Begriffsklärung komplexe Handverletzung

Die komplexe Handverletzung ist kein Begriff, der in der Unfall- oder Handchirurgie eindeutig definiert ist. Im Duden wird der Begriff „komplex“ als „vielschichtig, viele Dinge umfassend“, beschrieben. Auf die Handverletzung übertragen bedeutet dies, dass mehrere Strukturen wie Weichteile, Sehnen, Bänder, Gefäße, Nerven, Knochen oder Gelenke betroffen sein müssen.

Eine Handverletzung (Abb. 1), bei der ein Versicherter mit der Hand in die Förderschnecke einer „Mozzarella-Maschine“ geriet und bei der Weichteile, Beugesehnen, Nerven und Knochen verletzt wurden, kann unstrittig als komplexe Handverletzung bezeichnet werden.

Abb. 1
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Komplexe Handverletzung durch die Förderschnecke einer Mozzarella-Maschine

Komplexe Handverletzungen wie die traumatische Abtrennung beider Daumen und die erfolgreiche Replantation lassen sich mitunter auch in der Tagespresse verfolgen. Natürlich ist die Freude über solche Erfolge in der Replantationsmedizin völlig berechtigt. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, wie der Erfolg der Rehabilitation aussieht. Welches Maß an Funktionalität konnte zurückgewonnen werden? Gelang eine Rückkehr an den Arbeitsplatz? Wie sah die Alltagstauglichkeit aus?

Im Verletzungsartenverzeichnis (Abb. 2) finden wir unter Ziffer 8 „schwere Verletzungen der Hand“. Dahinter verbergen sich komplexe Handverletzungen ebenso wie auch unter den Ziffern 1, 6 und 7.

Abb. 2
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Das Verletzungsartenverzeichnis der DGUV – Stand 01.07.2014

Zahlen, Daten, Fakten

Eine Quantifizierung komplexer Handverletzungen im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist aufgrund der vorhandenen Daten nahezu unmöglich. Von fast 840.000 meldepflichtigen Arbeitsunfällen im engeren Sinne im Jahr 2014 waren etwas mehr als 289.000 Unfälle und somit ein Anteil von 34,5 % Handverletzungen [2]. Wie viele davon schwere oder komplexe Handverletzungen betrafen, ließ sich nicht ermitteln. Der Anteil von Handverletzungen an neuen Unfallrenten ist mit 9,4 % jedoch deutlich geringer als der Anteil der Handverletzungen an den meldepflichtigen Unfällen insgesamt. Dies lässt darauf schließen, dass in vielen Fällen eine weitgehende Rehabilitation möglich ist.

Bei der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) waren im Jahr 2015 von 78.500 meldepflichtigen Unfällen 31.500 Handverletzungen – somit ein Anteil von ca. 40,1 %. Aufgrund der vorhandenen Diagnosen ließen sich hiervon etwas mehr als 1000 Fälle und damit 3,26 % der meldepflichtigen Handverletzungen als schwere Handverletzungen einordnen.

Für die Versicherten bei der BGN stellen solche schwere und auch komplexe Handverletzungen eine große berufliche Betroffenheit dar. Köche, Bäcker und Metzger üben ständig handwerkliche Tätigkeiten aus, bei denen erhebliche Anforderungen an die Beweglichkeit, die Schnelligkeit, die grobe Kraft, die Ausdauer und die Feinmotorik, die Koordination und den Tastsinn gestellt werden. Die Steuerung des Heilverfahrens in diesen Fällen stellt eine große Herausforderung für alle Beteiligten dar.

Ein Blick ins Stammbuch der gesetzlichen Unfallversicherung verdeutlicht, dass die Unfallversicherungsträger im Einzelfall Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung und der Leistung zur Teilhabe ebenso wie die Einrichtungen, die diese Leistungen erbringen, nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmen können.

Die Unfallversicherungsträger bestimmen im Einzelfall Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung und der Leistungen zur Teilhabe sowie die Einrichtungen, die diese Leistungen erbringen, nach pflichtgemäßem Ermessen. … (§ 26 Abs. 5 SGB VII)

Im Fokus sind dabei immer die bestmögliche Diagnostik und die bestmögliche und geeignetste Therapie.

Reha-Management der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung

Der Handlungsleitfaden der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zum Reha-Management stellt dabei die Grundlage für gemeinsame Rahmenbedingungen aller Unfallversicherungsträger dar [1]. Reha-Management bedeutet danach die umfassende Planung, Koordinierung und zielgerichtete aktivierende Begleitung der Rehabilitation und Teilhabe.

Im Mittelpunkt steht die Erstellung eines Reha-Planes, der unter partnerschaftlicher Einbindung aller am Verfahren Beteiligten erstellt wird. Im Reha-Plan erfolgt eine Vereinbarung über den Ablauf der Rehabilitation einschließlich aller durchzuführenden Maßnahmen bis zum Erreichen des angestrebten Ziels. Der Reha-Plan orientiert sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (Abb. 3).

Abb. 3
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Das Krankheitsfolgenmodell der WHO

Dies gilt ebenso für die Handrehabilitation. Neben der Betrachtung der Gesundheitsstörung und der daraus folgenden medizinischen Behandlungsnotwendigkeit wird festgestellt, wie sich die Gesundheitsstörung auf die Aktivitäten und die Teilhabe der unfallverletzten Person unter Berücksichtigung aller Kontextfaktoren auswirkt. Die Rehabilitation orientiert sich hierbei bereits frühzeitig an bestehenden Teilhabedefiziten.

Das Reha-Management hat sich zum Ziel gesetzt, frühzeitig Reha-Ziele zu definieren. Der Reha-Manager soll quasi als „Lotse für das Heilverfahren“ die aktive Steuerung der medizinischen und beruflichen Rehabilitation gewährleisten. Damit sollen eine Optimierung und Verkürzung der medizinischen Rehabilitation erreicht werden. Ferner wird die nahtlose berufliche Wiedereingliederung angestrebt, um damit Arbeitsplatzverluste zu vermeiden. Durch die effektive Auswahl von Maßnahmen werden Ressourcen zielgerichtet eingesetzt und somit Gesamtfallkosten reduziert.

Die Unfallversicherungsträger setzen, um diese Ziele zu erreichen, insbesondere auf die zielorientierte Steuerung und Koordination der Heilverfahren gemeinsam mit den Versicherten und Angehörigen, Ärzten, Therapeuten, Arbeitgebern und Reha-Managern. Die Unfallversicherungsträger setzen dabei insbesondere auch auf die Planung einer nahtlosen Rehabilitation und zeitnahen beruflichen oder schulischen Wiedereingliederung. Dies wird aus der Grafik in Abb. 4 ebenso ersichtlich wie der frühzeitige Start des Reha-Managements bereits in der Akutphase.

Abb. 4
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Beginn des Rehamanagements bereits in der Akutphase

Erfolgsfaktoren der Rehabilitation

Feste Prozentsätze des Anteils am Reha-Erfolg lassen sich nur schwer der Akutversorgung oder der medizinischen Rehabilitation zuschreiben. Die Basis für den Erfolg sowohl in der Akutversorgung als auch in der medizinischen Rehabilitation ist, dass die jeweils zu erbringende Leistung zu 100 % erbracht wird und damit der bestmögliche Beitrag zum angestrebten Rehabilitationsziel geleistet wird.

Ebenso wie bei anderen Verletzungen sind es auch bei komplexen Handverletzungen diese Fragestellungen, die die Reha-Manager beschäftigen:

  • Ist die Diagnose gesichert?

  • Mit welcher Arbeitsunfähigkeitsdauer ist zu rechnen?

  • Welche Therapiemaßnahmen sind zielführend?

  • Ist die Verlegung in ein handchirurgisches Kompetenzzentrum erforderlich?

  • Wie sieht das Tätigkeitsprofil aus?

  • Gibt es spezielle Arbeitsplatzanforderungen?

  • Welche hemmenden und fördernden Faktoren beeinflussen die Rehabilitation?

  • Ist die Wiedereingliederung am alten Arbeitsplatz realistisch?

  • Gegebenenfalls: Welche berufliche Alternativen kommen in Betracht?

Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen erwarten die Reha-Manager von den Behandlern eine umfassende Befunderhebung und Dokumentation, auf deren Basis eine valide Diagnostik erfolgen kann. Selbstverständlich gehen die Reha-Manager von einer kompetenten Akutversorgung nach aktuellem handchirurgischem Standard aus, die auch ein abgestimmtes Nachbehandlungskonzept beinhaltet. Die Reha-Manager benötigen von den Behandlern die Unterstützung und Beteiligung bei der Reha-Planung. Bei auftretenden Verzögerungen oder Komplikationen erwarten die Reha-Manager eine frühzeitige Rückmeldung geplanter Interventionen bzw. Revisionen um ggf. in gemeinsamer Abstimmung eine Verlegung in ein handchirurgisches Kompetenzzentrum vornehmen zu können. Hierzu ist eine offene Kommunikation unerlässlich. Hinweise, die die Behandler im Hinblick auf Kontextfaktoren gewinnen, sind für die weitere Arbeit der Reha-Manager ausgesprochen hilfreich.

Was können die Behandler von unseren Reha-Managern erwarten?

  • Die Identifikation potenzieller Reha-Managementfälle: Lange Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als 16 Wochen sind ein Kriterium entsprechend dem Handlungsleitfaden; ferner das Aufspüren von Kontextfaktoren, die den weiteren Heilungsverlauf ungünstig beeinflussen. Hinweise von den Behandlern, die die enge Begleitung eines Falles im Rahmen des Reha-Managements als erforderlich sehen, sind hilfreich und gerne willkommen.

  • Zentrale Aufgabe unserer Reha-Manager ist im Rahmen ihrer Lotsenfunktion der frühzeitige intensive Dialog mit allen Beteiligten.

  • Die Reha-Manager liefern den Behandlern ein Tätigkeitsprofil der Versicherten mit allen speziellen Arbeitsplatzanforderungen, um die Zielstellung der weiteren Rehabilitation klar bestimmen zu können und das Delta zwischen Fähigkeitsprofil und Tätigkeitsprofil deutlich herausarbeiten zu können. Die Vornahme der Reha-Planung mit den Verletzten und deren Behandlern und die ständige Überprüfung, Anpassung und Fortschreibung derselben ist zentrale Aufgabe der Reha-Manager. Hierzu erfolgt ggf. auch eine Koordinierung von Reha-Maßnahmen durch die Reha-Manager.

Kontextfaktoren, die bei der Begleitung der Versicherten durch die Reha-Manager identifiziert werden, sollen lösungsorientiert in die weitere Reha-Planung einbezogen werden. Zentraler Aspekt ist die direkte und offene Kommunikation zwischen allen Beteiligten.

Fallbeispiel – Möglichkeiten und Grenzen

Mit dem Fallbeispiel sollen Möglichkeiten und Grenzen des Reha-Managements gezeigt werden.

Unser Versicherter, 49 Jahre alt, langjähriger Küchenchef (gelernter Koch) in einem etablierten Restaurant, erlitt am 14.10.2015 eine offene dislozierte handgelenknahe Radiusmehrfragmentfraktur mit skapholunärer Bandruptur nach einem Sturz. Der Versicherte ist verheiratet, hat 7 Kinder, eine Ehefrau mit erheblichen Sprachproblemen. Ferner leidet er unfallunabhängig an Diabetes. Erfreulicherweise bestand eine starke Betriebsverbundenheit, die sich in zahlreichen persönlichen Kontakten des Versicherten zu seinen Arbeitskollegen und dem Chef seines Betriebs während der Arbeitsunfähigkeit äußerte.

Am 14.10.2015 erfolgte die operative Akutversorgung in einer zum Verletzungsartenverzeichnisverfahren zugelassenen Klinik. Der uns am 15.11.2015 zugegangene Zwischenbericht vom 13.11.2015 sprach von „noch erheblicher Bewegungseinschränkung, zunehmender Konsolidierung der Fraktur“, eine Arbeitsunfähigkeitsprognose bis Ende Februar 2016 wurde gestellt.

Am 25.11.2015 erfolgte die Erörterung mit dem Unfallmedizinischen Service der BGN. Gleichzeitig wurde der Fall ins Reha-Management eingesteuert und der telefonische Erstkontakt mit dem Verletzten aufgenommen. Dabei wurde eine Heilverfahrenskontrolle für den 11.12.2015 zur Reha-Planerstellung in einem handchirurgischen Kompetenzzentrum vereinbart. Hier zeigte sich eine deutlich eiternde Wunde mit Infekt am rechten Handgelenk (Abb. 5a).

Abb. 5
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Unfallfolgezustand der rechten Hand am a 11.12.2015, b 29.02.2016, c 05.10.2016

Darüber hinaus wurde ein Ulnarisschaden diagnostiziert, sodass die sofortige Aufnahme zur stationären Wundrevision in der BGU Ludwigshafen am 16.12.2015 vereinbart wurde. Aufgrund des aktuellen Befundes konnte im Hinblick auf die anstehenden klinischen Maßnahmen keine konkrete Reha-Planung erfolgen.

Nach erfolgreicher Wundrevision erfolgte am 20.01.2016 eine weitere stationäre Aufnahme in der BG Klinik Ludwigshafen zur Rekonstruktion des N. ulnaris, wobei bereits auf eine Reinnervationszeit von bis zu 9 Monaten hingewiesen wurde. Gleichzeitig erfolgte die Rekonstruktion der A. ulnaris, die offenbar ebenfalls bei dem Unfall verletzt wurde. In Abstimmung mit dem Reha-Manager erfolgte die komplex stationäre Rehabilitation vom 18.02.2016 bis 31.03.2016, in deren Rahmen die Reha-Planfortschreibung erfolgte. In Abstimmung mit dem Reha-Manager wurde ein „Kurzurlaub“ wegen der Teilnahme am Elternabend für den Versicherten ermöglicht, weil die Ehefrau aufgrund ihrer Sprachprobleme diesen Termin nicht wahrnehmen konnte.

Die Abb. 5b zeigt den Zustand der Hand vom 29.02.2016 während des Komplexe Stationäre Rehabilitationaufenthaltes.

Nach Ende des stationären Aufenthaltes erfolgte eine weitere regelmäßige ambulante ergo- und physiotherapeutische Behandlung.

Möglichkeiten einer Arbeits- und Belastungserprobung wurden beim Arbeitgeber am 04.04.2016 sondiert, mussten jedoch aufgrund der medizinischen Entwicklung verworfen werden. Ein weiterer persönlicher Arbeitgeberkontakt fand am 09.06.2016 statt. Am 05.10.2016 erfolgte eine weitere Reha-Planfortschreibung.

Der Zustand der Hand (Abb. 5c) vom 05.10.2016 zeigt deutliche Zeichen der Nervenschädigung.

Eine weitere physiotherapeutische Behandlung zur Stärkung der Beweglichkeit und Belastbarkeit erfolgt aktuell. Die berufliche Reintegration am bisherigen Arbeitsplatz ist wegen mangelnder Kraft und Funktion aufgrund unzureichender Reinnervation nicht zu erwarten. Alternativen zur Beschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber sind nicht vorhanden. Eine Abklärung möglicher Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben hat den Wunsch des Verletzten zur Qualifizierung als Straßenbahnfahrer ergeben. Qualifizierte Maßnahmen zur Teilhabe kommen für den Versicherten aufgrund seiner familiären Situation nicht in Betracht.

Trotz engmaschiger Begleitung durch den Reha-Manager und einer zeitnahen und zielstrebigen Mitarbeit des Verletzten ist die Rückkehr in den ehemaligen Beruf als gescheitert zu betrachten. Es gilt jetzt, dem angestrebten Berufswunsch der Qualifizierung zum Straßenbahnfahrer zum Erfolg zu verhelfen.

Fazit für die Praxis

  • Die Reha-Manager als Lotse im Heilverfahren müssen

    • die zielführenden Maßnahmen zur richtigen Zeit treffen,

    • offene und zeitnahe Kommunikation mit allen Beteiligten sicherstellen,

    • Kontextfaktoren, die der Rehabilitation hinderlich oder förderlich sind, identifizieren und berücksichtigen.

  • Die Reha Planung sollte

    • mit realistischen Teilzielen erfolgen,

    • die Motivation des Verletzten aufrechterhalten.

  • Reha-Angebote müssen

    • individuell geplant und dem Einzelfall angepasst werden,

    • eine frühzeitige Hilfsmittelversorgung umfassen.

  • Eine frühzeitige Einbindung des Arbeitgebers

    • gewährleistet eine rechtzeitige Planung der Arbeits- und Belastungserprobung,

    • unterstützt die Wiedereingliederung am alten Arbeitsplatz bzw. die Suche nach einem leidensgerechten Arbeitsplatz.

  • Die Sondierung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sollte erfolgen, sobald feststeht, dass die Rückkehr an den alten Arbeitsplatz nicht mehr möglich ist.

  • Hilfestellungen können Peer-Councelers leisten.

  • Reha-Management erfordert mitunter maßgeschneiderte Lösungen.