Die Umstellung öffentlicher Kommunikation auf Fragen der Eigenverantwortung und Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen provoziert auch Nachfragen nach der empirischen und konzeptionell-praktischen Belastbarkeit dieser gesundheitspolitischen Fiktion. Hierzu geben die Beiträge dieses Heftes aus der Position der Beobachtung von Beobachtern einigen Aufschluss. Im Kontext der Luhmannschen Systemtheorie weist Jost Bauch eingangs auf die konzeptionellen Schwierigkeiten einer Gesundheitspädagogik hin, die in einem meist wohlmeinenden Impetus eine aufklärende Instruktion der Edukanden anstrebt und nicht nur bei der Rauch- und Alkoholentwöhnung meist kläglich scheitert. Auch wenn die kommunikative Raffinesse von Bonus- und Malus-Anreizen beim „Disease-Management“ der Krankenkassen noch erheblich gesteigert wird, bleibt die selbstreferentielle Struktur des individuellen Gesundheitsbewusstseins gegenüber externen Beeinflussungsversuchen notwendigerweise sperrig. Die „reservatio mentalis“ der individuellen Bewusstseinssysteme wird an vielen Stellen zum sozialen Ärgernis für die Aufforderung der Wohlmeinenden zum reibungslosen Funktionieren im „eigenen Interesse“: Als Trotz des Kleinkindes, als Störung des Schülers, als Ignoranz des Jugendlichen, als mangelnde Compliance der Patient(inn)en. Eine Beobachtung dieser Beobachtungen kann auch die Schattenseiten des Gutgemeinten entdecken und die relative Berechtigung des Eigensinns, der Ignoranz und des Widerspruchs gegenüber sozialen Veränderungszumutungen. Das Gesundheitsbewusstsein wird damit reflexiv und kontingent: Nicht alles, was für gesund gehalten wird, muss es auch sein und sich danach zu richten, kann vernünftig sein oder auch nicht. Die Beurteilung wechselt je nach Beobachterposition und Zeithorizont: Was kurzfristig Wohlbefinden vermittelt, kann langfristig zur Belastung werden.

Erfolgreiche Gesundheitsförderung verbindet daher verschiedene Beobachterperspektiven, entwickelt Sympathie für den Eigensinn im sozialen Kontext und vertraut auf die Kraft der Vernunft.

In den Arbeiten dieses Heftes wird die Kontingenz des Gesundheitsbewusstseins aus verschiedenen Beobachterperspektiven mit den folgenden Einsichten beleuchtet:

  • Der selbstreferentielle Charakter des Bewusstseinssystems erzeugt Kontinuität des Verhaltens dort, wo Erwartungen Erwartungserwartungen verstärken, nach dem Muster: „Sport ist gesund und deshalb mache ich als Gesunder Sport“ (Beitrag Eichberg und Rott).

  • Grundsätzliches Vertrauen in die vorherrschende gesellschaftliche Kommunikation relativiert sich, wenn Risiken persönlicher Betroffenheit reflexiv mit ins Kalkül gezogen werden (Beitrag Berth, Dinkel und Balck).

  • Auch wenn wie bei Luhmann und Bauch eine operationelle Geschlossenheit von gesellschaftlicher Kommunikation, Bewusstseinssystemen und organismischen Systemfunktionen unterstellt wird, geben epidemiologische Daten (z.B. der Herzinfarkt-Inzidenz) deutliche Hinweise auf soziopsychosomatische Koppelungen, die eine genauere Analyse auch der gesundheitlichen Geschlechterdifferenz unter Gender-Gesichtspunkten nahe legen (Beitrag Müller, Schweizer, Quietzsch, Koch und Voigt).

  • Der Wunsch nach einer symmetrischen Kommunikationsgestaltung, etwa in der Arzt-Patient-Beziehung, macht das Dilemma der doppelten Kontingenz personaler Kommunikation offenkundig: Wessen Erwartung und Erwartungserwartung wird jeweils dominant? Wer hat das erste und wer das letzte Wort? Unter welchen Voraussetzungen ist das Ideal des „shared decision making“ tragfähig? (Beitrag Ernst und Schwarz).

  • Die Bedeutung der Beobachtung der Beobachtungen für die Qualitätsentwicklung beruflicher Routinen im Gesundheitswesen lässt sich besonders dort feststellen, wo unklare Rahmenbedingungen und mangelndes Wissen die Fähigkeit zu verantwortlicher Selbstbeobachtung erheblich einschränkten (Beitrag Taxis und Barber).

  • Standardisierte Beobachtungsinstrumente provozieren die Frage nach der Konstruktvalidität. Durch die Einführung einer Gender-Perspektive werden manchmal weitere Differenzierungen vor allem im Bereich psychiatrischer Diagnosen auffällig (Beitrag Semmler und Klumb).

  • Zu den Fortschritten der Public-Health-Forschung in den letzten Jahren zählt die Einführung des Plurals in die Gesundheitswissenschaften. Die gesellschaftliche Integration dieser Differenzierungen bleibt aber eine kommunikative und praktische Herausforderung. Hiervon handelt der Bericht des vorjährigen Präsidenten der European Public Health Association (EUPHA), Prof. Dr. Dr. W. Kirch.