In unseren Händen lag bereits eine Ausgabe der Notfall+Rettungsmedizin zu Fragestellungen an der Schnittfläche zwischen Notfallmedizin einerseits und Rechtsmedizin andererseits. Zweifelsfrei können dabei mit dem ersten Aufschlag noch nicht alle relevanten und assoziierten Themenfelder abgearbeitet sein. Umso erfreulicher ist die Möglichkeit, mit der nunmehr vorliegenden zweiten Ausgabe weitere Leitthemenbeiträge für die interessierte Leserschaft bereitzustellen – kompakt, aktuell und kompetent aus der Feder von Expert:innen. Ziel der vorliegenden Zusammenstellung soll ein Bestärken in der Handlungssicherheit auf der Straße und in den Notaufnahmen sein, wenn Sie im Kontext von strafprozessualen Ermittlungsverfahren als Ärzt:innen, Pflegekräfte und Rettungsteams an der Schnittstelle der Fächer agieren.

M. Windgassen et al. berichten in „Todesfälle durch scharfe Gewalt in Berlin“ von einer epidemiologischen Auswertung aller in der Berliner Rechtsmedizin zur Untersuchung gelangten Delikte durch Einsätze von Stichwaffen. Die Arbeit zeigt zeit- und stadtvierteltypische Anhäufungen, die in Metropolregionen der BRD sicher reproduzierbar wären und uns allen aus dem praktischen Alltag bekannt sein dürften. In entsprechenden Fällen ist neben der Akutversorgung der Verletzungen für die Strafermittlungsbehörden insbesondere relevant, ob diese Verletzungen eine abstrakte oder konkrete Lebensgefahr begründen können. Hiervon abhängig kommt es zur Eingruppierung der Straftat für das weitere Ermittlungsverfahren in Abhängigkeit von der Deliktschwere.

L. Knöfel et al. werten medizinische und rechtliche Aspekte des Polizeigewahrsams aus. In dieser besonders heiklen Situation für Betroffene und diesem „fremden Terrain“ für die meisten ärztlichen Kolleg:innen geht es zum einen um Aspekte der Beweismittelsicherung, allen voran um unter forensischen Gesichtspunkten und Qualitätsansprüchen durchgeführte Blutentnahmen zur Konzentrationsbestimmung von Alkohol, Drogen und/oder Medikamenten. Zum anderen betrifft es vor allem die notwendigen Kompetenzen in der Bewertung der Gewahrsams- bzw. Verwahrfähigkeit der Proband:innen für einen begrenzten Zeitraum (Beendigung des Polizeigewahrsams – Überführung in die Untersuchungshaftanstalten) im Kontext von psychiatrischen Auffälligkeiten, Intoxikationen oder frischen Verletzungen.

„Spurensicherung und Verletzungsdokumentation in der Präklinik und Notaufnahme“ ist ein Übersichtsbeitrag von C. Richter u. R. Lessig zu Fragen der adäquaten Befunddokumentation vor Wundversorgung in Fällen fremder Gewalteinwirkungen. Neben der zumeist annehmbaren konkludenten Einwilligung der von Gewalt betroffenen Patient:innen in eine entsprechende gewissenhafte Befunddokumentation ist auch das besondere Tätigkeitsfeld in der Wundversorgung und Spurensicherung an tatverdächtigen Personen relevant. Hier gilt es, an die Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht zu denken, sofern nicht bereits initial ein Auftrag der Ermittlungsbehörden nach § 81a Strafprozessordnung vorliegen sollte oder das Durchbrechen der ärztlichen Schweigepflicht zur Wahrung höherer Rechtsgüter im Individualfall erforderlich wird.

Auch die Wundversorgung und Spurensicherung an tatverdächtigen Personen ist relevant

Unsere Kollegen S.N. Kunz u. L.F. Krys erörtern ferner das notfallmedizinisch relevante Thema der Elektroschockdistanzwaffen, welche mehr und mehr bei Einsatzgruppen der Polizei in Deutschland Einzug halten. Neben der puren und sehr charakteristischen Verletzungsmorphologie ist insbesondere die besonders vulnerable Klientel zu berücksichtigen, die in Elektroschockdistanzwaffeneinsätzen getroffen werden dürfte und sich regelhaft in besonderen Ausnahmesituationen und kardiovaskulären Hocherregungszuständen befindet. Die zunehmende Verwendung auch bei uns fordert eine enge Verzahnung zwischen prä- und innerklinischer Versorgung sowie eine gut dokumentierte Einsatzlage mit besonderer Bedeutung in Bezug auf potenzielle Fallstricke in der (späteren) gutachterlichen Praxis bei Komplikationen, Vorwurfslagen oder der Ermittlungsführung in Kapitaldelikten.

Gleichwohl wir mit dem vorliegenden Œuvre keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit in der Verzahnung der beiden Fachbereiche erheben wollen, liefert das Leitthema doch eindrucksvoll den Beleg, dass die Notfallmedizin in relevanten Anteilen nicht ohne rechtsmedizinische Expertise auskommt und dass eine vitale Rechtsmedizin in besonders vielfältiger Weise im Tätigkeitsfeld der Notfallmediziner:innen gefragt war, ist und sein wird.

Prof. Dr. B. Ondruschka

Dr. F.T. Fischer

München und Hamburg, im Januar 2022