Die Angst vor negativen Einflüssen von körperlicher Aktivität (kA) auf den Verlauf von Epilepsien sowie vor sportinduzierten Anfällen sind vermutlich 2 Gründe für die lang geltende Empfehlung gegen Sportausübung für Menschen mit Epilepsie [18]. Aus Humanstudien ist jedoch der positive Einfluss von kA auf viele krankheitsassoziierte Aspekte wie z. B. die psychologische Gesundheit [44] bekannt. Die Beeinflussung der Anfallsfrequenz wurde bislang wenig untersucht, und Hinweise auf einen positiven Zusammenhang existieren hauptsächlich in Tiermodellen. Eine starke Evidenz für eine antiepileptische Wirksamkeit von kA in Tiermodellen könnte den klinischen Transfer jedoch erheblich stimulieren.

Methodik

Die Literaturrecherche wurde am 24.05.2022 auf PubMed und Web of Science durchgeführt. Es wurde der Suchterminus „(epilepsy OR seizure OR antiepileptic OR epileptic) AND (animal OR rat OR mouse OR rodent) AND (exercise OR ‚physical activity‘ OR sport OR training OR ‚physical effort‘)“ verwendet. Eingeschlossen wurden kontrollierte Interventionsstudien im Tiermodell (Ratten, Mäuse), die die Auswirkungen von sportlichem Training auf Endpunkte wie Anfallsfrequenz, Latenz oder Intensität von Anfällen oder epilepsietypische Aktivität im EEG untersuchen. Im Rahmen dieser Übersichtsarbeit wurden Ergebnisse von Training in Epilepsiemodellen im Vergleich zu Epilepsiekontrollgruppen beschrieben. Studien, die eine zusätzliche Medikamenteninjektion beinhalten, wurden nicht beschrieben.

Ergebnisse

Insgesamt wurden von 3489 identifizierten Studien 33 in die Übersichtsarbeit eingeschlossen. In 19 Studien wurde die Intervention (INT) vor SE-Induktion durchgeführt (INTvSE) [1, 4, 10, 14, 19, 21, 23, 24, 26, 28,29,30,31, 33, 37, 39, 40, 42, 45] und in 14 Studien nach SE-Induktion (INTnSE) [2, 5, 6, 8, 9, 20, 27, 32, 34, 35, 38, 43, 46]. Eine Studie verwendete WAG/Rij-Ratten mit spontaner Absence-Epilepsie, sodass diese der Gruppe INTnSE zugeordnet wurde [12].

Status-epilepticus-Induktion und Untersuchungstiere

In 2 Studien der Gruppe INTvSE wurden die Auswirkungen von Amygdalastimulationen auf das Kindling untersucht [4, 10]. Verschiedene chemische Konvulsiva wie Homozystein Thiolacton (n = 2) [23, 24], Kainsäure (n = 4) [29,30,31, 40], Pentylenetetrazol (PTZ) (n = 4) [1, 14, 33, 39], Pilocarpin (n = 4) [19, 21, 37, 45] und Penicillin (n = 3) [26, 28, 42] kamen in den anderen Studien zur SE-Induktion zur Anwendung.

In der Studiengruppe INTnSE wurden Pentylenetetrazol (n = 2) [32, 35], Ascorbinsäure und/oder Penicillin (n = 2) [27, 43] und Pilocarpin (n = 9) [2, 5, 6, 8, 9, 20, 34, 38, 46] eingesetzt sowie das Absence-Epilepsie-Modell der WAG/Rij-Ratten [12].

In 28 Studien wurden männliche und in 2 Studien [45, 46] weibliche Ratten untersucht. Drei Studien nutzten männliche Mäuse [29,30,31].

Interventionsprogramme und Belastungsmodalitäten

In der Gruppe INTvSE wurden Schwimmtraining (n = 6), kombiniertes Schwimm- und Ausdauertraining (n = 1), erzwungenes Ausdauertraining auf dem Laufband/-rad (n = 11) und freiwilliges Ausdauertraining (freier Zugang zum Laufband/-rad) (n = 1) durchgeführt. Eine Studie verglich freiwilliges und erzwungenes Ausdauertraining.

In der Gruppe INTnSE wurden Schwimmtraining (n = 4), erzwungenes Ausdauertraining (n = 8), freiwilliges Ausdauertraining (n = 3) und Krafttraining (Klettern an einer Leiter) (n = 2) durchgeführt. Zwei Studien verglichen freiwilliges und erzwungenes Ausdauertraining und eine weitere Schwimmtraining und freiwilliges Ausdauertraining.

Die Trainingsprogramme sind detailliert im Online-Zusatzmaterial in den Tabellen S1 und S2 dargestellt.

In der INTvSE-Gruppe variierten Häufigkeit und Dauer der Schwimmeinheiten zwischen 15 und 90 Einheiten und 15–60 min pro Einheit, die Ausdauereinheiten zwischen 1 und 65 Einheiten und 15–60 min pro Einheit mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. In den freiwilligen Ausdauertrainingsinterventionen hatten die Tiere 27 und 30 Tage Zugang zum Laufband (Tab. S1).

In der INTnSE-Gruppe wurde das Schwimmtraining zwischen 20 und 90 Einheiten bei unterschiedlichen Dauern durchgeführt (15–60 min). Über 10 bis 59 Einheiten mit einer Dauer von 30–60 min pro Einheit wurden die Tiere in den Ausdauerinterventionen bei unterschiedlicher Geschwindigkeit trainiert. Das freiwillige Ausdauertraining wurde über 10, 30 oder 45 Tage durchgeführt und die Krafttrainingseinheiten jeweils über 20 Einheiten (Tab. S2).

Ergebnisse zu den klinischen Endpunkten

In den eingeschlossenen Studien wurden unterschiedliche Endpunkte erhoben (Tab. S1, S2). Einige wurde zu einem festgelegten Zeitpunkt und andere mehrmals innerhalb einer Zeitspanne erhoben. Die im Online-Zusatzmaterial in Tab. S1 und S2 dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die jeweiligen primär berichteten Hauptergebnisse der eingeschlossenen Studien und auf einen Gruppenvergleich zwischen der Epilepsietrainingsgruppe und der Epilepsiekontrollgruppe.

Innerhalb der Gruppe INTvSE wurden unter anderem die Endpunkte „Anzahl Stimulationen“ [4, 10], „Anzahl an Injektionen“ [40], „Latenz SE“ [21, 45], „Latenz erste Symptome“ [21, 37], „Latenz erster Anfall“ [1, 14, 19, 23, 24, 28, 39], „Latenz Konvulsionen“ [33], „Dauer Konvulsionen“ [33], „Intensität Symptome“ (basierend auf festgelegter Skala) [1, 14, 21, 37], „Frequenz Symptome“ [37], „Zeit Anfallsmanifestation“ [37], „Anfallsfrequenz“ [1], „Anzahl Anfallsepisoden“ [23], Mortalität [30, 33], „epileptiforme Aktivität“ im EEG [1, 26, 28, 39], „Anfallsaktivität“ [29,30,31] untersucht (Tab. S1).

Innerhalb der Studiengruppe INTnSE wurden die Endpunkte „Anfallsfrequenz“ [2, 5, 6, 8, 9, 20, 34, 38, 46], „Latenz“ [32, 35], „Dauer Anfälle“ [32], „Intensität Symptome“ [32] und „epileptiforme Aktivität“ im EEG [12, 27, 43] erhoben (Tab. S2).

In der Gruppe INTvSE wurden durch 10 Interventionen in 10 Studien positive Effekte unter anderem auf die Anfallsaktivität, epileptiforme Aktivität und Anfallslatenzen zugunsten der Epilepsietrainingsgruppe beobachtet (Schwimmintervention n = 4, erzwungene Ausdauerintervention n = 5, freiwillige Ausdauerintervention n = 1) [1, 4, 14, 19, 26, 29,30,31, 33, 40]. Fünf Interventionen in 5 Studien zeigten heterogene Ergebnisse (Schwimmintervention n = 3, erzwungene Ausdauerintervention n = 2) [9, 21, 37, 39, 42]: Während einige positiv beeinflusst wurden, konnte bei anderen kein Gruppenunterschied gefunden werden (Tab. S1). Bei 3 Ausdauerinterventionen in 3 Studien konnte kein Effekt auf alle eingeschlossenen Endpunkte, z. B. Latenzen, Inzidenzen, Intensitäten oder epileptiforme Aktivität, beobachtet werden [24, 28, 45]. In einer Studie, die ein freiwilliges Ausdauertraining durchführte, war die Intensität der motorischen Symptome in der Trainingsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe stärker. Allerdings wurde in der Epilepsietrainingsgruppe auch eine verkürzte Latenz bis zum Auftreten des ersten Anfalls gefunden [45].

In der Gruppe INTnSE wurden durch 11 Interventionen in 11 Studien positive Auswirkungen auf die untersuchten Endpunkte beobachtet (Schwimmintervention n = 3, erzwungene Ausdauerintervention n = 4, freiwillige Ausdauerintervention n = 2, Kraftintervention n = 2) [2, 5, 6, 8, 12, 20, 32, 34, 43, 46]. Dabei wurden Parameter wie epileptiforme Aktivität, Latenzen und Dauern sowie Anfallsfrequenzen positiv beeinflusst. Vier Interventionen aus 3 Studien zeigten heterogene Ergebnisse (Schwimmintervention n = 1, erzwungene Ausdauerintervention n = 2, freiwillige Ausdauerintervention n = 1) [9, 27, 35]. So war z. B. die Anfallsdauer reduziert, die Latenz bis zum ersten Anfall allerdings nicht [35], oder Spikes im EEG wurden positiv hinsichtlich der Anzahl und Frequenz, nicht aber der Amplitude und Latenz beeinflusst [27]. Durch 2 weitere Interventionen konnte kein Gruppenunterschied bezüglich des einzig beobachteten Endpunktes Anfallsfrequenz beobachtet werden (erzwungene Ausdauerintervention n = 2) [38, 46].

Diskussion

Die Anzahl und Art der untersuchten Studienendpunkte in den 37 Interventionen aus 33 Studien variiert zum Teil erheblich. Zusammenfassend aus beiden Studiengruppen (INTvSE, INTnSE) konnte in 20 Interventionen ein positiver Effekt auf verschiedene Endpunkte, wie z. B. Anfallsfrequenz oder epileptiforme Aktivität, in der Epilepsietrainingsgruppe beobachtet werden. Neun Interventionen zeigten heterogene Ergebnisse bezüglich der untersuchten klinischen Endpunkte. Bei 6 Interventionen konnte kein Trainingseffekt nachgewiesen werden. Es zeigten sich demnach keine Unterschiede zwischen der Trainingsgruppe und der Kontrollgruppe. Lediglich durch eine freiwillige Ausdauerintervention wurde die Stärke motorischer Symptome negativ beeinflusst, allerdings gleichzeitig auch ein positiver Effekt auf die Latenz bis zum ersten Anfall beobachtet.

Neben den Studienendpunkten zeigte sich eine Heterogenität hinsichtlich der untersuchten Trainingsprogramme. Diese unterschieden sich hinsichtlich der Anzahl der Einheiten, der Dauer, der Laufgeschwindigkeit oder der Zusatzgewichte. Die Gründe für das Ausbleiben eines Effekts nach einigen der untersuchten Interventionen erscheinen im Vergleich mit anderen Studien nicht eindeutig. So blieb beispielsweise der Effekt auf Parameter der epileptiformen Aktivität in der Gruppe INTvSE nach 90 Einheiten Schwimmtraining über jeweils 30 und 60 min aus, nicht aber nach 15 min [42] oder nach 21 Einheiten à 60 min [1]. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Gruppe INTnSE. Im direkten Vergleich der Interventionen muss allerdings berücksichtigt werden, dass die beobachteten Endpunkte studienspezifisch sind und sich nicht oder nur schwer studienübergreifend vergleichen lassen. Tendenziell gibt es jedoch Hinweise darauf, dass die Applikation von nur wenigen Interventionen (1 bis 10 Einheiten) weniger effektiv zu sein scheinen, obwohl ein Effekt auch bei häufigeren Interventionen (90 Einheiten) teilweise ausgeblieben ist. Ein möglicher Einflussfaktor könnten die unterschiedlichen Wirkmechanismen der verwendeten chemischen Konvulsiva zur SE-Induktion sein. Iqbal et al. (2017) [25] untersuchten in einem systematischen Review und einer Metaanalyse nur die Studien, in denen das Pilocarpin-Modell angewendet wurde. Die Autoren schlussfolgerten, dass die Effizienz des Trainings von der Dauer abhänge. Eine solche Schlussfolgerung ist in dieser weit gefassten Übersichtsarbeit im Sinne einer Dosis-Wirkungs-Beziehung aufgrund der Heterogenität der Anfallsmodelle nicht möglich, jedoch bestanden mit Ausnahme einer Studie auch keine negativen Effekte.

Der beobachtete positive Effekt auf die untersuchten Endpunkte in den freiwilligen, aber nicht in den erzwungenen Ausdauertrainingsgruppen der Forschergruppe Vannucci Campos (2016, 2017) [45, 46] wird möglicherweise auch vom Geschlecht der Tiere beeinflusst. Epilepsien, besonders im Pilocarpin-Modell, welches hier zur Anwendung kam, scheinen einen Einfluss auf die hormonelle Regulation bei weiblichen Ratten zu haben [3]. Der Einfluss auf die Endpunkte Anfallsfrequenz sowie Latenz bis zum ersten motorischen Anfall und damit einhergehend der Zusammenhang mit kA ist dabei nicht eindeutig geklärt, sodass die Vergleichbarkeit zu den anderen Studien eingeschränkt ist.

Neben der Beobachtung und Beschreibung von Endpunkten im Kontext mit kA wie Anfallsfrequenz, Latenz und Intensität von Anfällen oder epilepsietypischen Veränderungen im EEG werden in der Literatur auch mögliche zugrunde liegende physiologische Wirkmechanismen diskutiert [11]. Die Bedeutungen des „brain-derived neurotropic factor“ (BDNF) und des Neuropeptids Y (NPY) sind dabei nur 2 Ansatzpunkte bei der mechanistischen Betrachtung. KA kann die Expression des BDNF und des NPY steigern [16, 22], die Bedeutung von BDNF bei Epilepsien ist jedoch noch unklar. Zum einen könnte eine exzitatorische Wirkung bestehen [36], zum anderen wird aber auch eine Modulation der Expression von Neuropeptiden, beispielsweise des NPY, vermutet [17]. Über die Modulation synaptischer Kopplung in der Hippocampusformation dient NPY möglicherweise als endogenes Antikonvulsivum [13]. Auch andere Mechanismen werden in diesem Kontext diskutiert [7].

Obschon die Übertragbarkeit der Ergebnisse aufgrund der Anwendung eines Anfallsmodells auf den Menschen eingeschränkt ist und keine methodische Bewertung der Studien vorgenommen wurde, sodass das Verzerrungspotenzial der vorliegenden Ergebnisse unklar ist, sollten die positiven Ergebnisse und das weitestgehende Ausbleiben von negativen Ergebnissen zur Untersuchung des Einflusses von kA auf epileptische Anfälle im Menschen motivieren [15, 41]. Eine systematische Übersichtarbeit konnte zeigen, dass sich in Humanstudien zumeist positive Effekte von kA auf Lebensqualität und Depressionen zeigen und in den meisten Fällen ein negativer Einfluss auf die Anfallsfrequenz ausbleibt oder diese sogar bei einigen Patienten reduziert werden kann [44].

Fazit für die Praxis

Bei der jahrzehntelang geltenden Empfehlung gegen Sportausübung spielen die Sorge vor Hyperventilation beim Sporttreiben sowie die Sorge vor kA-induzierten Anfällen eine Rolle. Zu Ersterem existieren allerdings keine validen Daten, wohingegen das Risiko für Anfälle unter Berücksichtigung individueller Faktoren zu evaluieren ist. Auf Basis der Ergebnisse aus Tiermodellen und aus ersten klinischen Studien scheint es, dass die Annahme von kA-induzierten negativen klinischen Auswirkungen nicht ohne Weiteres aufrechterhalten werden kann. Während Anfälle beim Sport (z. B. beim Klettern) durchaus eine Gefahr für Verletzungen darstellen können, scheint populationsbasiert keine allgemein erhöhte Verletzungsrate beim Sport zu bestehen. Zum besseren klinischen Umgang mit Sport bei Epilepsien veröffentlichte die „International League Against Epilepsy“ 2016 eine Risikoklassifikation nach Sportarten und klinischem Verlauf, an denen sich Kliniker gut orientieren können.