Die Notfallmedizin steht derzeit vielerorts im Fokus der Diskussion. Sei es der Engpass der Besetzung von Standorten mit Notärzten – besonders, aber nicht nur in ländlichen Gebieten –, sei es die Diskussion um Honorar(aus)zahlungen oder auch inhaltlich im Rahmen der Überarbeitung der (Muster-)Weiterbildungsordnung. Die Qualifizierung der Notärzte wird prinzipiell durch die Inhalte der Weiterbildungsordnung geregelt. Im täglichen Leben ist es dann allerdings so, dass nicht selten ein Nichtfacharzt vor Ort die Notfallbehandlung durchführt. Hier ist er auf sich allein gestellt, technische Hilfsmaßnahmen wie Telemedizin zur Verbesserung der Patientenversorgung in lebensbedrohlichen Situationen existieren nur in wenigen Regionen (z. B.Med-on-@ix im Großraum Aachen). Zudem sind sie originär für Situationen konzipiert, in denen Notärzte in der näheren und ferneren Umgebung im Einsatz sind und die Rettungsassistenten den Patienten allein versorgen und ohne ärztliche Begleitung ins Krankenhaus bringen.

Vordergründig anders ist die Situation bei Aufnahme von Notfallpatienten: Hier steht zumeist ein Behandlungsteam zur Verfügung, welches in der Lage ist, mit erweiterten diagnostisch-technischen Möglichkeiten (Laborbestimmungen, Bildgebung etc.) selbst oder unter Zuhilfenahme anderer Disziplinen eine weitergehende Behandlung einzuleiten. Dies wird zumindest werktäglich in der Kernarbeitszeit vorausgesetzt. Zunehmende Personalengpässe und strukturelle Limitierungen, v. a. im Personalbereich, führen allerdings dazu, dass außerhalb der Kernarbeitszeiten in kleineren Krankenhäusern bzw. Abteilungen die ambulante oder stationäre Notfallbehandlung mittlerweile ebenfalls limitiert wird und sich systematisch in eine Richtung verschiebt, die den Abstand zur außerklinischen Notfallversorgung geringer werden lässt – eine vielfach kritisierte Entwicklung, die nur durch interdisziplinäre Notfallaufnahmen kausal behandelt werden kann. Dies ist nicht der billigste, aber ein unter Gesichtspunkten einer qualitativ hochwertigen Medizin sinnvoller Weg.

In diesem Heft von Notfall + Rettungsmedizin stellen die Vorstände der Austrian Association of Emergency Medicine (AAEM), der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) und der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR) 5 Thesen zur Weiterentwicklung der Notfallmedizin in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. Die Autoren definieren zunächst den Begriff „Notfall“ und formulieren vor diesem Hintergrund Forderungen und Erwartungen an ein zukünftig mögliches Fach „Notfallmedizin“. Dazu gehöre die Weiterentwicklung der „Notfallmedizin“ als eigenständiges Fach mit entsprechenden Fachärzten sowohl in Österreich, der Schweiz als auch in Deutschland unter klaren Weiterbildungsregeln wie sie in vielen Ländern der Europäischen Union bereits existieren. Darüber hinaus wird zur adäquaten Versorgung von Notfallpatienten eine spezielle Fachkrankenpflege mit entsprechender Ausbildung gefordert. Schließlich wird dies ergänzt durch den Ruf nach einer durchgreifenden Erfassung und Analyse von für die Notfallmedizin charakteristischen Qualitätsparametern und damit einhergehend auch der Etablierung eines eigenständigen Fachs „Notfallmedizin“ in Forschung und Lehre. Offensichtlich handelt es sich bei diesen als Thesen formulierten Forderungen nicht um eine Unterstützung von Ideen, die in den drei genannten Ländern bereits auf einem guten Weg sind, sondern – wie man den einleitenden Bemerkungen entnehmen darf – um den Versuch, die gewünschte Entwicklung überhaupt erst in Gang zu setzen.

Wie den Lesern von Notfall + Rettungsmedizin bekannt sein dürfte, stößt die geforderte Entwicklung auf erhebliche Widerstände insbesondere der etablierten Fachgesellschaften, zumal in Deutschland. Diese streben eine begrenzte Zusatzqualifikation „Notfallmedizin“ unter dem Dach der bisher hauptsächlich notfallmedizinisch aktivsten Disziplinen Chirurgie, Anästhesiologie und Innere Medizin an. Ein Hauptargument der Fachgesellschaften ist, dass für die Versorgung von Notfallpatienten „Facharztniveau“ gefordert wird. Allerdings kann diese Forderung schon in Krankenhäusern der Maximalversorgung generell weder über 24 h am Tag noch an 365 Tagen im Jahr für sämtliche Fachdisziplinen dargestellt werden, von Krankenhäusern der Regel- und Grundversorgung ganz zu schweigen.

Diese Situation und die in der „Ausgangslage“ des Thesenpapiers aufgestellten realistischen Feststellungen zur steigenden Quantität und soziodemographisch und medizinisch begründeten zunehmend komplexeren Krankheitsbildern bei Notfallpatienten bilden den Hintergrund der Forderungen der Autoren des Thesenpapiers und der hinter ihnen stehenden Gesellschaften. Kritik könnte insofern geübt werden, als das Thesenpapier nicht von „den“ notfallmedizinischen Fachgesellschaften der genannten drei Länder veröffentlicht wird: Immerhin gibt es in Deutschland u. a. die „Deutsche Gesellschaft für Anaesthesiologie und Intensivmedizin“, die „Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ wie auch die „Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin“, die allesamt die Notfallmedizin fachlich und wissenschaftlich vertreten, aufgrund ihrer Fachausrichtung allerdings nicht als „Generalisten“ gelten mögen.

Die Definition des Begriffs „These“ umfasst, laut „Wikipedia“ und Duden eine von Widersprüchen freie, aber zunächst unbewiesene Aussage, einen Gedanken, dessen Wahrheitsgehalt eines Beweises bedarf. Eine These ist allgemein eine Aussage, die das Wesentliche aus einem Komplex von Aussagen pragmatisch hervorheben bzw. zur Geltung bringen soll. Im wissenschaftlichen Sinn entsprechen die Thesen des Papiers einer Liste von zu beweisenden Hypothesen. In der Tat fehlen bisher, zumal im deutschsprachigen Raum, unwiderlegbare Beweise für die Notwendigkeit der Erfüllung der aufgestellten Forderungen. Dies gilt zumindest im gleichen Umfang auch für die Gegenposition, die die Etablierung eines neuen Fachgebiets „Notfallmedizin“ rundweg für überflüssig hält und deswegen ablehnt.

Das Fachgebiet „Notfallmedizin“ findet sich allerdings mittlerweile in zahlreichen Ländern der Welt und ist v. a. in unseren europäischen Partnerländern z. T. schon traditionell und seit Jahren erfolgreich etabliert. Nicht zuletzt auch, um dem zunehmenden und fruchtbaren personellen Austausch von jungen Ärzten und Pflegenden besonders in der europäischen Union auch auf dem Gebiet „Notfallmedizin“ die Tür zu öffnen, sollte vor dem Hintergrund des vorliegenden Thesenpapiers baldmöglichst eine offene und von Vorfestlegungen befreite Diskussion zur Zukunft der notfallmedizinischen Versorgung aufgenommen und dort, wo dies bereits geschehen ist, fortgeführt werden. Wissenschaftlich interessierte Notfallmediziner sind dringlich aufgefordert, einen Beitrag zur Beantwortung zu den zahlreichen unbeantworteten Fragen an die Notfallmedizin zu leisten, um in diesem wichtigen Gebiet zu den bestmöglichen Vorraussetzungen in Organisationsstrukturen und Ausbildung zu kommen. Dies sollte auch weiterhin, d. h. in Zeiten immer knapper werdender Personalressourcen, die optimale Versorgung der Notfallpatienten sicherstellen, nicht zuletzt im Hinblick auf die bei der Versorgung von Patienten rechtlich geforderte „Garantenstellung“. Insofern könnte ein erster Schritt in einer Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung von Notfallpatienten bestehen, auch wenn einer Hamburger Erhebung zufolge nicht jeder Notfallpatient immer gleich auch ein „Notfall“ ist. Nicht nur gelegentlich werden die Notfallmedizin und ihre Ressource missbraucht.

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

Standards zu überprüfen oder gar zu definieren ist ein hoher Anspruch, manchmal muss man einfach einmal über Ländergrenzen hinweg zu den Nachbarn schauen. Die Notfallmedizin ist mittlerweile politisch, ökonomisch und wirtschaftlich von vielen interessierten Gruppen in den Mittelpunkt ausgiebiger Diskussionen gestellt worden. Wenngleich mancherlei Forderungen heute illusorisch erscheinen, weisen sie manchmal in eine Richtung, die – trotz aller Diskussionen – hinsichtlich der Versorgungsqualität eine Option darstellt. Solche Diskussionen benötigen wir, um etwas weiterzuentwickeln, auch wenn das Ziel vielleicht im Laufe der Zeit anders definiert wird.

Ihre

H.-R. Arntz

U. Kreimeier