Mit der Verabschiedung der S3-Leitlinie „Polytraumaversorgung/Schwerverletzten-Behandlung“ am 1.07.2011 durch 11 Fachgesellschaften in deutsch- und englischsprachiger Version wurde ein nationaler und internationaler Meilenstein evidenzbasierter Medizin in der Traumatologie gesetzt. Damit wurde eine der umfassendsten Empfehlungen zur Behandlung schwerstverletzter und polytraumatisierter Patienten geschaffen, beginnend an der Unfallstelle, über die initiale Krankenhausbehandlung (im Schockraum) bis zur frühen Operationsphase reichend. In einer mehrjährigen Arbeit wurden Literatur und medizinische Erkenntnisse von über 80 Autoren zusammengetragen und in konkrete Handlungsempfehlungen umgesetzt.

Der Wissensstand um die Polytraumabehandlung konnte nun vereinheitlicht werden

Darin enthalten ist vieles bekannte und etablierte Wissen – ebenso wie wichtige neue Erkenntnisse, die noch keine weite Verbreitung gefunden hatten oder bei denen es noch unterschiedliche Wissensstände gab. Dieses Werk hat dazu geführt, dass der Wissensstand um die Polytraumabehandlung vereinheitlicht werden konnte und auf einer verbindlichen breiten Wissensbasis steht. Viele lokale Behandlungs- und Handlungsrichtlinien in den Krankenhäusern und Schockräumen wurden in der Folge an die Leitlinienempfehlungen angepasst. Aber auch Qualitätsvorgaben durch verschiedene Institutionen orientieren sich inzwischen daran, beispielhaft sei der Krankenhausplan NRW 2015 genannt.

Beim Studieren der Leitlinientexte sind aber sehr schnell unbeantwortete Fragen und Lücken erkennbar. Neue Fragen entstehen, die sich überhaupt erst auf der Basis eines festen Wissensfundaments stellen und Anlass zu Literaturrecherche oder wissenschaftlichen Studien geben. Es zeigen sich Defizite des Wissens (und demensprechend das Fehlen von Empfehlungen hohen Evidenzgrads oder die Unmöglichkeit, eine fundierte Empfehlung überhaupt auszusprechen). Nicht zuletzt führt der rasante Erkenntnisgewinn in der Medizin zum ständigen Überdenken einzelner Empfehlungen.

Im Gerinnungsmanagement werden die Erkenntnisse der CRASH-2-Studie in der Leitlinie noch nicht in vollem Umfang berücksichtigt, und die Diskussion um den Stellenwert und die Machbarkeit der POC-Gerinnungsdiagnostik mittels Thrombelastographie hat in den letzten Jahren neue Daten und Einschätzungen hervorgebracht, nicht immer mit einer einheitlichen Bewertung. Weiterhin in teilweise kontroverser Diskussion befinden sich die Konzepte zur Gerinnungstherapie mit Frischplasma vs. mit Faktorenpräparaten. Dirkmann et al. stellen in dieser Ausgabe der Notfall + Rettungsmedizin den aktuellen Erkenntnisstand zum Gerinnungsmanagement dar und werten die Argumente für oder gegen das eine oder andere Konzept, um dem Leser eine Hilfestellung zu geben, wie er für das eigene Handeln und die eigenen Rahmenbedingungen einen guten Behandlungspfad entwickeln kann.

Bei Patienten mit hypovolämischem Schock sind Katecholamine nur zur Überbrückung einer durch Volumenersatz nicht beherrschbaren schweren Hypotonie indiziert

lautet ein Credo der Schocktherapie. In der Realität des Traumaregisters der DGU erhalten jedoch über 5% aller schwerverletzten Patienten mit einem Injury-Severity-Score von mindestens 16 Punkten in der Präklinik und 21% der Patienten im Schockraum Katecholamine. Ist das günstig oder ungünstig für das Outcome, gäbe es Alternativen, wären andere Vasopressoren von Vorteil? Diesem Themenkomplex, der trotz seiner offensichtlichen klinischen Relevanz nur wenig beachtet wird, widmet sich der Beitrag von Födinger u. Wenzel.

Die kardiopulmonale Reanimation nach einem Trauma galt in der Vergangenheit als wenig erfolgversprechend. Ob diese Ansicht nach wie vor gültig ist, unter welchen Umständen Wiederbelebungsmaßnahmen sinnvoll sind oder sein können und welche spezifischen Aspekte über die Standardmaßnahmen hinaus angezeigt sind wird in einem dritten Beitrag von den Autoren um Bouillon beleuchtet.

Diese drei Aspekte wurden für dieses Themenhaft herausgegriffen, da es hierzu teilweise sehr unterschiedliche Auffassungen gibt und teils neue Erkenntnisse oder Überlegungen hinzugekommen sind. Zahlreiche weitere Fragen ließen sich zu den Leitlinien stellen:

So fehlen dort u. a. Aussagen zur Schmerztherapie, die Erkenntnisse zur sonographischen Diagnostik des Pneumothorax sind noch nicht berücksichtigt oder die Empfehlungen zur Blutstillung bei instabilen Beckenfrakturen konnten die in der Zwischenzeit berichteten Erfahrungen noch nicht berücksichtigen.

Diese und viele weitere Fragen bedürfen der systematischen Analyse und Bewertung. Dies kann aber nicht im Rahmen von Beiträgen in Fachzeitschriften allein erfolgen. Dazu ist die Weiterentwicklung und Aktualisierung der S3-Leitlinie erforderlich. Die Vorarbeiten dazu beginnen gerade, sodass bis Ende 2014, wenn die aktuelle Leitlinienversion ihre generelle Gültigkeit verliert, mit einer neuen Version zu rechnen ist. Nicht zuletzt die Anwender, also die Notärzte, die Kollegen in den Notaufnahmen und Schockräumen und nicht zuletzt das Rettungsdienstpersonal sind aufgerufen, Anregungen zu geben, Fragen zu stellen und auf fehlende Empfehlungen hinzuweisen, um die Leitlinie auf ein noch höheres Niveau zu bringen.

Christian Waydhas