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Die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Therapien steigt seit mehr als 40 Jahren kontinuierlich. Im Jahr 2022 sind insgesamt ca. 110.000 Therapiezyklen (Frischzyklen und Kryozyklen) in Deutschland durchgeführt worden. Mit Blick auf die Zahl der nach einer reproduktionsmedizinischen Behandlung geborenen Kinder sitzt statistisch in jeder mittelgroßen deutschen Schulklasse ein Kind nach einer IVF-Therapie.

Kumulativ betrachtet werden 7 von 10 Kinderwunschpaaren schließlich erfolgreich behandelt, wenn ggf. auch mehr als 4 Therapiezyklen mit Embryotransfer durchgeführt werden. Damit ist eine reproduktionsmedizinische Therapie inzwischen zu einer „Routinebehandlung“ geworden, die auch gesellschaftlich weitgehend akzeptiert wird. Wir hoffen, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen auch in Deutschland zunehmend liberaler werden und wir internationale Standards erreichen.

Trotzdem bleibt eine reproduktionsmedizinische Therapie eine sehr teure Behandlung. Andererseits ist ein später geborenes Kind, sofern man das so sehen möchte, für die Gesellschaft eine Investition mit hoher Rendite. Die finanziellen Belastungen betreffen nicht nur die gesellschaftlichen Kostenträger (gesetzliche Krankenversicherungen, private Krankenversicherungen, Beihilfen und staatl. Förderprogramme einzelner Länder), sondern auch – das wird häufig übersehen – vor allem die betroffenen Patient:innen selbst (Eigenbeteiligungen, Verdienstausfall, Fahrtwege, Urlaubstage). Dazu kommt der hohe Leidensdruck von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch, der dazu führt, dass viele Betroffene alles dafür geben würden, um schließlich ein eigenes Kind zu bekommen. Hier sind alle Beteiligten (Gesellschaft, Ärztinnen und Ärzte und Patientenpaare) gefordert, mit Augenmaß das Mögliche mit angemessenem Aufwand möglich zu machen.

In diesem Heft von Gynäkologische Endokrinologie werden namhafte und erfahrene Autor:innen einen Blick auf die medizinische Perspektive dieser Problemstellung werfen. Das beginnt bei einer rationellen und zielführenden endokrinologisch-reproduktionsmedizinischen Diagnostik, die unter anderem sehr wichtig ist, um die Ursache einer ungewollten Kinderlosigkeit und die Chancen eines Paares auszuloten. Dazu der Beitrag von Prof. Dr. med. Michael Ludwig.

Belasten wir unsere Patienten unnötig, wenn wir wissenschaftlich umstrittene Therapien einsetzen? Vielleicht ist es besser, das Geld für einen weiteren Therapiezyklus zu sparen, der schließlich unter kumulativen Gesichtspunkten mehr bringt als diverse Zusatztherapien? Aber Patientinnen und Patienten wollen oft nichts unversucht lassen. Dazu eine kritische Reflexion von Frau Dr. med. Nina Bachmann und Prof. Dr. med. Jan-Steffen Krüssel.

Viele Patientinnen sind heute oft 40 und älter, und die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Maßnahmen bei älteren Patientinnen nimmt deutlich zu, auch weil die Gesellschaft sich verändert hat und immer noch der Faktor „Alter“ nicht hinreichend berücksichtigt wird. Wie gehen wir bei diesen Patientinnen angemessen vor, um nicht zu viel zu versprechen und uns zu viel vorzunehmen, aber auch um noch bestehende Chancen nicht zu verspielen. Dazu eine Übersicht von Prof. Dr. med. Christian Gnoth.

Reproduktionsmedizinische Therapien haben sich in den vielen Jahren sehr verbessert und die Schwangerschaftsraten steigen, insbesondere im Bereich der Kryokonservierung und der sogenannten Kryoauftauzyklen. Mit Blick auf die Möglichkeiten der Blastozystenkultur und Kryokonservierung ausgewählter Embryonen ist der Single-Embryo-Transfer in den meisten Fällen inzwischen State of the Art mit dem Ziel einer Einlingsgeburt. Es müssen also nicht unbedingt immer so viele Eizellen wie gerade noch vertretbar sein – ein Denken aus früheren Jahren weniger effektiver reproduktionsbiologischer und reproduktionsmedizinischer Techniken. Weniger Eizellen führen, richtig genutzt, zum gleichen Erfolg. Wir können weniger invasiv sein und können damit auch Komplikationen (z. B. das Überstimulationssyndrom) besser vermeiden, die körperlichen Belastungen unserer Patientinnen während der Therapie reduzieren und die Zahl der Krankschreibungen verringern. Dazu ein Beitrag von Dr. med. Daniel Fehr und Dr. med. Christoph Greve, der eine Kosten-Nutzen-Betrachtung hinsichtlich der notwenigen Eizellen für eine erfolgreiche Therapie vorstellt. Denn weniger Eizellen bedeuten auch eine geringere Stimulationsdosis und auch dort geringere Kosten.

Unsere Erfahrungen mit ICSI belaufen sich auf lediglich 30 Jahre!

Die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) hat zweifellos die Reproduktionsmedizin revolutioniert. Hauptindikation ist die schwere Fertilitätsstörung beim Mann. Inzwischen ist der überwiegende Teil (fast 80 %) aller frischen reproduktionsmedizinischen Zyklen ein sogenannter ICSI-Zyklus. Trotzdem bleibt die ICSI eine besondere Technik, da bisher kaum Kinder der zweiten Generation geboren wurden bzw. bisher kaum ICSI-Kinder selbst Nachwuchs bekommen haben. Unsere Erfahrungen mit dieser Methode belaufen sich auf 30 Jahre, was in diesem Zusammenhang nicht viel ist. Auch ist eine ICSI im Vergleich zur konventionellen IVF viel schwieriger zu erlernen. Ist also dieser hohe Anteil an ICSI-Zyklen gerechtfertigt oder führen andere Überlegungen dazu, diese Methode der konventionellen IVF vorzuziehen, vor allem die Sorge vor einem Befruchtungsversagen in der konventionellen IVF bei einer begrenzten Zahl unterstützter Zyklen durch die Kostenträger? Dazu ein sehr offener Beitrag von Herrn Prof. Dr. med. Markus Kupka.

Keine Therapie ohne Forschung. Keine Weiterentwicklung der Reproduktionsmedizin ohne Forschung und Ausbildung im eigenen Land. Aber die Versorgungssituation und die Erstattung der reproduktionsmedizinischen Leistungen berücksichtigt sowohl Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten in diesem für die gesamte Gesellschaft wichtigen Gebiet als auch die notwendige Forschung überhaupt nicht. In diesem Bereich entwickeln sich die Biologie und die Medizin schnell. Die Molekulargenetik löst Revolutionen aus. Wir können auf Forschung und begleitende Studien zu allen unseren Therapiemaßnahmen nicht verzichten. Das müssen wir uns etwas kosten lassen.

Ziel ist eine die Patientinnen wenig belastende reproduktionsmedizinische Therapie, die zu einer gesunden Einlingsschwangerschaft führt

Sieht man die Tendenzen, die alle Artikel aufzeigen, geht die Entwicklung in der Reproduktionsmedizin vor dem Hintergrund einer erwarteten, weiter steigenden Inanspruchnahme klar in Richtung einer patientenfreundlichen, wenig belastenden Therapie mit dem Ziel eines Single-Embryo-Transfers für eine Einlingsschwangerschaft. Dazu braucht man weniger Eizellen. Allerdings bedeutet das mit Blick auf die kumulativen Ergebnisse, dass weniger invasive Therapiezyklen häufiger durchgeführt werden müssen: weniger × häufiger = mehr. Das ist auch das Credo des Deutschen IVF-Registers (DIR) im aktuellen Jahrbuch 2022. Das derzeitige Erstattungsmodell im gesetzlichen Sektor mit 3 von der gesetzlichen Krankenkasse unterstützten Therapiezyklen ist vor diesem Hintergrund völlig veraltet. Sinnvoll in jeder Hinsicht wäre es, Patient:innen, wenn schon begrenzt, dann bis zu einem Transfer von 6 idealen Embryonen in ggf. 6 Therapiezyklen finanziell zu unterstützen. Das bedarf auch einer politischen Entscheidung, auf die die Reproduktionsmedizin in Deutschland nicht mehr lange warten kann. Dann können wir eine patientenfreundliche Reproduktionsmedizin tatsächlich leben.

Christian Gnoth

Michael Ludwig