die „ursprüngliche Form der Motivation“, in der Ähnliches an Ähnliches erinnert und dessen Setzung motiviert, ist „eine ursprüngliche Vernunftform“, und die Erwartung hat einen vernünftigen Grund in der vorangegangenen Erfahrung, insofern man etwas erwarten kann nur durch eine „analogische Auffassung, die den Grund des propter zurückführt auf ein post“:

Erwartungszusammenhänge […] haben ihre Genesis in Erfahrungszusammenhängen. […] Diese Genesis ist keine kausale im naturwissenschaftlichen Sinn. Sie sagt nur, gegenwärtiges Bewusstsein jeder apperzeptiven Form fordert vergangenes Bewusstsein korrelativer Form. […] Die apriorische Gesetzmäßigkeit der Genesis, der Rückweisung jeder gegenwärtigen Erfahrungsmotivation auf vergangenes Bewusstsein, auf das es als Seinsursprung bezogen ist, hängt zusammen mit Vernunft. […] Das frühere Bewusstsein motiviert Möglichkeiten des späteren, a priori, derart, dass späteres Bewusstsein […] in seiner Faktizität durch entsprechendes früheres notwendig motiviert ist. […] Den „genetischen“ Ursprung aufklären, das ist auch die Vernunft der gegebenen Setzung aufklären, das genetisch Begründende ist auch vernünftig begründend (ebd. 356 f.).

Wie Husserl später erläutert, ist also der Bewusstseinsstrom „nicht ein bloßes Nacheinander, sondern Auseinander, ein Werden nach Gesetzen notwendiger Folge“, in dem Apperzeptionen auseinander erwachsen (Hua XI, 339). Das „Gesetz der Genesis“ lautet demnach: „Das kommende ist […] nicht nur kommend, sondern notwendig erfolgend nach einsichtigem Gesetz notwendiger Folge“ (ebd. 345). Falsch ist deshalb Humes These, dass der Geist nichts anderes ist als eine Ansammlung oder ein Bündel aufeinander folgender Wahrnehmungen. Obwohl aber Humes Lehre der Assoziation als einer bloß empirisch-psychologischen Gesetzlichkeit widersinnig ist, enthält sie „große Vorentdeckungen“ und die Aufgabe der Phänomenologie der Assoziation ist ihre „Rehabilitation, mit dem Nachweis der apriorischen Genesis, aus der für eine Seele eine reale Raumwelt in habitueller Geltung sich konstituiert“ (Hua IX, 286). Da die Bildung der Apperzeptionen auf den Wesensgesetzen der Assoziation beruht (Hua XVII, 320), ist diese das „universale Prinzip der passiven Genesis“ (Hua I, 113). Assoziationsgesetze bilden den „Zement des Universums“, wie Hume am Ende des Abstract schreibt, insofern die Umwelt „ein assoziativer […] Zusammenhang“ ist (Hua XXXIX, 9) und Welterfahrung „eine universale Synthesis der Assoziation“ ist (ebd. 462).

Wie Hume gezeigt hat, ist die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung eine Gesetzmäßigkeit der Erwartung, weil der in der vergangenen Erfahrung gegründete Vorgriff durch die gegenwärtige Erfahrung hindurchgeht. Was für einen Rechtsgrund haben jedoch die allgemeinen Erfahrungsurteile, wenn uns die Erfahrung eine endliche Zahl von Fällen liefert, also höchstens verbürgen kann, dass es bisher immer so war (d.h. dass unter gewissen Umständen immer gewisse Ereignisse geschahen), aber keineswegs, dass es immer so sein wird? Bereits in den Vorlesungen von 1902/03 bemerkt Husserl, dass das Gewicht des Glaubens unter apriorischen Gesetzen steht, die Hume gesehen, aber psychologisch missverstanden hat. Denn dabei „ist gar keine Rede von dem Geiste des Menschen und von den Wirkungen, die er auf Grund der empirisch-psychologischen Gesetzmäßigkeiten erfährt“ (Hua Mat III, 221), weil „die auf Erfahrung sich gründenden Vermutungen unter Prinzipien stehen, die selbst den Charakter von Relationen zwischen Ideen haben“ (ebd. 219). So wird es möglich, das empiristische Problem der Genesis aus eidetischer Sicht zu übernehmen. Das Erfahrungsgewicht einer empirischen Aussage ist umso größer, je umfassender der Erfahrungszusammenhang ist, in den sich die betreffende Einzelerfahrung widerspruchslos einordnet, und je größer die Zahl der früher erfahrenen Fälle ist (ebd. 212, 220). Die Rechtskraft der Erwartung wächst daher mit der Gewohnheit (Hua XI, 188 ff.). Treten unter gleichen Umständen stets gewisse ähnliche Tatsachen auf, dann konstituiert sich die Erwartung, dass es überhaupt so sei. Solche Erwartung kann zwar enttäuscht werden, aber „solange die aktuelle Erfahrung ihren induktiven Stil bewahrt, solange sind die allgemeinen Gewissheiten über unsere Willkür hinausliegende und uns rechtmäßig bestimmende“ (Hua XXXII, 261 f.).

Die Wahrnehmung oder Gegenstandsauffassung hat ihre „Ursprünge aus einer Genesis, aus einer ursprünglichen Bildung assoziativer Antizipation“ (Hua XIII, 358). Denn „Ähnliches erinnert an Ähnliches, aber lässt auch Ähnliches erwarten, wie in der Sukzession, so in der Koexistenz“ (Hua XI, 185). Da die Vergangenheit sich in die Zukunft projiziert, wirkt die Erwartung apperzeptiv, indem sie den Wahrnehmungshorizonten inhaltliche Bestimmtheit verleiht. Insofern die Deckung des Ähnlichen mit Ähnlichen, welche in aller Apperzeption und apperzeptiven Genesis die bestimmende Rolle spielt (Hua XXXIX, 419), in passiver Weise stattfindet, ist alles Wahrgenommene vor der begrifflichen Auffassung typisch apperzipiert. „[D]er Stil sozusagen des ,Kommenden‘ ist durch das soeben Vergangene vorgezeichnet. […] Es ist ein Urgesetz eben, dass jeder retentionale Verlauf – in reiner Passivität, ohne Mitbeteiligung des aktiven Ich – alsbald und stetig Erwartungsintentionen motiviert und damit erzeugt, die im Sinne der Stilähnlichkeit bestimmt sind“ (Hua XI, 323). Deshalb fungiert das wahrgenommene Objektfeld als „Abschlagszahlung für ein rechtmäßig induziertes Zukunftsfeld“ (Hua XXXII, 144) und der Horizont ist „die wesensmäßig zu jeder Erfahrung gehörige und von ihr unabtrennbare Induktion“ (Hua XXXIX, 137).

In jeder Erfahrung liegt also eine unmittelbare Induktion, d.h. ein passiver Vorgriff des Mitgegenwärtigen und des Kommenden. Denn die assoziative Antizipation des Nichtgegebenen aus dem Gegebenen gehört von vornherein zum Aufbau jeder schlichten Wahrnehmung, die in einem „Prozess ursprünglicher Induktion“ besteht und eine „assoziative Ähnlichkeitsstruktur“ besitzt, weshalb die Einheit der Wahrnehmungsapperzeption die „Einheit der Gesamtinduktion in der Einheit eines konsequent einstimmigen Erfüllungsganges“ ist (Hua XXXII, 140 f.). Demzufolge ist jede Wahrnehmung „eine Erbschaft vorübergehenden erfahrenden Lebens“ und jede Objektivität ist „induktiv konstituiert […] durch eine beständige intentionale Vererbung“ (ebd. 144 f.).

Jede Weise der Apperzeption konstituiert durch Induktion und Verflechtungen von Induktionen; und der Typik der Konstitutionen Nachgehen ist: genetisch dem Geltungsaufbau für uns seiender Welt Nachgehen, der Typik ihres Aufbaus von für uns seienden realen Gegenständen mit realen Eigenschaften, realen Relationen, realen Konfigurationen, und schließlich der Welt in ihren universalen Formen, Formen aller Konfiguration der Simultaneität und Sukzession (Hua XXXIX, 415).

Die Induktion setzt nun die Regelmäßigkeit der Erfahrung voraus: Läge in der Koexistenz und Sukzession der Erscheinungen keine Gesetzmäßigkeit, könnte sich kein Vorgriff, keine Assoziation, keine Habitualität, keine Apperzeption und damit keine Welt konstituieren. Die Weltvernichtung oder Auflösung der Welt in ein Gewühl von Erscheinungen heißt nämlich nichts anderes als die Auflösung des sachlichen Grundes der Erwartung (Hua VIII, 48 f.). Gewohnheit ist daher, wie Hume zu Recht meint, „die Urquelle aller objektiven Sinngebung“, aber nicht, wie er zu Unrecht meint, ein „,Mechanismus‘ blinder Assoziation“ (Hua XXXII, 146). Denn die Konstitution von Gewohnheiten ist daran gebunden, dass der Erscheinungsverlauf die Erwartung gestattet. Nicht die Gewohnheit erzeugt also die Gesetzmäßigkeit, sondern es ist im Gegenteil die Gesetzmäßigkeit, die die Gewohnheit ermöglicht. Die letzten Prinzipien aller Induktionen sind nicht selbst wieder durch Induktionen zu begründen (Hua VII, 172). Um die Induktion zuzulassen, muss Erfahrung homogen sein, d.h. die Folge der Erscheinungen muss einer Regel unterstehen, nach der die künftigen Erscheinungen von den vergangenen vorgezeichnet werden (Hua XXXII, 60 ff., 212, 249 f.).

Prinzip der Assoziation ist demgemäß nicht Sukzession, sondern affiner Zusammenhang von Inhalten (Hua XI, 153).Footnote 2 Assoziative Verbindungen unterstehen „sachlichen Bedingungen“ (ebd. 165), denn sie beruhen auf Ähnlichkeitsverhältnissen (ebd. 185, 285, 399; Hua Mat VIII, 296) und diese sind „wesensgesetzliche Zusammenhänge“ (Hua XI, 400), d.h. „Ideenrelationen […], weil sie rein in den ,Inhalten‘ der Vorstellungen fundiert sind“ (EU, 215). Da also assoziative Synthesen in der Eigenart vorgegebener Inhalte gründen und aus „,völlig ichlosen‘ sinnlichen Tendenzen“ stammen (Hua XXXIII, 276), kommen sie nicht durch Ichakte, sondern unabhängig vom Eingreifen des Subjekts zustande. Wo homogene Inhalte gegeben sind, da ist auch ihr assoziativer Zusammenhang gegeben (Hua XV, 26). Die phänomenologische Assoziationstheorie beruht demgemäß auf dem schon in der Philosophie der Arithmetik formulierten Gedanken einer Verbindung, die nicht von einer synthetischen Tätigkeit geschaffen wird, sondern aus den Inhalten selbst entspringt. Deshalb bezeichnet Husserl die passive Konstitution als ein „sachliches Geschehen“ und als etwas, das sich „von selbst“ macht.Footnote 3

Bedingung der Konstitution einer objektiven Welt ist, wie Hume und Kant einsahen, dass der faktische Erscheinungsverlauf eine Gesetzmäßigkeit aufweist, die die Bildung von Habitualitäten und Apperzeptionen ermöglicht. Anders als sie meinen, wird aber solche Gesetzmäßigkeit nicht von uns gestiftet und in die Erscheinungen hineingelegt.Footnote 4 Sie liegt ja nicht nur der Konstitution des Objekts, sondern auch des Subjekts zugrunde. Die Ichkonstitution ist nämlich auf die Gegenstandskonstitution angewiesen, denn das Ich hat „Einheit durch die Welt, wenn sie Titel für ein Reich der Wahrheiten an sich ist“ (Ms. A VI 30/38b). „Ohne Objekt bin ich nicht Ich“ (ebd. 54a). Wenn nämlich die Dinge und ihre Bestimmungen gesetzlos wechselten, könnten für mich wahre Objekte nicht bestehen und ich wäre kein identisches Subjekt meiner Akte, sondern „ein ,vielfärbiges‘ Selbst“, d.h. ein Ich-Pol, der „keinen personalen habituellen Sinn hat“ und „weltlos“ ist (ebd. 52b). Bedingung der Konstitution des personalen Ich ist, dass eine einstimmig bestimmbare „Objektwelt für mich beständig erhalten bleibt“ (ebd. 54b) bzw. eine „Natur an sich“ besteht (ebd. 49a).

2 Statische und genetische Phänomenologie

Die statische Phänomenologie verfolgt die Korrelation zwischen Einheit des erscheinenden Gegenstandes und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, indem sie die Typik der Zusammenhänge im Bewusstsein irgendeiner Entwicklungsstufe sowie die Strukturverhältnisse zwischen den verschiedenen Stufen beschreibt. Sie ist „die Phänomenologie der Leitfäden“, da sie die gegenständlichen Regionen als Leitfäden verwendet (Hua XIV, 41; Hua XI, 344; Hua XV, 616 f.). So kann man die „vorausgesetzten festen regionalen Gestalten“ herausstellen (Hua XXXV, 408) und „die allgemeinsten Formtypen unterscheiden, ohne die kein Bewusstsein überhaupt möglich ist und keine ichliche Subjektivität überhaupt“ (ebd. 409 f.). Gegenstands- und Apperzeptionsarten werden als schon fertig genommen, indem man eine Schichtung nach der „Geltungsfundierung“ bzw. nach dem Fundierungsverhältnis der höheren Schichten auf den niederen klarlegt. „Das Fundierende muss in der fertigen Welt erfahren sein, damit das Fundierte erfahren werden kann“ (Hua XV, 616), aber nicht umgekehrt, denn „[d]ie untersten Stufen wären bewusstseinsmäßig möglich, wenn die oberen fehlten“ (Hua XIII, 354). Ein derartiger Zusammenhang besteht etwa zwischen der Konstitution des Phantoms und der des Dings. „Aber ,voraussetzen‘ ist nicht ,entspringen‘!“ (Hua XV, 616 Anm. 1). Da das Fundierte das Fundierende voraussetzt, ohne aus ihm zu entspringen, ist dabei „die Genesis des höheren Seinssinnes“, d.h. des Bedingten aus dem Bedingenden nicht in Frage (ebd. 615; Hua XIV, 41).

Dagegen betrifft die genetische Phänomenologie die „Genesis der Konstitution“ (Hua XIV, 41) oder „Konstitution dieser Konstitution“, die nichts anderes ist als die „Genesis der Habitualität und habituellen Apperzeptionsart“ (Hua XXXV, 407). Es geht dabei nicht um die gestufte Struktur der Apperzeption, sondern um deren Bildung oderUrsprung“ (Hua XXXIX, 3), nämlich um die Weise, „wie […] Phänomene entspringen“ (Hua XIV, 40). Die Aufgabe ist also, „jedes gegebene Gebilde seinem Ursprung nach aufzuklären“ (Hua XI, 339) und die „Urstiftung der gegenständlichen Typen bzw. Apperzeptionstypen“ herauszufassen (Hua XXXIX, 3 Anm. 1), indem man dem passiven Untergrund der Apperzeptionsakte nachgeht.

Welton bemerkt, dass in der genetischen Analyse die unteren Stufen und der Wahrnehmungshintergrund nicht – wie in der statischen Analyse – als bloße Voraussetzungen oder Bedingungen, sondern als Motivationsquellen der Apperzeptionsakte gelten, weshalb der Fundierungszusammenhang zu einem Motivationszusammenhang wird und die formale Analyse der notwendigen Folge durch eine inhaltliche Analyse der strukturellen Entwicklung ergänzt wird. An die Stelle des abstrakten und formalen Begriffs des Ich als identischen Pols der Erlebnisse tritt zudem der Begriff des Ich als personalen Subjekts, das eine „Geschichte“ hat, mit Vermögen sowie mit einem Leib ausgestattet ist und Habitualitäten erwirbt.Footnote 5

Während also die statische Phänomenologie „den Korrelationen zwischen konstituierendem Bewusstsein und konstituierter Gegenständlichkeit“ nachgeht, ohne die Genesis zu berücksichtigen, in der das Werden der Korrelationen aus konstitutiven Unterstufen verständlich wird (Hua XIV, 38), untersucht die genetische Phänomenologie das Entstehen der Auffassungsweisen, die zu einem bleibenden Habitus des Ich werden, indem sie dem Motivations- oder Bedingtheitszusammenhang zwischen Motiviertem und Motivierendem, Bedingtem und Bedingendem nachgeht, in dem sich Apperzeptions- bzw. Gegenstandsarten konstituieren (ebd. 41; Hua XI, 338; Hua XV, 615). Sie folgt demgemäß sowohl der „Geschichte des Objekts selbst als Objekts einer möglichen Erkenntnis“ als auch der Geschichte der „Objektivierung“ und damit der Monade als Subjekt der Apperzeption, in deren Genesis „die Geschichten der Konstitution der Objekte, die für diese Monade da sind,“ beschlossen liegen (Hua XI, 345). Durch Abbauanalyse kann man „eine Stufenfolge von Monaden, die den objektiven Stufen entspricht“ (ebd.), darbieten, und zwar eine „systematische[] Stufenlehre von Monaden, je nachdem sie höhere Entwicklung in sich vollziehen, d.i. zu höheren Konstitutionen vorschreiten oder nicht. Und jede höhere Monade ist entwickelt aus einer niederen Monade, sie war in früherer Entwicklungsstufe niedere“ (Hua XIV, 38). Da aber die Monade eine „Werdenseinheit“ oder „Einheit unaufhörlicher Genesis“ ist (ebd. 34) und in allen Phasen die „niedergeschlagene Geschichte“ früherer Phasen mit sich trägt (ebd. 36), ist „die Entwicklung der individuellen Phasen auseinander zu erklären“ (ebd. 42).

Im Gegensatz zur statischen Analyse, die von der Einheit des gemeinten Gegenstands geleitet ist, ist also die genetische Analyse auf den ganzen konkreten Zusammenhang gerichtet, in dem das Bewusstsein und sein Gegenstand jeweils stehen, und macht die „zeitliche Genesis“ oder „Geschichte“ der Erfahrung zum Thema (Hua XVII, 316).Footnote 6 Mit Locke spricht Husserl von einer „Geschichte des Bewusstseins“ oder „Geschichte aller möglichen Apperzeptionen“ (Hua XI, 339), indem er aber erläutert, dass es sich um eine „notwendige Geschichte“ handelt (ebd. 345), denn sie „betrifft nicht die Aufweisung faktischer Genesis für faktische Apperzeptionen oder faktische Typen in einem faktischen Bewusstseinsstrom oder auch in dem aller faktischen Menschen“, sondern die „Wesensgenesis“, d.h. den „Modus der Genesis, in dem irgendeine Apperzeption dieses Typus in einem individuellen Bewusstseinsstrome ursprünglich entstanden sein musste“ (ebd. 339). Es geht also um eine „Genesis nach Wesensgesetzen“ (ebd.) oder „a priori notwendige[] Genesis“ (Hua XIV, 306), welche Akte und Gegenstände in specie betrifft und innerhalb von invarianten sachlichen Strukturen stattfindet. „Jedes Gesetz der Verträglichkeit in der Koexistenz schreibt auch der möglichen Genesis ein Gesetz vor“ (ebd. 40). Husserl weist hier auf die III. logische Untersuchung hin, und zwar auf das „Gesetz, dass, was innerhalb der Einheitsform auftritt, eben sich in die Einheit einpasst nach Artgesetzen und dass durch das Gesetz der Einheit das Eingepasste durch den Zusammenhang Gefordertes ist“ (ebd. 41 f.). Da also die Struktur der Apperzeption als Voraussetzung der Frage nach der Genesis selbiger fungiert, ermöglicht die statische Analyse die genetische und geht ihr voran (ebd. 481; Hua XXXV, 408; Hua XVII, 257; Hua XXXIX, 120).

Angesichts dessen, dass die Fundierung „eine umgekehrte Motivation“ ist (Hua XV, 615), kann der Unterschied zwischen statischer und genetischer Phänomenologie in folgender Weise veranschaulicht werden. In der statischen Phänomenologie sind die oberen Schichten auf den unteren fundiert und setzen also deren Konstitution voraus: Die Konstitutionsschichten sind durch einen Fundierungszusammenhang verbunden, weshalb es um eine Stufenbildung geht. In der genetischen Phänomenologie motivieren oder bedingen die unteren Schichten die Konstitution der oberen, die aus jenen entspringen: Die Konstitutionsschichten sind durch einen Motivationszusammenhang verbunden, weshalb es um ein Auseinander geht.Footnote 7

Husserl unterscheidet drei Stufen der Gegenstandskonstitution. Die unterste bildet die Passivität oder „ursprüngliche Sensualität“ (Zeitlichkeit und Assoziation), die durch „Abstraktion von […] allem Ichlichen“ gewonnen wird und bereits „eine apriorisch notwendige Struktur“ aufweist (Hua XXXIII, 275). Dabei konstituieren sich sinnliche Vorgegebenheiten, die als Voraussetzung ichlicher Leistungen fungieren. Die zweite Stufe ist die Rezeptivität, die in der aufmerkenden und erfassenden Zuwendung zum passiv Konstituierten besteht. Die letzte Stufe ist die Aktivität oder Spontaneität, d.h. der intellectus agens. Es geht um die Leistungen, die aus dem Ich stammen und durch logische Urteilsformen kategoriale Gebilde erzeugen. Erst dabei darf man von Erkenntnis und Gegenstand im eigentlichen Sinne sprechen.

Die genetische Phänomenologie beschäftigt sich nur mit den ersten beiden Stufen. Husserl unterscheidet nämlich zwischen aktiver Genesis von Akten aus Akten und passiver Genesis von Akten aus Affektionen, indem er sagt, Akte seien in jener durch andere Akte bestimmt, in dieser hingegen „motiviert durch Affektionen“ (Hua XI, 342), wobei „Affektion“ im „Sinn des Reiz übenden Gegenständlichen, z.B. <des> sinnlich gegebenen Dings“ (Hua XLII, 170) zu verstehen ist. Erst die passive Genesis ist Gegenstand der genetischen Analyse, da die aktive Genesis – wie das zu deren Veranschaulichung verwendete Beispiel vom Hervorgehen des Schlussurteils aus den Prämissenurteilen nachweist – zur Noetik gehört. Die genetische Phänomenologie betrifft daher nicht die intellektuelle Genesis kategorialer Akte, sondern die passive Genesis sinnlicher Akte (Hua IX, 286), also die Motivations- oder Bedingtheitszusammenhänge zwischen Erscheinungsinhalten und Apperzeptionsakten. Sie erforscht nämlich, „wie Bewusstsein aus Bewusstsein in passiver Motivation hervorgeht“ (Hua XIV, 53), und zwar das Entstehen von Akten aus sinnlichen Inhalten sowie die Konstitution solcher Inhalte. Die in den 1920er Jahren ausgearbeitete genetische Logik gehört demzufolge eigentlich nicht zur genetischen Phänomenologie.Footnote 8

Der sinnliche Akt stammt aus einer Affektion, die eben als Weckung einer auf den Gegenstand gerichteten Intention (Hua XI, 151) und damit als Voraussetzung der Zuwendung gilt (Hua XXXI, 4). Denn die aus dem Vorgegebenen hervorgehende Tendenz geht der vom Ich ausgehenden Intention voran: Letztere wird vom sinnlichen Inhalt bedingt, weil sie sich auf eine Abgehobenheit richtet, die eine Affektion ausübt und dadurch das Zuwenden des Ich motiviert (Hua XI, 84 f.; Hua IX, 131, 209; Hua XXXVII, 332). „Das ergibt den prägnantesten, den normalen Begriff von Meinung, näher von doxischer, Seinsmeinung“ (Hua XI, 84). Der Ursprung der Intention liegt also nicht in der subjektiven Beseelung oder Auffassung immanenter und formloser Inhalte, sondern in der nach sachlichen Wesensgesetzen stattfindenden Abhebung sinnlicher Inhalte im Wahrnehmungsfeld, die das Gerichtetsein des Ich motiviert. Der Akt stellt gerade eine „Antwort“ des Ich auf einen affizierenden Reiz dar (Hua Mat VIII, 184, 189, 191, 323, 326, 351; Hua XLII, 28, 34, 35) und setzt passiv konstituierte Einheiten voraus, von denen die Affektion ausgeht (Hua Mat VIII, 38, 46, 47, 183; Hua XXXVII, 287). „Affektion im besonderen Sinn ist für ein in Sonderheit Abgehobenes, Differierendes, Gewecktsein, wodurch es für das Ich in Sonderheit ist“ (Hua XLII, 28). Sie setzt also inhaltliche Abhebung voraus (Hua XI, 149; Hua Mat VIII, 351) und ist auf die „voraffektive Gesetzmäßigkeit der Einheitsbildung“ angewiesen (Hua XI, 154), die in der „voraffektive[n] Eigenart der Elemente“ (ebd. 165) gründet. Ihr Zustandekommen ist nämlich an die Homogenität und den Kontrast sinnlicher Inhalte gebunden (ebd. 151, 164, 179).Footnote 9 „Was ,sachlich‘ sozusagen ohne Ichbeteiligung eins ist […], das übt auch eine Affektion“ (Hua Mat VIII, 195). Insofern Ichakte durch Affektionen motiviert sind und Affektionen aufgrund der Homogenität der Inhalte zustande kommen, bilden die Gesetzmäßigkeiten von Ähnlichkeit und Kontrast die „Bedingungen der Möglichkeit von Intention und von Affektion“ (Hua XI, 285). Das Feld passiver Vorgegebenheiten ist also, „bevor ichliche Aktivität daran noch irgendwelche sinngebenden Leistungen geübt hat“, kein „,Gewühl‘ von ,Daten‘, sondern ein Feld von bestimmter Struktur, von Abgehobenheiten und gegliederten Einzelheiten“ (EU, 75). Solche vorgegebenen Gliederungen sinnlicher Erfahrung stellen die sachliche Möglichkeitsbedingung intentionaler Akte dar.

Da sinnliche Erfahrung als passive Vorgegebenheit die Voraussetzung jeder praktischen und theoretischen Tätigkeit bildet, ist ihr Vorrang (der in § 7 und 12 von Erfahrung und Urteil erläutert wird) keineswegs ein intellektualistischer Vorrang der theoretisch-erkenntnismäßigen Einstellung. „Im Erfahren […] lerne ich zwar die Welt als wirkliche und mögliche kennen, aber ich erkenne nichts“ (Ms. A VII 14/4a).

Sinnliche Vorgegebenheit ist auch Voraussetzung der Gefühls- und Interessephänomene. Obwohl Inhalte stimmungs- und gefühlsmäßig gegeben sind, bilden nämlich Lustcharakter und Interesse nicht den Grund der Wahrnehmung: Um das Subjekt anzuziehen oder abzustoßen, einen Lust- oder Unlustreiz auf es auszuüben und sein Interesse zu erwecken, müssen die Inhalte irgendwie wahrnehmbar bzw. merklich sein, und sie sind es nicht wieder durch Gefühle oder Interessen, sondern durch sachliche Wesensverhältnisse. Husserl spricht gerade vom „Begehren auf das Hyletische hin, auf Abgehobenes, Einheitliches bzw. von ihm weg“ (Hua Mat VIII, 319) und sagt, dass die affektive Kraft nicht nur von der Größe der Abhebung abhängt, sondern „auch […] vom Interesse des Ich, das es an seinem jeweiligen aktuellen Thema nimmt und das von da ausstrahlt, den Abhebungen Kraft erteilend, ihre schon gewonnene Interessenkraft erhöhend“ (Hua XLII, 43). Das, „was jeweils interessant werden kann“, ist also „schon konstituiert, ja eventuell affektiv“ (ebd.). Abhebung ist demnach die Bedingung des Begehrens und des Interesses.

Dass die affektive Kraft auch von subjektiven Faktoren abhängen kann, ändert am Übergewicht der sachlichen Faktoren nichts. Affektionen bzw. sinnliche Reize im Sinn der Abgehobenheiten „stehen in einem Kampf ums Dasein“ (ebd. 34), aber es gibt Kontraste, die so stark sind und so stark wirkende Abhebungen machen, „dass sie sozusagen alle konkurrierenden Kontraste übertönen“:

Z.B. einzelne farbige Figuren, sich wohl abhebend, affizieren uns, zugleich Geräusche, wie Wagenrollen, Töne eines Liedes, abgehobene Gerüche u. dgl. Dies alles zugleich, wobei das Lied insofern siegt, als wir ihm allein im Zuhören zugewendet sind. Aber das übrige reizt doch. Wenn aber ein gewaltiger Krach hereinbricht, wie von einer Explosion, so löscht er nicht nur die affektiven Besonderheiten des Gehörfeldes aus, sondern auch die aller anderen Felder. Was sonst uns sprach, wie wenig wir ihm zuhörten, das kann nicht mehr zu uns dringen (Hua XI, 149 f.).

3 Die Frage nach dem konstruktiven Charakter der genetischen Phänomenologie

Die Ansicht, dass mit der Ausarbeitung der genetischen Phänomenologie Husserl von der Beschreibung zur Konstruktion übergeht, hat schon Fink in der These 25 seiner 1940 abgefassten Elemente einer Husserl-Kritik vertreten: „Husserls Proklamation der Instanz des Gegebenen wird zurückgenommen in der Konzeption einer ,genetischen Phänomenologie‘, die außerordentlich stark mit Konstruktionen arbeitet“.

Auch Kern zufolge ist die genetische Phänomenologie durch ein konstruktives Moment ausgezeichnet, weil die genetisch ursprünglichen Sinne nicht anschaulich erfassbar sind und Husserl selbst in Bezug auf die untersten Konstitutionsstufen den Natorpschen Terminus der Rekonstruktion verwendet.Footnote 10

Mertens meint, dass mit der Behandlung der Bewusstseinsgenesis die Konstruktion in die Phänomenologie einbezogen wird und deren Selbstcharakterisierung als deskriptive Wissenschaft brüchig wird.Footnote 11 Denn die Struktur des passiv urströmenden Bewusstseins ist ihrer Thematisierung nicht als fertig und anschaulich erfassbar vorgegeben. Sie wird vielmehr eingeführt als dasjenige, auf das ein Sinngebilde zurückgeführt werden soll, um den fertigen Sinn als Resultat des genetischen Konstitutionsprozesses verstehen zu können. Da also das Gelingen der Konstruktion des genetischen Konstitutionsprozesses davon abhängt, „ob und inwieweit sie die in ihrem faktischen Gebrauch explizierten Sinngebilde verständlich macht“,Footnote 12 besteht die Bewährung der Konstruktion bloß in ihrer Erklärungsleistung und ist erst am Erfolg zu messen. Was anschaulich zu erfüllen ist, ist demgemäß nicht die Wahrheit, sondern die erklärende Nützlichkeit der Konstruktion.

Crowell bemerkt zu Recht, dass Husserls Behauptungen über die metaphysischen Probleme wie die Teleologie, Gott und den Sinn der Geschichte nicht phänomenologisch begründet sind, da sie auf Voraussetzungen beruhen, die über das anschaulich Gegebene hinausreichen; er lässt jedoch irrigerweise die Behandlung solcher Probleme und die davon herrührende Preisgabe der phänomenologischen Methode zugunsten der Konstruktionen mit der genetischen Phänomenologie zusammenfallen,Footnote 13 während beide früher vorkommen, und zwar in Manuskripten und Vorlesungen aus den Jahren 1908–1911 (Hua XLII, 137–168; Hua XXX, 300–311; Hua XXVIII, 170–185, 225–230).

Die These des prinzipiell konstruktiven Charakters der genetischen Phänomenologie finde ich abwegig. Dass Husserl die genetische Phänomenologie als erklärend bezeichnet, im Gegensatz zur statischen, die bloß beschreibend ist (Hua XI, 340), darf nicht beirren. Denn dabei geht es um die Weise, „wie Bewusstsein aus Bewusstsein wird“ (Hua XIV, 41), d.h. um eine motivationale Erklärung von Phänomenen durch ursprünglichere Phänomene, die keine theoretische Konstruktion ist, sondern einen anschaulichen Gehalt hat. Die niederen Konstitutionsstufen sind nämlich „jederzeit bereit für entsprechende Blickrichtungen und Nachweisungen“ (Hua XI, 218).

Insofern aber die „Urtümlichkeit des ,Anfangs‘ der konstitutiven Genesis“ (Hua Mat VIII, 279) oder „Urstiftung der Weltapperzeption“ (Hua XXXIX, 492) in der nicht mehr zu erinnernden Vergangenheit des Bewusstseinslebens liegt, erfordert ihre Aufklärung eine Rekonstruktion.Footnote 14 Husserl hebt diesbezüglich die Schwierigkeit hervor, dem Problem der Urmaterialien methodisch beizukommen, d.h. „zu wirklicher auf- und nachweisender Analyse zu kommen“ (ebd. 476), und stellt die Frage „nach der Methode der indirekten Konstruktion, aber doch Rekonstruktion eines Reiches unerfahrbarer Konstitution“, wobei es sich allerdings „um die Unerfahrbarkeit von wirklich einst Erfahrenem […] handelt“ (ebd. 480). Denn dabei geht es zwar nicht um Erfahrungen im eigentlichen Sinn, da sie nicht auf Seiendes gerichtet sind; aber das Operieren mit ihnen hat sein Recht, insofern sie „in jeder Stufe der Konstitution […] aufweisbar sind und eingesehen werden können als wesensmäßig zugehörig zu einem Ego überhaupt in allen erdenklichen Abwandlungen“ (ebd. 481). Da nämlich die Urstiftung der Weltapperzeption erst durch Abbau und Variation zugänglich ist, wird ihre Rekonstruktion in eidetischer Einstellung durchgeführt (ebd. 475, 492). Husserl bezeichnet die Sphäre des latenten Seins als „eine solche der Rekonstruktion“, denn es ist kein Verhülltes, das enthüllbar ist und ein erfahrbares An-sich hat, es hat vielmehr Sinn und Sein nur von dem patenten Sein her, d.h. es ist, was es ist, als intentionale Modifikation von jenem. Er fügt allerdings hinzu: „Aber es gibt Rekonstruktion von solchem, was Bewusstsein, was in gewisser Weise Erfahrung ist, von einer erfahrenden Subjektivität, die doch nicht aktiv erfahrende ist in einer Weise, die eine wirkliche Kommunikation und Seinsausweisung ermöglicht“ (Hua XV, 608).

Sowohl die Tatsache, dass Husserl – um die Notwendigkeit der Rekonstruktion aufzuzeigen – auf die Grenze der Erinnerung hinweist (Hua XXXIX, 479 ff.), die eine frühere Wahrnehmung voraussetzt, als auch der im Entwurf seines Briefes an Gerda Walther von Mai 1920 behauptete Parallelismus zwischen genetischer Analyse und Archäologie bestätigen, dass es um die Rekonstruktion von etwas geht, das erfahren wurde, obwohl es nicht mehr erfahrbar ist. Was zu rekonstruieren ist, sind also wirklich vollzogene (wenngleich total vergessene) Erfahrungen, oder genauer deren „Wesenszusammenhänge“ (ebd. 475), d.h. deren „Wesensform“ (ebd.) oder „notwendige Struktur“ (ebd. 468). Wie Lee gegen Kern bemerkt, ist also Husserls rekonstruktive Methode kein „regressives Verfahren in den rationalistischen Rekonstruktionen“ (Hua VII, 188), da sie nicht in einem „Rückschluss“ vom gegenständlich Vorgegebenen auf seine subjektiven Bedingungen besteht, wie das bei Natorp der Fall ist, sondern in einer vergegenwärtigenden Erfahrung.Footnote 15 Die phänomenologische Rekonstruktion besteht im Prinzip nicht im Ansetzen eines Bestandes, der jedes deskriptiven Gehalts entbehrt, sondern im Wiederherstellen einer Gegebenheit, d.h. eines prinzipiell Erfahrbaren und faktisch Erfahrenen.

Husserl widerspricht zwar öfters diesem Ansatz in seinen genetischen Analysen, aber nicht mehr als er vor der genetischen Wende dem beschreibenden Ansatz widersprach. Konstruktiv-erklärende Elemente, die dem phänomenologischen Deskriptivismus widerstreiten, liegen nämlich sowohl in der genetischen als auch in der statischen Phänomenologie. Als Grundlage der Konstitution gelten ja in letzterer formlose und immanente Inhalte, die keinen deskriptiven Gehalt aufweisen und regressiv angesetzte Konstrukte sind.Footnote 16 Dieses idealistische Konstitutionsmodell wird gerade in der genetischen Analyse tatsächlich überwunden.

4 Genetische Phänomenologie und Idealismus

Kern zufolge liegt Husserls Idealismus bereits in der statischen Phänomenologie, die die Welt als relativ zur Subjektivität betrachtet, aber man kann nur innerhalb der genetischen Phänomenologie von einer Produktion der Gegenstände sprechen und diese als Gebilde subjektiver Leistungen ansehen.Footnote 17 Ähnlich behauptet Lee, es sei „in der statischen Phänomenologie zwar möglich, die notwendige Korrelation von Ich und Welt aufzuweisen, aber nicht den schöpferischen Charakter des transzendentalen Lebens in der Konstitution der Welt“, der erst durch eine genetische Betrachtung zum Vorschein kommt.Footnote 18

Diese Ansicht ist m. E. verkehrt, weil die Konstitution sowohl vom genetischen als auch vom statischen Standpunkt aus als eine Schöpfung gilt, wenn sie nicht an sachliche Inhalte gebunden ist. Der Kern von Husserls Idealismus liegt gerade in der Ansetzung von immanenten und formlosen Inhalten als Urbeständen der Konstitution. Denn ihm selbst zufolge besteht der Idealismus eigentlich nicht in der These der notwendigen Korrelation von Gegenstand und Bewusstsein, sondern in der Reduktion auf das absolute Bewusstsein (Hua XXXVI, 138) bzw. in der Auflösung der Welt in Erlebnisse, wie er sich durch Übernahme von Windelbands Definition ausdrückt.Footnote 19 Merkwürdig ist hierbei zweierlei. (1.) Solche Auflösung charakterisiert zugleich den psychologischen oder subjektiven Idealismus (Hua VII, 246 f.; Hua I, 118), ja den Psychologismus, der sich eben dadurch auszeichnet, dass die Gegenstandsarten „psychologisiert werden, weil sie sich, wie selbstverständlich, bewusstseinsmäßig konstituieren“, d.h. dass „ihr gegenständlicher Sinn, ihr Sinn als eine Art von Gegenständen eigentümlichen Wesens negiert [wird] zugunsten der subjektiven Erlebnisse“ (Hua XVII, 177 f.). (2.) Bereits in den Logischen Untersuchungen wird angenommen, dass der Phänomenalismus Recht hat, d.h. „dass die objektiven Gründe aller Rede von physischen Dingen und Ereignissen in bloßen gesetzmäßigen Korrelationen […] zwischen den psychischen Erlebnissen“ liegen (Hua XIX, 371).

Trotz seiner Zurückweisung von Brentanos Auffassung der sinnlichen Gegebenheiten als Anzeigen des Wirklichen hält Husserl das Erlebte für das eigentlich Gegebene.Footnote 20 Dies führt ihn zur Anwendung des Schemas Inhalt/Auffassung auf die Wahrnehmung: Der sinnliche Gegenstand stammt aus einer Auffassung oder Deutung formloser Empfindungsinhalte, die als bewusstseinsimmanent eigentlich gegenwärtig sind, aber zu Erscheinungen eines Gegenstandes erst durch Akte von Apperzeption oder Sinngebung werden.

Diesem Ansatz – der „das Rückgrat […] des transzendentalphänomenologischen Idealismus“ bildetFootnote 21 und vor der Ausarbeitung der genetischen Phänomenologie formuliert wird – liegt eine Intellektualisierung der Sinnlichkeit, und zwar eine Übertragung der Konstitutionsweise von den auf sinnlichen Gegenständen fundierten Gegenständen auf die sinnlichen Gegenstände selbst zugrunde.Footnote 22 Die Bedeutungsintention gilt nämlich als Muster aller Arten von Intentionalität, sodass die Ausdrücke die „allergünstigsten Beispiele“ liefern, um die Wahrnehmung zu veranschaulichen (ebd. 398). Zwischen roher und beseelter Empfindung besteht dasselbe Verhältnis wie zwischen bloßem und sinnbelebtem Wortzeichen. Denn selbst im ersten Fall liegt der Unterschied bloß im Auffassungsakt, der den Empfindungen einen Sinn verleiht, indem er sie durchgeistigt und so bewirkt, dass wir ein Gegenständliches wahrnehmen (ebd. 399, 559). Als formlos kann nämlich jeder Empfindungsinhalt in jeder Weise aufgefasst werden und jeden Gegenstand repräsentieren (ebd. 394 ff., 455 ff.; Hua XVI, 48; Hua III, 230; Hua IX, 165). Da also die Wahrnehmungsintention – genau so wie die Bedeutungsintention – in der Beseelung eines toten Stoffes besteht (Hua XVI, 46) und „jedes Auffassen […] ein Verstehen oder ein Deuten ist“ (Hua XIX, 80), ist die Wahrnehmung eine Konvention: Einem „Bewusstsein vor allen Erfahrungen […] bedeuten die Empfindungen nichts, […] gelten […] nicht als Zeichen für die Eigenschaften eines Gegenstandes“, denn „sie werden schlechthin erlebt, ermangeln aber einer (aus ,Erfahrung‘ erwachsenden) objektivierenden Deutung“ (ebd.).

In Widerspruch dazu behauptet Husserl, die Empfindungen repräsentieren den Gegenstand durch Ähnlichkeit (ebd. 80 f., 623, 647, 770), indem er die Wahrnehmung als Bildauffassung statt als Zeichenauffassung versteht, aber immerhin als Repräsentation bzw. mittelbares Bewusstsein. Wenn nämlich immanente Empfindungsinhalte als „Unterlage“ (Hua XI, 17) oder „Fundamente der Auffassung“ (Hua XIX, 399) fungieren, haben sie dieselbe vermittelnde Funktion in der Wahrnehmung wie Zeichen und Bilder im Zeichen- und Bildbewusstsein, sodass der sinnliche Gegenstand auch in jener durch etwas gegeben ist, das für ihn steht. Husserl verfällt somit der Schlusstheorie der Wahrnehmung und der Verdoppelung des Gegenstandes, die er kritisiert: Raumgegenstände „konstituieren sich schon mittelbar, durch ,Apperzeption‘ von Empfindungsgegenständen“, während Empfindungsgegenstände „unmittelbar sinnliche Gegenstände“ sind und „als apperzeptive Repräsentanten für höherstufige apperzipierte Gegenstände dienen“ (Hua XXXIII, 319), weshalb sie als immanente und ursprüngliche Gegenstände gelten (Hua XXXIX, 7, 17).

Husserl behandelt die äußere Wahrnehmung als Repräsentation, denn er hält mit Brentano nur das Immanente für eigentlich gegenwärtig und nur die immanente Wahrnehmung – wobei der Inhalt im Akt reell beschlossen ist und kein „Rest von Intention“ übrig bleibt (Hua XIX, 365, 769 ff.; Hua II, 5, 44 f.) – für die eigentliche Wahrnehmung (Hua VIII, 469). Insofern also die „Selbsterkenntnis“ oder „Innerlichkeit“ die „Mutter“ oder „Urquelle aller anderen Erkenntnis“ (ebd. 5; Hua IX, 193) darstellt, gilt die transzendentale Einstellung als eine Art „Introspektion“ (Hua XV, 23), die „auf Empfindung und Auffassung“ abzielt (Hua XXXVI, 129).

In Widerspruch zu seinen Erklärungen (Hua XIX, 169; Hua II, 12, 71 ff.) versteht Husserl das Bewusstsein als eine Schachtel, die den Urstoff der Konstitution enthält, da ihm zufolge die Bestände, aus deren Auffassung die Dinge zustande kommen, dem Bewusstsein reell einwohnen. Sind nun reelle Inhalte das eigentlich Gegebene, so entspringen sinnliche Gegenstände einem Schluss aus dem Immanenten oder einer Projektion.Footnote 23 Und sind die Urbestände der Konstitution immanent und formlos, so stammen sowohl der Stoff als auch die Form des Konstituierten aus dem Bewusstsein, weshalb die Welt eine Schöpfung oder Emanation des Bewusstseins ist und sich in dieses auflöst. In den Logischen Untersuchungen heißt es geradezu, dass Sinnendinge „aus demselben Stoff konstituiert sind, den wir als Empfindungen zum Bewusstseinsinhalt rechnen“ (Hua XIX, 764).

Die Ansetzung von immanenten und formlosen Inhalten als Urstoff der Konstitution hat nun widersinnige Konsequenzen. (1.) Sind transzendente Gegenstände „durch […] äußere Erfahrung unmittelbar gegeben“ (Hua XXXVI, 178) und ist sinnliche Wahrnehmung „originales Bewusstsein eines individuellen […] Gegenstandes“ (Hua XI, 18 Anm. 1) oder gilt sie als „mittelbares Bewusstsein, sofern unmittelbar nur eine Apperzeption gehabt ist, ein Bestand von Empfindungsdaten […] und eine apperzeptive Auffassung, durch die eine darstellende Erscheinung sich konstituiert“ (ebd. 18)? Wenn Wahrnehmung sich auf ihren Gegenstand nicht mittels immanenter Inhalte bezieht, findet sie nicht nach dem Schema Inhalt/Auffassung statt. Wenn Wahrnehmung nach dem Schema stattfindet, ist sie ein mittelbares Bewusstsein des Gegenstandes, der durch Vermittlung immanenter Repräsentanten gegeben ist. (2.) Die These der Formlosigkeit des Auffassungsstoffs widerspricht der Lehre der materialen Gesetzlichkeit, wonach die Auffassung durch die Wesensbeschaffenheit des Inhalts bestimmt wird (Hua XVI, 54; Hua Mat VII, 122; Hua III, 227; Hua XXV, 146) und die sinnlichen Formen nicht aus den Akten des Subjekts, sondern aus der Eigenart der Fundamente stammen (Hua XIX, 665 ff., 714 ff.; EU, 214 ff.). Gründen die Verbindung von Farbe und Ausdehnung sowie die Ähnlichkeit zwischen sinnlichen Gegebenheiten im Wesen betreffender Inhalte oder kommen sie durch subjektive Auffassung formloser Bestände zustande? Wenn das Schema gilt, ist die Lehre der materialen Gesetzlichkeit falsch. Wenn solche Lehre gilt, ist das Schema falsch.

Anders als Husserl meint, sind reell immanente und formlose Empfindungsinhalte keine ursprünglichen Gegebenheiten, vielmehr werden sie aus dem Gegebenen angesetzt, um die Erfahrung zu erklären. Durch deren Annahme verfällt die Phänomenologie demjenigen erklärenden Ansatz, aus dessen Kritik sie stammt.

Bei aller Infragestellung hat Husserl das Modell von Auffassung und aufgefasstem Inhalt in Bezug auf die Wahrnehmung nie ausdrücklich und endgültig erledigt. Aber aus der genetischen Analyse ergibt sich, dass die sinnliche Konstitution nicht nach diesem Modell stattfindet, sondern durch assoziative Verbindungen, die in der Natur der Inhalte gründen.Footnote 24 In der Wahrnehmung – wie Husserl bereits 1909 bemerkt – haben wir nicht „eine Farbe als Auffassungsinhalt und dann den Charakter der Auffassung, der die Erscheinung macht“ (Hua Mat VII, 146). Sofern jeder sinnliche Inhalt in sinnlichen Einheitsformen erscheint (Hua VII, 222 Anm. 2), ist mit dem Inhalt eo ipso seine Auffassung gegeben, die auf der Beschaffenheit des Inhalts und des Umgebungszusammenhangs beruht. Nicht der Auffassungsakt bestimmt die Funktion der Erscheinungsinhalte, sondern es sind diese, die jenen motivieren.Footnote 25 Denn der Wahrnehmungssinn entspringt aus den Erscheinungsinhalten: Das Erfassen sinnlicher Gegenstände ist „ein bloßes Rezipieren eines vorkonstituierten Sinnes“ (Hua XXXI, 41), da sie „schon vor dem Erfassen ursprünglich da“ sind (Hua XXXIX, 40) und sich durch eine „passive Genesis“, d.h. durch eine „vor allem aktiven Denken […] liegende[],Synthesis‘“ konstituieren (Ms. B IV 12/2a). In der passiven Erfahrung sind nämlich die Inhalte „verbunden, aber keine Aktivität hat sie verbunden, d.i. synthetisch verknüpft. […] Das synthetisch-aktive Bewusstsein (Akt in einem prägnanten Sinn) setzt das sinnliche Verbindungsbewusstsein voraus“ (Hua XLI, 128). Sinnlichkeit besteht also nicht im bloßen Haben von Empfindungen, die von Akten beseelt werden, sie weist vielmehr eine eigenständige Struktur auf, die den Vollzug von Akten motiviert. Nicht die geistigen Funktionen bestimmen die sinnlichen Strukturen, sondern es sind diese, die jene ermöglichen.Footnote 26

Das Bewusstsein ist immer „apperzipierend“, insofern es über sich selbst hinausmeint und über das ihm jeweilig eigentlich Gegebene hinausreicht, weshalb es „nicht nur überhaupt etwas in sich bewusst hat, sondern es zugleich als Motivanten für ein anderes bewusst hat“ (Hua XI, 338). Dies schließt die Möglichkeit einer durch keinen Rest von Intention ausgezeichneten Wahrnehmung aus. Die „Mehrmeinung“, wodurch die Erscheinung über ihren eigentlichen Inhalt hinausweist (Hua I, 84), stammt aus den noematischen Verweisungen zwischen den Erscheinungsinhalten, nicht aus einer noetischen Beseelung selbiger. Denn sie gründet darin, dass alles Erfahrbare „immerfort Beziehungscharaktere hat“, da es vor jedem synthetischen Akt einen Außenhorizont hat und „Mitbestimmungen in Bezug auf solches, was es nicht selbst ist“, mit sich trägt (Hua XXXIX, 5). Die Apperzeption besteht also nicht aus einer subjektiven Projektion oder Deduktion des Abwesenden aus dem Anwesenden, sondern aus einem im Erfassungsakt liegenden Überschuss, der dem Gegebenen und der vergangenen Erfahrung entspringt.Footnote 27

Die Bildung sinnlicher Apperzeptionen verweist nicht auf sinngebende Akte, die einem formlosen Stoff eine Form verleihen, sondern auf vorgegebene sachliche Strukturen, die sich kraft der Wesenseigenart jeweiliger Inhalte passiv konstituieren. Selbst schon die Konzeption der passiven Synthesen als Unterlage der aktiven schließt aus, dass die Subjektivität als Grund der Erfahrungsstruktur fungiert: Dies würde nämlich voraussetzen, dass die Verbindungsmöglichkeiten kategorial-begrifflich durch die Subjektivität vorgezeichnet sind und in einer aktiven Einheit gründen.Footnote 28 Husserl spricht zwar von einer „passiven Produktion“ (Hua XI, 276), aber sie ist auf die sachliche Wesensgesetzmäßigkeit der Inhalte zurückzuführen, denn die passiven Synthesen erzeugen neue Inhalte, aber werden ihrerseits durch die Beschaffenheit vorgegebener Gehalte erzeugt, insofern Ähnlichkeit und Kontrast als „Vorbedingungen des Inhalts“ fungieren (ebd. 180).

Der Urstoff der Konstitution besteht demzufolge nicht aus reellen und formlosen Beständen, die durch Auffassungsakte beseelt und in der immanenten Wahrnehmung erfasst werden, sondern aus sinnlichen Vorgegebenheiten, die eine sachliche Struktur besitzen und durch Affektion zum Bewusstsein kommen, da sie sich dank Ähnlichkeitsverschmelzungen konstituieren und einen Reiz auf das Subjekt durch Kontrast zum Hintergrund ausüben. Die Gegebenheit erwächst also nicht aus dem Akt, vielmehr ist dieser durch jene motiviert.Footnote 29 Weit entfernt davon, formgebend zu sein, setzen sinnliche Akte voraus, dass Erfahrung eine sachliche Struktur aufweist, die allein Abhebungen, Affektionen und damit Aktvollzüge ermöglicht. Der Akt ergibt nicht die Gegebenheit, indem er immanente Empfindungsinhalte durchgeistigt. Den Akt ergeben vielmehr die vorgegebenen Inhalte, indem sie das Subjekt affizieren und dessen Zuwendung bedingen.

5 Die konstitutive Genesis der Welt

Der Anfang der konstitutiven Genesis fällt mit dem Anfang sinnlicher Reize zusammen und verweist auf Abhebungen von Inhalten im Sinnesfeld (Hua XXXVI, 142). Insofern „Aktivität stets Affektion voraussetzt“ (Hua Mat VIII, 183) und diese – deren Urquelle in der Urimpression liegt (Hua XI, 168) – durch sachliche Wesensverhältnisse zwischen sinnlichen Inhalten zustande kommt, fungiert nicht der Akt, sondern der sinnliche Inhalt als Motor der konstitutiven Genesis. Obwohl nämlich der Inhalt erst durch den Akt erfasst wird, geht jener diesem vorher, da ohne sich abhebende Inhalte kein Akt einsetzen und einen sinnlichen Gegenstand erfassen kann. Es geht um eine „Notwendigkeit“: „Ich kann mich […] nur auf etwas richten, was vordem mich schon für sich affiziert, als das, was für mich in Sonderheit bewusst war“ (Hua XXXIX, 462). Demnach gilt die „Materie als Reiz, Reiz zum Aktus, zur Kinästhese“, denn der sinnliche Reiz „motiviert […] mich als kinästhetisch Tuenden, setzt mich kinästhetisch in Bewegung“ (ebd. 433). Am Anfang ist also nicht der Akt, sondern die affizierende sinnliche Materie, welche Kinästhesen und Akte ergibt.

Husserl behauptet, dass die Vorstellung einer Umwelt als Welt einer realen Struktur erst durch die Neugier als Instinkt „auf Kennenlernen der Umwelt“ erwächst, „sodass die Weltvorstellung und die Vorstellung der strukturellen Typen von Objekten und ihrer Verbundenheit nichts anderes ist als Erfüllung dieses Instinktes“ (Hua XLII, 124). Nichts könnte aber die Neugier erregen, wenn es keine sinnlichen Abgehobenheiten gäbe. Neugier setzt nämlich Abhebung, Differenzierung, Sonderung voraus. Ein ungeschiedenes Sinnesfeld ergibt keine Neugier, ja keine Affektion und keine Weckung, die auf der „Ähnlichkeit von kontrastierend Gesondertem“ beruht (Hua XI, 179).Footnote 30 In diesem Fall könnte keine Apperzeption erwachsen. Apperzeptiv kann nämlich das Bewusstsein nur dann sein, wenn Verweisungen zwischen Sinnesgegebenheiten bestehen, während bei schwarzen Sinnesfeldern kein Verweisen oder Hinausweisen, also keine Erwartung und damit keine Apperzeption zustande kommen kann.

Ein „ungeschiedene[s] Gerichtetsein auf die ungeschiedene Hyle“ (Hua Mat VIII, 226) wird dadurch ausgeschlossen, dass das Gerichtetsein durch Abhebungen motiviert ist und eine gegliederte Hyle voraussetzt. Denn eine sachliche Abgehobenheit ist „die Voraussetzung (als Anruf, Anspruch) für den Aktus des Ich als ,Antwort‘ (Bewusstsein im prägnanten Sinn)“ (ebd. 191) und beruht auf der „Abständigkeit“ (Hua XLII, 28 ff.). Wenn nämlich „der Empfindungsgehalt jeden Wechsel verlieren würde und rein nach dem Gesetz der inneren Zeitkonstitution sich erhalten würde“, wäre jede Ich-Affektion und Ich-Tätigkeit abgeschnitten, da der Reiz zu Null würde, oder jedenfalls würde das Ich „in der Einförmigkeit des Inhalts versinken“ (ebd. 18 f.). Bei einem „völligen, absolut ungebrochenen ,Schwarz‘ des ganzen Feldes“ wird also das Ich „nie und nirgends gehemmt, es stolpert nirgends, es wird nie in Sonderheit affiziert, es kann nicht aufmerksam werden, sich mit nichts beschäftigen“ (ebd. 29 f.).

Hat ein Sinnesfeld den Modus einer völlig glatten, strömenden Verschmelzungseinheit, wie z.B. normalerweise das Tastfeld der inneren Augenhöhle, so ermöglicht es keine Sonderaffektion, keinen Modus der Aufmerksamkeit auf Einzelnes und damit keinen Gang der Objektivierung, in dem das Feld apperzipierbar wäre als ein Raumfeld von „Dingen“. […] Nur „Abhebung“ als Unterbrechung <des Strömens> in der Form des „absolut glatten“ Strömens, Verschmelzens ermöglicht eigentliche Affektion und damit Zuwendung und Aktivität, Beschäftigung damit (ebd. 26).

Eine ungeschiedene Urhyle würde demzufolge die Gegenstandskonstitution unmöglich machen, denn sie könnte keine Affektion ausüben und ohne Affektion könnte keine ichliche Leistung einsetzen. Die Sinnesfelder könnten dabei „keine objektivierende Ausgestaltung erfahren vermöge ihrer glatten Wandelbarkeit“ (ebd. 27, Anm. 1), auch wenn das Subjekt durch innere Triebe geweckt würde.

Anders als Husserl aufgrund des Schemas Inhalt/Auffassung vermutet, ist die Hyle auf keiner Stufe formlos und ungeschieden, sondern immer schon irgendwie beschaffen und gegliedert.Footnote 31 Dies beweist selbst schon das zur Veranschaulichung des Schemas bevorzugte Beispiel eines Dinges, welches bald für eine Wachspuppe und bald für einen Menschen gehalten wird: Was hier verschieden aufgefasst wird, ist nämlich kein immanenter und formloser Inhalt, sondern ein Ding. Eine formlose Urhyle ist eine unphänomenologische Substruktion. Der Konstitution liegt nicht eine ungeschiedene Einheit zugrunde, sondern eine einheitlich strukturierte Mannigfaltigkeit, d.h. eine innerlich gegliederte und differenzierte Einheit.

Husserl zufolge bilden die angeborenen Instinkte „die Uranlage des Ich“ und damit die Voraussetzung seiner transzendentalen Genesis (ebd. 116). Das Ich des konstitutiven Anfangs ist nämlich „schon Ich gerichteter Instinkte“ (Hua XXXIX, 477), und zwar weltlich gerichteter Instinkte (Hua Mat VIII 169; Hua XLII, 221; Hua XIV, 333). Stünde aber dieses „Instinkt-Ich“ (Hua Mat VIII, 252) einem Gewühl von Erscheinungen gegenüber, könnte es keine Habitualität erwerben, weshalb es keine objektive Welt und damit auch nicht sich selbst als personales Ich konstituieren könnte. Denn eine objektive Welt konstituiert sich dank sachlicher Synthesen, die in der Eigenart sinnlich vorgegebener Inhalte gründen und nicht durch Instinkte gestiftet werden können.

Gegen die Ansicht, dass alle Vorstellungen Differenzierungen einer angeborenen unbestimmten Leervorstellung sind, scheidet Husserl Leerhorizonte und Leervorstellungshorizonte: im ursprünglichen instinktiven Leerbewusstsein liegt eine „Leerrichtung“, aber „noch keine doxische Thesis“, und durch die ursprünglichen Instinkte ist also „noch keine Vorstellungswelt […] konstituiert“ (Hua XIV, 334). Aufgrund dessen unterscheidet Lee den angeborenen Instinkt der Objektivierung und die erworbene doxische Vorstellungsintention.Footnote 32 Ähnlich behauptet Bower, dass die Enthüllung des Instinkts – wodurch das blinde Streben zu einem zielbewussten wird – das instinktive Tun schrittweise in einen intentionalen Akt verwandelt, weshalb der Instinkt ein „Vermögen als Anlage zur Ausbildung von Vermögen in dem eigentlichen Sinn” darstellt (Hua XXXIX, 483).Footnote 33 Beiden entgeht jedoch, dass der Übergang vom blinden instinktiven Trieb zum intentionalen Akt und zur Konstitution der Vorstellungswelt eine sachliche Bedingung hat: „Die Enthüllbarkeit der Instinkte setzt, sofern sie auf Dinge oder auf Lebewesen bezogen sind, ursprünglich Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit voraus. Durch den Nahrungsinstinkt kann kein Tier die Außenwelt ursprünglich erfahren“ (Hua XIV, 333). Der angeborene „Instinkt der Objektivierung“ (Hua Mat VIII, 257 ff.) als Urtendenz auf Gegenstandskonstitution (Hua XXXIX, 17) könnte nie zur Erfüllung und damit zur Enthüllung kommen, wenn die faktischen Erscheinungsinhalte keine sachlichen Zusammenhänge aufwiesen. Durch seine Vermögen kann nämlich das Subjekt die sinnliche Struktur der Erfahrungswelt nicht herstellen, sondern bloß erfassen und eventuell mittels kategorialer Formen denken. Weder Akte noch Instinkte können der Welt eine sachliche Form verleihen, insofern diese von den Inhalten abhängt, die „das materiale Faktum“ (Hua XIV, 306) darstellen.

Um der Konstitution Rechenschaft zu geben, ist nicht nur die subjektive Ausstattung des Ich (Anlagen, Vermögen, Akte, Instinkte, Triebe), sondern auch die sachliche Wesensgesetzmäßigkeit der ichfremden Inhalte heranzuziehen. Die Konstitution hat eben zwei aufeinander irreduktible Urvoraussetzungen: mein urtümliches Ich und mein urtümliches Nicht-Ich (Hua Mat VIII, 199), das Ichliche und das Inhaltliche oder Ichfremde (ebd. 183, 188, 189), welches aus sinnlichen Daten in sinnlichen Feldern besteht und die in aller ichlichen Leistung vorausgesetzte Materie bildet (ebd. 295; Hua XXXIX, 432). Der Konstitution liegt also ein „nichtsubjektive[r] Kern“ (Hua Mat VIII, 361) zugrunde und das transzendentale Ich „ist ein Relatives, eine ichliche Struktur gegenüber dem, was dem Ich vorgegeben ist“ (ebd. 59).

Die Inhalte sowie deren Verlauf und Struktur (d.h. die Hyle) können sich keineswegs aus dem Bewusstsein ergeben. Gegenstände sind das Korrelat subjektiver Akte. Damit aber das Subjekt Gegenstände in seinen Akten fassen kann, müssen die gegebenen Inhalte eine sachliche Struktur besitzen. Die sinnliche „Sinngebung“ ist nämlich daran gebunden, dass die Erscheinungen eine inhaltliche Kongruenz aufweisen, da keine subjektive Leistung bewirken kann, dass eine sachlich zusammenhangslose Folge von Erscheinungen gegenständlich erfahren wird. Deshalb sind in der Naturkonstitution die Seite der erkennenden Wesen und die der Natur selbst auseinander zu halten (Hua XXX, 309) und neben einer „Ichverrücktheit“ ist eine „Weltverrücktheit“ anzusetzen (Hua XXXIX, 479). Denn das Bewusstsein könnte vollständig ausgestattet sein, um vernünftig erkennen zu können, aber sein faktischer Inhalt könnte nicht rationalisierbar sein, weil „ein ,sinnloses Gewühl‘ da ist, das in sich keine Natur zu erkennen gestattet“ (Ms. D 13 II/200b; vgl. Ms. B IV 1/97a-98a). Die Weltkonstitution ist deswegen auf das „Faktum“ angewiesen, „dass das Urmaterial gerade so verläuft in einer Einheitsform“ (Hua XV, 385). Daraus folgt, dass Husserl an der in den Prolegomena zur reinen Logik in Hinblick auf die logische Erkenntnis formulierten Unterscheidung zwischen noetischen bzw. in den Akten gegründeten und objektiven bzw. im Inhalt gegründeten Bedingungen der Möglichkeit auch nach der transzendentalen Wende in Hinblick auf die Weltkonstitution tatsächlich festgehalten hat.

Die Konstitution findet im Subjekt nach einem sachlichen Prinzip statt, und zwar nach der Besonderheit des jeweiligen Inhalts, die dessen Zusammenhänge mit anderen Inhalten sowie dessen Erscheinungs- und Auffassungsweisen bestimmt. Der Sinn der phänomenologischen Konstitution ist nämlich ein eidetischer: Das transzendentale Ich kann das Wie der konstituierenden Akte nicht bestimmen, sondern nur hinnehmen und konstatieren.Footnote 34 Die Bildung von Apperzeptionen ist je nach dem Wasgehalt verschieden, obwohl sie im Bewusstsein zustande kommt. Denn die „Konstitution eines Gegenstandes als Sinnes ist […] eine Bewusstseinsleistung, die für jede Grundart von Gegenständen eine prinzipiell eigenartige ist“ (Hua XI, 19), da sie der „Besonderheit“ des jeweiligen Seienden entspricht (Hua XVII, 251). Nicht die subjektive Leistung bestimmt die ontologische Besonderheit, sondern es ist diese, die jene bestimmt. Die jeweilige Gegenstandsart schreibt nämlich die jeweilige Konstitutionsweise vor, d.h. was für Akte und Bewusstseinssynthesen notwendig sind, um den betreffenden Gegenstand zur Gegebenheit zu bringen. Insofern die Weise, wie Gegenstände dem Bewusstsein gegeben sind, je nach der Gegenstandsart wesensverschieden ist, gründet solche Weise nicht im Bewusstsein, sondern in der Natur jeweiliger Gegenstände. „Jeder Region entspricht eine neuartige Affektion als das die konstitutive Dimension bestimmende Objekt“ (Hua Mat VIII, 336).

Welt und Gegenstände konstituieren sich in intentionalen Akten, die durch Affektionen motiviert sind. Affektionen setzen ihrerseits Abgehobenheiten, d.h. sinnliche Gliederungen vorgegebener Wasgehalte voraus. Solche den Affektionen und den Akten zugrundeliegende Gliederungen beruhen auf der eigenartigen Natur der Wasgehalte selbst, die den sachlichen Grund der konstitutiven Genesis darstellt.

Wie Fink 1933 schrieb, ist die Grundfrage der Phänomenologie die Frage nach dem Ursprung der Welt.Footnote 35 Solche Frage erfordert aber nicht eine spekulative, sondern eine transzendental-ästhetische Antwort, da sie nicht auf eine schöpferische Subjektivität, sondern auf die sachlichen Wesenszusammenhänge zwischen den faktisch vorgegebenen sinnlichen Inhalten verweist. „Die sinnliche Ähnlichkeit und der sinnliche Kontrast (der seinerseits eine Ähnlichkeit voraussetzt) ist die Resonanz, die jedes einmal Konstituierte begründet“ (Hua XI, 406).

Abhebungen und Verschmelzungen sinnlicher Inhalte durch Kontrast- und Ähnlichkeitsverhältnisse stellen „Urphänomene“ (ebd. 133 ff.) dar, die als solche anzuerkennen sind. Es hat keinen Sinn, hinter oder über ihnen noch etwas aufzusuchen. Wie Goethe im Gespräch vom 18. Februar 1829 sagt, sind die Menschen, die „denken, es müsse noch weiter gehen, […] den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist“.