Hintergrund

Bis zu 50% aller Polytraumapatienten erleiden eine Beckenverletzung, die per se lebensbedrohlich sein kann. Als Unfallmechanismus zugrunde liegen häufig

  • das Hochrasanztrauma im Rahmen eines Verkehrsunfalls oder

  • ein Sturz aus großer Höhe.

Im Gegensatz zur stabilen Fraktur des älteren Menschen handelt es sich meist um instabile Verletzungen (Abb. 1). Der Verletzte ist aus verschiedenen Gründen als Hochrisikopatient einzustufen: Zum einen kommt es zu einem hohen Blutverlust sowohl durch eine Blutung aus dem spongiösen Knochen als auch aus verletzten venösen Geflechtgefäßen, selten auch arteriellen Gefäßen des kleinen Beckens. Zum anderen bestehen zusätzlich häufig schwerwiegende Begleitverletzungen des Schädels, Thorax oder Abdomens.

Im Rahmen der interdisziplinären Behandlung des polytraumatisierten Patienten ist die Schwere der Begleitverletzungen [z. B. Schädel-Hirn-Trauma (SHT)] oft für das therapeutische Vorgehen entscheidend. Die Prognose und Mortalität werden in der Regel durch die Begleitverletzungen bestimmt [1, 4]. Aus diesen Gründen ist in der Primärphase der Therapie die Kreislaufstabilisierung vorrangiges Prinzip. Die frühe, zeitaufwändige, definitive Versorgung der Beckenfraktur tritt meist zugunsten des „damage control“ in den Hintergrund. Aufgrund der Komplexität der Becken- und Frakturanatomie stellt die operative Versorgung von Beckenfrakturen weiterhin hohe Ansprüche an die chirurgische Therapie.

Abb. 1
figure 1

Komplex instabile Beckenfraktur (meist durch hohe Krafteinwirkungen beim Hochrasanztrauma verursacht)

„Damage control surgery“ in der Beckenchirurgie

Der Begriff des „damage control“ (DC) wurde erstmalig durch die US-Navy geprägt. Er beschrieb das Vorgehen in einer Situation, die das unweigerliche Sinken eines Schiffes zur Folge hat, mit dem Ziel, den größtmöglichen Schaden abzuwenden. Übertragen auf die Chirurgie bedeutet dies den Verzicht auf eine frühe definitive Versorgung zugunsten lebenserhaltender und -sichernder Sofortmaßnahmen.

Medizinisch wurde das DC erstmalig durch Rotondo et al. [7] 1993 zur Behandlung des abdominalen Traumas bei Schwerstverletzten beschrieben. Es folgte die Übertragung des Behandlungskonzepts auf die Gebiete der Neuro-, Wirbelsäulen-, Extremitäten- und Thoraxchirurgie [2, 6, 8, 9]. „Damage control“ bei der Behandlung von Beckenverletzungen bedeutet, in der Primärphase der Behandlung eine Blutungsreduktion durch Kompression und eine Lagerungsstabilität durch Fixation zu erreichen. Hierzu steht eine Reihe von Hilfsmitteln bzw. operativen Maßnahmen zur Verfügung:

  • Beckenschlinge („pelvic sling“)

  • Fixateur externe

  • Beckenzwinge

  • Bauchtuchtamponade

Die Beckenschlinge kommt mittlerweile flächendeckend bereits in der Akutversorgung im Rettungswesen zum Einsatz.

Ein operatives Vorgehen ist für den Einsatz des Fixateur externe, der Beckenzwinge sowie zur offenen Blutungskontrolle notwendig. Ziel der externen Stabilisierung ist es, eine Autotamponade besonders venöser Blutungen aus dem pelvinen und sakralen Plexus zu erreichen und eine kreislaufstabile Situation zur sekundären definitiven Osteosynthese zu schaffen. In unserer Klinik hat sich diesbezüglich die Anlage des Fixateur externe (Abb. 2) als schnelles und technisch einfaches Verfahren als operativer Standard etabliert (etwa 10–15 min Operationszeit). Neben der Lagerungsstabilität ist die erleichterte Mobilisation in der Frühphase auf der Intensivstation von Vorteil.

Selten ist bei durch externe Kompression nicht zu stillender Blutung ein offenes Vorgehen mit Bauchtuchtamponade notwendig.

Die Embolisation oder Ligatur arterieller Gefäße sind nur in Ausnahmefällen erforderlich.

Abb. 2
figure 2

Beckenfixateur als schnelles und einfaches Stabilisierungsverfahren zur Gewährleistung von Lagerungsstabilität und Kompression

Entscheidungskriterien zum „damage control“

Die Indikationen zu einem Vorgehen im Sinne des „damage control“ bei Beckenverletzungen beim Polytraumatisierten sind:

  • Schwierige Kreislaufstabilisierung [>5 Erythrozytenkonzentrate (EK), Thrombozyten <100.000/µl, Temperatur <34°C]

  • Schweres Schädel-Hirn-Trauma [GCS<8 (Glasgow coma scale)] mit Blutung/Schwellung

  • Thoraxtrauma mit bilateralen Lungenkontusionen [AIS>3 („acute injury severity“)]

  • Verletzung großer Extremitätenarterien

  • Multiple Extremitätenverletzungen in Verbindung mit Körperstammverletzung und/oder SHT (Abb. 3)

Abb. 3
figure 3

Multiple Extremitätenverletzungen mit Körperstammverletzung als typische, ein Vorgehen im Sinne des „damage control“ indizierende Begleitverletzung

Definitive osteosynthetische Versorgung

Sie richtet sich nach der Klassifikation und dem Grad der Instabilität der Beckenfraktur. Das funktionelle Ziel liegt in der Herstellung der Belastbarkeit und der bestmöglichen anatomischen Rekonstruktion der Beckenanatomie. Dies erfolgt unter Rücksichtnahme auf die bei Belastung auftretenden hohen Kräfte im Bereich insbesondere des hinteren Beckenrings.

Vor diesem Hintergrund ist der Zeitpunkt zur definitiven Osteosynthese so zeitnah wie möglich und so spät wie nötig zu wählen. In der Literatur ist eine geringere Mortalität für eine Operation nach dem 3. Tag beschrieben [5]. Nur selten können eine primäre offene Reposition und Stabilisierung der Fraktur notwendig werden, z. B. bei:

  • Vorliegen einer begleitenden intraabdominalen Harnblasenruptur

  • Vorliegen einer verhakten Luxation des Hüftgelenks

  • fehlender Möglichkeit einer externen Stabilisierung

  • Vorliegen einer zusätzlich zu stabilisierenden Lendenwirbelkörperfraktur

Aufgrund der Frakturinstabilität erfordern annähernd alle Becken-C- und ein Teil der Becken-B-Frakturen eine osteosynthetische Versorgung. Im Bereich des vorderen Beckenrings kommt häufig die Transfixation der Symphysensprengung durch Platte zum Einsatz. Zur Stabilisierung des hinteren Beckenrings und bei möglicher geschlossener Reposition haben sich die perkutane Transfixation des Iliosakralgelenks bzw. die Osteosynthese von lateralen Sakrumlängsfrakturen durch kanülierte Schrauben bewährt. Ist eine offene Reposition notwendig, wird in dieser Lokalisation die Plattenosteosynthese durchgeführt. Zusätzlich kommt bei Sakrumtrümmerfrakturen mit großer Defektzone und/oder begleitenden Wirbelkörperfrakturen die iliolumbale Transfixation zur Anwendung. Der primär angelegte Fixateur externe kann entsprechend der Frakturmorphologie entweder als auxiliärer Fixateur belassen (z. B. C-Verletzung mit vorderem Beckenring) oder im Sinne eines Verfahrenswechsels (z. B. auf Symphysenplatte bei B1-Verletzung) entfernt werden.

Untersuchung anhand eigener Daten

Zur Analyse der Versorgungsstrategien der Beckenfraktur beim Polytrauma wurden retrospektiv die Daten sämtlicher in den Jahren von 2003–2008 in unserer Klinik behandelter polytraumatisierter Patienten mit Becken- und/oder Azetabulumfraktur erhoben. Erfasste Parameter waren u. a.

  • Unfallmechanismus

  • Alter

  • Klassifikation [AO-Klassifikation (AO: Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen)]

  • ISS („injury severity score“)

  • Begleitverletzung (AIS nach Organsystem: Schädel, Thorax, Abdomen, Wirbelsäule, Extremitäten)

  • Mortalität

  • Operationszeitpunkt und -technik

  • Intensiv- und Klinikaufenthalt

Verletzung

Bei 18% (220/1215) aller polytraumatisierten Patienten waren eine Becken- und/oder Azetabulumfraktur vorhanden. Die Mortalität betrug 6%, 114 Patienten (51%) wurden operiert. Hierbei waren in 142/220 der Fälle isoliert das Becken, in 50/220 das Azetabulum sowie in 28/220 der Fälle Becken und Azetabulum betroffen.

Der Anteil der stabilen Beckenfrakturen (AO-Typ A) betrug 18%, der B-Verletzungen 35% sowie der C-Verletzung 47%. Beim Azetabulum lagen in 56% A-, in 39% B- sowie in 5% C-Verletzungen vor.

Mortalität und ISS

Es bestand kein Zusammenhang zwischen der Instabilität bzw. Klassifikation der Beckenverletzung und der Mortalität, jedoch zwischen der Gesamtverletzungsschwere (ISS) und der Mortalität (Tab. 1, Tab. 2). Diese Ergebnisse reflektieren die aktuelle Studienlage [3, 4]. Die Mortalität wurde überwiegend durch das Schädel-Hirn-Trauma bestimmt.

Tab. 1 Schweregradabhängige Mortalität aller Polytraumapatienten mit Becken-/Azetabulumfraktura
Tab. 2 SHT-abhängige Mortalität aller Polytraumapatienten mit Becken-/Azetabulumfraktura

Begleitverletzungen

Die Analyse der Begleitverletzungen zeigte, dass am häufigsten Extremitäten- (100%) und Thoraxverletzungen (68%) vorlagen (Tab. 3). Ein Unterschied in der Verteilung der Begleitverletzungen zwischen Azetabulum- und Beckenfrakturen bestand nicht. Abdominaltraumen schließen die Verletzungen des Urogenitaltrakts mit ein.

Tab. 3 Häufigkeit der Begleitverletzungen

Operative Stabilisierung

Insgesamt wurden 114 Patienten mit Beckenfraktur und Azetabulumfraktur operiert. Bei 41 Patienten wurde primär ein Fixateur externe angelegt, 8 wurden damit ausbehandelt. Bei 14 Patienten wurde der Fixateur als auxiliäre Stabilisierung des vorderen Beckenrings belassen.

Der Verfahrenswechsel auf interne Osteosynthese erfolgte in der Regel nach 3–4 Tagen. Zur definitiven Osteosynthese der Beckenfrakturen wurde in je 36 Fällen die Symphysenplatte und die ISG-Schraube (ISG: Iliosakralgelenk), in 15 Fällen die iliolumbale Transfixation sowie in 10 Fällen die dorsale Plattenosteosynthese verwendet (Abb. 4). Bei Azetabulumfrakturen erfolgten 20-mal die dorsale und 17-mal die ventrale Osteosynthese mit Platte und Zugschrauben/Cerclage (Abb. 5).

Abb. 4
figure 4

Definitive Osteosynthese des vorderen und hinteren Beckenrings, a Symphysenplatte, b ISG-Schraube, c iliolumbale Transfixation, d dorsale Plattenosteosynthese

Abb. 5
figure 5

Definitive Osteosynthese der Azetabulumfraktur, oben hinterer Pfeiler über dorsalen Zugang (Kocher-Langenbeck-Zugang), unten vorderer Pfeiler über ventralen Zugang (Letournel-Zugang)

Eine Korrelation zwischen der Mortalität und dem Operationszeitpunkt ergab sich nicht, die Mehrzahl der verstorbenen Patienten wurde aufgrund ihrer schweren Begleitverletzungen keiner definitiven Osteosynthese unterzogen (Abb. 6). In 14 Fällen (10%) wurde diese bereits am Unfalltag durchgeführt.

Abb. 6
figure 6

Zusammenhang zwischen Operationszeitpunkt [Tage nach Unfall] und Mortalität