In 2008 anstehende Modernisierung des Unfallversicherungsrechts

Anstelle der bis zum Jahr 2007 angestrebten umfassenden „Reform“ des Leistungs- und Organisationsrechts der gesetzlichen Unfallversicherung kommt in diesem Jahr zunächst einmal nur eine „Modernisierung“. Statt eines Unfallversicherungsreformgesetzes, zu dem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2007 eine Folge von Arbeitsentwürfen vorgelegt hatte, hat das Bundeskabinett am 13.02.2008 den Entwurf eines Unfallversicherungsmodernisierungsgesetzes (UVMG) beschlossen.

In der Automobilindustrie würde man nicht von einem neuen Modell, sondern von Modellpflege eines bewährten Typs sprechen.

Dies muss kein Nachteil sein. Man könnte sagen: Trotz ihres Alters – 2009 besteht sie 125 Jahre – ist die gesetzliche Unfallversicherung ein Erfolgsmodell geblieben. Dies verdankt sie dem nach wie vor stimmigen Grundkonzept ebenso wie einer Folge gründlicher, weitsichtiger und nachhaltiger Maßnahmen der „Modellpflege“ – durch den Gesetzgeber ohne die Kurzatmigkeit in anderen Bereichen und durch die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) selbst im Rahmen der Gestaltungsspielräume, die der Gesetzgeber der Selbstverwaltung bisher zu Recht gegeben hat.

Grundsätzliche Reformansätze

In der politischen Diskussion der letzten Jahre – im Vorfeld der jetzt anstehenden Reform – wurde die gesetzliche Unfallversicherung umfassend und z. T. auch sehr grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt.

So zog eine Fundamentalkritik aus Teilen der mittelständischen Wirtschaft Grundprinzipien der bestehenden gesetzlichen Unfallversicherung in Frage. Es gab und gibt Forderungen, diese aus dem Verbund der Sozialversicherung herauszulösen und der Privatversicherung zu übertragen, zumindest aber Wettbewerb zwischen den Berufsgenossenschaften herzustellen und damit den Unternehmern Wahlfreiheiten bezüglich des Trägers einzuräumen. Gepaart waren diese weitgehenden Vorschläge mit einer Aufteilung der im bestehenden System zusammengehörenden Aufgaben der Prävention, der Heilbehandlung und Rehabilitation sowie der Kompensation auf verschiedene Träger. Der These der Kritiker, dass die getrennte Durchführung dieser 3 Aufgaben sinnvoller sei, steht die Überzeugung gegenüber, dass durch die bestehende Aufgabentrias wichtige Synergien entstehen.

Die maßgebenden Wirtschaftsverbände – Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Deutscher Industrie- und Handelskammertag und Zentralverband des Deutschen Handwerks – gingen in ihrer Kritik nicht so weit, forderten aber neben organisatorischen Straffungen insbesondere einen Umbau im Leistungsrecht mit einer Streichung der Wegeunfälle aus dem Leistungskatalog sowie einem neuen zielgenaueren und sparsameren Rentenrecht.

In der weiteren Diskussion zwischen Bund, Ländern und politischen Parteien standen Fragen der Organisation, der Beitragsgestaltung und Lastenverteilung sowie des Renten- und Berufskrankheitenrechts im Vordergrund.

Organisationsrecht

Hier standen sich folgende Positionen gegenüber:

  • Die Bundesregierung vertrat Zentralisierungstendenzen und wollte den Staatseinfluss zu Lasten der Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung ausweiten.

  • Die Länder betonten den Gedanken der Regionalisierung.

  • Die Sozialpartner und die Selbstverwaltung der gesetzlichen Unfallversicherung dagegen hielten an der Branchengliederung im gewerblichen Bereich und an der Regionalgliederung im öffentlichen Bereich fest und wehrten sich gegen eine Aushöhlung der Selbstverwaltungsrechte.

Beitragsrecht

Hier strebte der Bund zunächst – vor dem Hintergrund von 2 etwas kurzatmigen Reformen des Lastenausgleichs und strukturbedingten Beitragssteigerungen in Teilen der gewerblichen Wirtschaft – eine Nivellierung der Beiträge an. Demgegenüber betonte die Selbstverwaltung, dass an der Beitragsdifferenzierung festzuhalten sei, soweit sie auf den unterschiedlichen Unfallgefahren beruhe; soweit die Beitragsunterschiede hingegen durch den Strukturwandel der Wirtschaft bedingt seien, schlug die Selbstverwaltung vor, den bisher bestehenden Lastenausgleich zu ändern. Sie entwickelte hierzu ein neues Modell der Lastenverteilung, den Überaltlastausgleich für Rentenlasten.

Leistungsrecht

Hier standen sich unterschiedliche Auffassungen der Sozialpartner gegenüber. Während aus Arbeitgebersicht der Versicherungsschutz für Wegeunfälle entfallen, durch einen Umbau des Rentenrechts erhebliche Einsparungen erzielt werden und auch im Berufskrankheitenbereich strengere Grenzen gezogen werden sollten, setzte sich die Versichertenseite für eine Bewahrung des bestehenden Leistungsrechts ein. Eine eher vermittelnde Position nahm insoweit die Politik ein, gestützt von Stimmen aus der Wissenschaft, aber auch von Fachleuten aus der gesetzlichen Unfallversicherung selbst. Danach sollten Reformen im Leistungsbereich nicht so sehr unter dem Blickwinkel von Abbau oder Bewahrung des bestehenden Leistungsniveaus stehen, sondern einer Verbesserung der Zielgenauigkeit dienen.

Wegmarken der Reform

Als wichtigste Stationen auf dem Weg zum heute vorliegenden Regierungsentwurf des UVMG sind festzuhalten:

  • In den Jahren von 2004–2007 wurde zwischen dem Bund, den Ländern und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Unfallversicherung über Verbesserungen im Zusammenspiel zwischen staatlichem Arbeitsschutz und Präventionsarbeit der gesetzlichen Unfallversicherung verhandelt. Dabei wurde die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) entwickelt. Im November 2007 wurde deren Fachkonzept verabschiedet. Es bildet die Grundlage für die Regelungen zu Arbeitsschutz und Prävention im UVMG.

  • Im Jahr 2004 einigten sich der Bund und die Länder darauf, eine Reform des Unfallversicherungsrechts vorzubereiten. Anfang 2005 wurde zu diesem Zweck eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Die Unfallversicherung hat bedauert und kritisiert, dass sie an dieser Arbeitsgruppe nicht ausreichend beteiligt wurde. Die von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgelegten Eckpunkte zur Reform vom 29.06.2006 stellten daher im Wesentlichen einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen des Bundes und der Länder dar. Sie hatten ihren Schwerpunkt im Organisationsrecht, während die Leistungsreform nur in Grundlinien skizziert wurde.

  • Im Regierungsprogramm der großen Koalition von Ende 2005 wurde ausdrücklich das Ziel formuliert, die Unfallversicherung umfassend – sowohl hinsichtlich Organisation als auch hinsichtlich Leistungen – zu reformieren. Dem entsprachen die zwischen Januar und Oktober 2007 vorgelegten Arbeitsentwürfe des BMAS zum UVRG (Unfallversicherungsreformgesetz). Bereits im Sommer 2007 deutete sich allerdings an, dass die Vorschläge zur Rentenreform vielfältigen – teils fachlichen, teils politischen – Einwänden begegneten. Die Regierungsparteien kamen daher überein, die Leistungsreform zurückzustellen.

  • Der Referentenentwurf des BMAS vom November 2007 enthielt daher schon die Bezeichnung als „Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz“. Er beschränkt sich im Wesentlichen auf Regelungen zur Prävention, zur Organisation und zur Lastenverteilung.

  • In dem am 13.02.2008 beschlossenen Regierungsentwurf des UVMG wurden eine Reihe von Änderungsvorschlägen zum Referentenentwurf aufgegriffen, die Grundlinien des Referentenentwurfs aber beibehalten.

  • Mit einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens ist in der 2. Jahreshälfte 2008 zu rechnen. Das UVMG wird dementsprechend voraussichtlich im Herbst 2008 in Kraft treten.

Im Folgenden soll sowohl auf diejenigen Reformenvorstellungen eingegangen werden, die ihren Niederschlag im vorliegenden Entwurf des UVMG gefunden haben, als auch auf diejenigen, die die Reformdiskussion der letzten Jahre geprägt haben, sich aber jetzt im UVMG nicht wiederfinden werden.

Reformenvorstellungen

Prävention: die Dualismusdebatte

Im Bereich der Prävention stehen 2 Probleme im Vordergrund:

Einerseits wird dieses Rechtsgebiet mittlerweile durch staatliches Arbeitsschutzrecht (auf der Ebene der EU und des Bundes) abgedeckt, sodass für Unfallverhütungsvorschriften der Träger der GUV immer weniger Raum bleibt. Der Forderung nach Reduzierung des Vorschriftenwerks der GUV im Interesse der Transparenz des Arbeitsschutzrechts und zum Abbau von Bürokratie sind die Träger und ihre Verbände bereits durch eine weitgehende Reduzierung der Unfallverhütungsvorschriften nachgekommen; dieser Prozess wird fortgesetzt.

Andererseits geht es um Überschneidungen in den Aufgabenbereichen der Präventionsdienste der Träger der GUV und der Arbeitschutzverwaltung der Länder. Hier stellt § 21 Arbeitsschutzgesetz mehrere Abstimmungsmechanismen zur Verfügung. In intensiven Verhandlungen zwischen Bund, Ländern und Verbänden der GUV sind in den letzten Jahren Lösungswege ausgelotet worden. Dies hat Ende 2006 zur Vereinbarung der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) und Ende 2007 zur Verabschiedung des Fachkonzepts der GDA geführt. Der erzielte Konsens wird im UVMG umgesetzt werden. Raum für Unfallverhütungsvorschriften wird es danach nur noch dort geben, wo das staatliche Arbeitsschutzrecht der Ergänzung bedarf. Eine noch engere Koordinierung und Kooperation zwischen den Präventionsdiensten der Träger der GUV und der Arbeitsschutzverwaltung der Bundesländer wird durch gemeinsame landesbezogene Stellen organisiert werden.

Kreis der versicherten Personen

Trotz der weiteren Schritte zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung in der letzten Legislaturperiode stellt die Schwarzarbeit weiterhin ein Problem dar. Die Forderung der Wirtschaftsverbände, den Versicherungsschutz für illegal Beschäftigte abzuschaffen, ist von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe abgelehnt worden. Hingegen sahen die Eckpunkte vor, die nur noch bei wenigen Berufsgenossenschaften vorhandene Pflichtversicherung kraft Satzung für Unternehmer abzuschaffen. Ins UVMG hat dies jedoch nicht Eingang gefunden.

Versicherungsfälle

Wegeunfälle

Im Grunde ist seit ihrer Einführung im Jahr 1925 immer wieder in der Diskussion, ob sie in die GUV einbezogen sein sollen oder nicht. Die Verbände der Wirtschaft fordern seit langem ihre Herausnahme aus dem Versicherungsschutz der GUV, weil die zivilrechtliche Haftung der Unternehmer sich nicht auf Wegeunfälle beziehe und die Präventionsmöglichkeiten der Unternehmer nur sehr begrenzt seien. Hierfür hat sich – bei teils differenzierten Positionen der Bundesländer – keine Mehrheit in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe gefunden. Ein Änderung ist im UVMG nicht vorgesehen.

Berufskrankheitenrecht

Auch hierzu existieren verschiedene Vorschläge. Abgrenzungsprobleme bestehen bei in neuerer Zeit in die Berufskrankheitenliste aufgenommenen Erkrankungen, die in der Bevölkerung weit verbreitet sind und nicht nur aufgrund arbeitsbedingter Risiken, sondern aufgrund vielfältiger anderer Ursachen entstehen können. Im Hinblick hierauf werden insbesondere eine präzisere Benennung und Abgrenzung der Berufskrankheiten gefordert.

Durch eine aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zudem das Problem der zeitlichen Rückwirkung bei Einführung neuer Berufskrankheiten, insbesondere die Gleichbehandlung der Versicherten bei der zeitlichen Rückwirkung besonders aktuell geworden.

Hierzu und zu weiteren regelungsbedürftigen Fragen des Berufskrankheitenrechts sahen die Eckpunkte und der Arbeitsentwurf UVRG im Grundsatz adäquate Präzisierungen und Lösungen vor. Das UVMG klammert jedoch die gesamte Reform des Leistungsrechts aus, da über deren Kernstück – die Rentenreform – kein Konsens in der Koalition und darüber hinaus gefunden wurde.

Heilbehandlung und Rehabilitation

Der Grundsatz, „Heilbehandlung und Rehabilitation mit allen geeigneten Mitteln“ zu betreiben, wurde in der Diskussion teilweise konfrontiert mit dem haushaltsrechtlichen Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Daraus wurde gefolgert, dass insbesondere bei der Vergütung von Ärzten und weiteren Leistungen eine Angleichung an das Recht der Krankenversicherung erfolgen sollte. Auch wurde teilweise gefordert, die Erforderlichkeit der Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken auf den Prüfstand zu stellen. Bereits im Vorfeld der Reform konnten die Verbände der GUV nachweisen, dass die Vergütungen der Ärzte durchaus dem Gebot der Wirtschaftlichkeit – auch im Vergleich zur gesetzlichen Krankenversicherung – entsprechen. In vielen Bereichen – beispielsweise durch die gemeinsamen Regelungen im SGB (Sozialgesetzbuch) IX für die Rehabilitationsleistungen oder durch die Vergütung der meisten Krankenhausleistungen nach Fallpauschalen – hat ohnehin eine Angleichung stattgefunden.

Die Eckpunkte bestätigten den Grundsatz „mit allen geeigneten Mitteln“, um auch weiterhin die erforderlichen Spielräume für eine optimale Herstellung der Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Die im Arbeitsentwurf UVRG vorgesehene Verankerung des Wirtschaftlichkeitsgebots im Recht der GUV entsprach bisheriger Rechtslage und Verwaltungspraxis ebenso wie dem Selbstverständnis der Träger der GUV. Das UVMG spart aus den genannten Gründen auch diesen Teil der Leistungsreform aus.

Rentenbemessung

Einen Schwerpunkt der Reformdiskussion der Jahre 2006/2007 bildete das Rentenrecht. Die derzeit geltende Bemessung der Renten an Versicherte, die auf den abstrakten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) abstellt, weicht von der zivilrechtlichen Grundlage ab. Sie kann im Einzelfall, gemessen am konkret eingetretenen Erwerbsschaden und der Schwere des Gesundheitsschadens, zur Über- oder Unterversorgung der Versicherten führen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Anforderungen, die der Begriff der MdE an Gutachter und Unfallversicherungsträger stellt, streng genommen nur sehr schwer umsetzbar sind. Die Renten aus der GUV werden auf parallel dazu gezahlte Renten der gesetzlichen Rentenversicherung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, aber auch wegen Alters, nach einem gesetzlich festgelegten Modus angerechnet. Dadurch leistet die GUV nicht nur in der Erwerbsphase, sondern auch noch im Alter einen Ausgleich für den Erwerbsschaden.

Hieran setzten die Reformvorschläge in den Eckpunkten und im Arbeitsentwurf UVRG an. Sie sahen insbesondere vor, die Rentenberechnung zielgenauer und bedarfsgerechter auszugestalten. Dementsprechend sollte die Rente der GUV aufgespaltet werden in eine an den verminderten Erwerbsmöglichkeiten ausgerichtete Erwerbsminderungsrente, von der auch Beiträge zur Altersversorgung abgeführt werden sollten, sowie in einen einkommensunabhängigen Ausgleich des immateriellen Gesundheitsschadens. Die Erwerbsminderungsrente sollte auf den Zeitraum bis zum Altersruhestand begrenzt werden. Kleinere Renten sollten verstärkt von Amtswegen abgefunden werden.

Die Ausgestaltung dieses Teils der Reform war schwierig, da gerade hier Interessen und Vorstellungen der Arbeitgeber und Versicherten – ähnlich wie bei den Wegeunfällen – aufeinander prallen. Bei den Reformüberlegungen zur Rentenproblematik der Bund-Länder-Arbeitsgruppe und des BMAS stand ein in der Praxis eines Nachbarlandes – der Schweiz – erprobtes Konzept Pate. Letzten Endes wiesen die im Arbeitsentwurf UVRG vorgesehenen Regelungen aber so viele – fachliche wie politische – Fallstricke auf, dass dieser Teil der Reform – und damit die gesamte Leistungsreform – auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde (nicht mehr in der laufenden Legislaturperiode).

Beitragsgestaltung und Finanzierungssystem

Auch auf die Beitragsgestaltung richteten sich Reformüberlegungen.

Viele der genannten Reformvorschläge, insbesondere aus Kreisen der Wirtschaft hängen damit zusammen, dass in bestimmten Bereichen (Bauwirtschaft, Handwerk) trotz der insgesamt günstigen Beitragsentwicklung der GUV Beitragssteigerungen zu verzeichnen sind. Durch das derzeitige Zusammenspiel der branchenorientierten Organisation, der Beitragsdifferenzierung für Wirtschaftszweige nach Gefahrtarifen und des Bonus-Malus-Systems für die einzelnen Unernehmen sowie des übergreifenden Lastenausgleichs für extrem belastete Berufsgenossenschaften werden Elemente der verursacherbezogenen Beitragsgerechtigkeit, der Präventionsanreize durch die Beitragsgestaltung sowie der Solidarität miteinander kombiniert. Die Eckpunkte sahen vor, durch „intelligente“ Fusionen von Berufsgenossenschaften zu einer starken Nivellierung von deren Durchschnittsbeitragssätzen zu kommen. Aus Sicht der GUV war dies ein untauglicher Weg. Eine Angleichung von Beitragssätzen ist nicht per se begründet, sondern nur insoweit, als wirtschaftliche Strukturveränderungen zu überhöhten Beiträgen führen.

Eng mit den Fragen der Beitragsgestaltung und der Organisation hängt die weitere Frage des Finanzierungssystems zusammen. Im bestehenden System werden die im abgelaufenen Geschäftsjahr angefallenen Leistungen – auch solche für zeitlich weit zurückliegende Versicherungsfälle – auf die aktuelle Unternehmergeneration umgelegt. Die durch dieses „pay-as-you-go“-System bedingte Verlagerung von Belastungen auf zukünftige Unternehmergenerationen wird dann problematisch, wenn die spätere Unternehmergeneration nicht mehr vergleichbar leistungsfähig ist. Durch den wirtschaftlichen Strukturwandel ist diese Situation in vielen Wirtschaftszweigen des produzierenden Gewerbes, insbesondere im Bergbau, in der Binnenschifffahrt und der Bauwirtschaft, aber auch beispielsweise in der Textilindustrie, eingetreten. Die gravierendsten Auswirkungen werden im bestehenden System durch den Lastenausgleich unter den Berufsgenossenschaften aufgefangen. Durch eine Umstellung auf ein kapitalgedecktes Finanzierungssystem könnte diesem Problem für die Zukunft vorgebeugt werden. Dementsprechend war die Forderung nach Einführung eines kapitalgedeckten Finanzierungsverfahrens verbreitet. Eine Privatisierung der GUV wäre zwangsläufig mit der Einführung des Kapitaldeckungsverfahrens verbunden, doch lässt es sich prinzipiell auch im bestehenden System implementieren. Ein Problem dabei wäre allerdings, dass für eine längere Übergangszeit das bisherige Finanzierungssystem für alte Lasten und das Kapitaldeckungsverfahren für neue Lasten kombiniert werden müssten. Dadurch würde zwangsläufig die Belastung der Unternehmen für eine längere Übergangsphase nicht unerheblich steigen.

Der frühere HVBG (Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften) hat daher – sozusagen als dritten Weg anstelle der in den Eckpunkten vorgesehenen Beitragsnivellierung und der im Vorfeld diskutierten Kapitaldeckung – eine Umstellung des bisherigen Lastenausgleichs auf ein übergreifendes System der Verteilung der Rentenlasten unter allen gewerblichen Berufsgenossenschaften nach nachvollziehbaren, dauerhaft tragfähigen Kriterien entwickelt und Ende 2006 der Bundesregierung vorgeschlagen. Dieses Konzept wirkt für Renten nach Arbeitsunfällen ähnlich, wie wenn ein übergreifender Gefahrtarif für alle Berufsgenossenschaften gälte, und trägt der Tatsache, dass Berufskrankheiten meist erst mehr als 30 Jahre nach Beginn der gefährdenden Tätigkeit auftreten – dem sog. Latenzproblem – in geeigneter Weise Rechnung. Die Bundesregierung hat das Konzept im Gesetzentwurf des UVMG berücksichtigt.

Organisationsreform

Ein weiterer Schwerpunkt der Reformüberlegungen liegt bei der Organisation und Trägerstruktur. Im Zeichen von Bürokratieabbau und Effizienzsteigerung, aber auch im Hinblick auf stabile Solidargemeinschaften wurde insbesondere von politischen Parteien und Bundesregierung eine Reduzierung der Trägerzahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften gefordert – bis hin zur Zentralisierung in einem Einheitsträger, wie im Gutachten der Profs. Rürup und Steinmeyer vorgeschlagen. In allen Bereichen der GUV – ob gewerblich, öffentlich oder landwirtschaftlich – ist die Trägerzahl bereits in den letzten Jahren erheblich reduziert worden.

Von Länderseite wurden die Aufgabe der Branchengliederung und eine Zusammenführung der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallkassen zu länderbezogenen Einheitsträgern ins Spiel gebracht. Einer der Hintergründe ist der Privatisierungsprozess bei den bisher von den Kommunen und vom Staat getragenen Unternehmen wie Bahn, Post, Krankenhäuser und Versorgungsunternehmen.

Die Fundamentalkritik aus Teilen des Mittelstandes fordert weitergehende tief greifende Änderungen der Organisation bis hin zur Überführung der GUV in die Hände der Privatversicherung und zur Schaffung von Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen. Je nachdem, wie tief greifend Organisationsfragen der GUV gestellt werden, müssen Fragen der Zuständigkeit, der Finanzierung und sogar des Aufgabenzuschnitts der GUV mitbedacht werden.

Dieser Fundamentalkritik folgt das UVMG nicht. Der Regierungsentwurf des BMAS sieht nunmehr als Mittelweg eine Reduzierung der Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften von derzeit noch 23 auf 9 sowie der Unfallkassen der Länder, Kommunen und Feuerwehren von derzeit noch 27 auf 16 – entsprechend der Zahl der Bundesländer – vor.

Einvernehmen bestand und besteht darüber, dass die beiden früheren Verbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen – HVBG und BUK (Bundesverband der Unfallkassen) – fusionieren und stärkere Befugnisse zur Entwicklung und Durchsetzung gemeinsamer verbindlicher Lösungen in vielen Bereichen erhalten sollten. Die Streitpunkte, ob der zukünftige Verband Körperschaft des öffentlichen Rechts oder – wie bisher – eingetragener Verein sein soll und wie die inneren Strukturen des Verbands geregelt werden sollten (insbesondere Gewichtung zwischen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand), bedürfen keiner gesetzlichen Regelung mehr. Die Bundesregierung hat – nach erheblichen Widerständen – die autonome Fusion zur DGUV (Deutschen Gesetzlichen Unfallvesicherung) e. V. akzeptiert, will aber den Staatseinfluss (Fachaufsicht, Bundesrechnungshof) auf anderem Weg verstärken.

Resümee

Wie eingangs bereits betont, wird die gesetzliche Unfallversicherung durch das UVMG nicht grundlegend reformiert, sondern nach Intention des Gesetzgebers „modernisiert“. Arbeitsschutz und Prävention werden an die Entwicklung der zurückliegenden Jahre angepasst; die ohnehin äußerst geringen Reibungsverluste zwischen staatlichem Arbeitsschutz und Prävention durch die gesetzliche Unfallversicherung sollen minimiert werden. Die Organisation wird gestrafft: Der einheitliche Spitzenverband DGUV ist besser aufgestellt als in der vorausgehenden Konstellation mit getrennten Verbänden für den gewerblichen und den öffentlichen Bereich. Gleiches gilt für die in ihrer Zahl reduzierten Träger; Strukturveränderungen der Wirtschaft werden den größer gewordenen Trägern weniger anhaben können, und Zuständigkeitsprobleme verlieren an Bedeutung, ohne dass die Branchenstruktur aufgegeben wird.

Dass in dieser Legislaturperiode keine Leistungsreform kommt, sollte man der Politik nicht als Schwäche ankreiden. Die im Jahr 2007 vorgelegten Vorschläge hierzu waren weder politisch konsensfähig noch in der Sache völlig ausgereift. Eine Reform gerade in diesem Bereich sollte jedoch in der Sache unstreitige Verbesserungen bringen und von einem möglichst großen sozialpolitischen Konsens getragen werden. Das bestehende Leistungsrecht erfüllt ja seine Aufgabe durchaus passabel. Es weist nur gewisse Schwächen auf, die eine Änderung nahe legen, aber nicht als unumgänglich erforderlich erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund ist es allemal besser, eine Reform um 3 oder 4 Jahre aufzuschieben und diese Zeit für eine intensive Suche nach der besten Lösung zu nutzen, als ein nicht abschließend diskutiertes und in seinen Auswirkungen unsicheres Konzept gegen vielfältige Einwände in Eile durchzusetzen.

In der Reformdiskussion stand die gesetzliche Unfallversicherung in vieler Hinsicht auf dem Prüfstand. Der relativ geringe Änderungsumfang, den das UVMG bringt, zeigt, dass das bestehende Unfallversicherungssystem diese Prüfung hinsichtlich aller seiner konzeptionellen Grundlagen bestanden hat. Entgegen der geäußerten Fundamentalkritik bleibt die gesetzliche Unfallversicherung ein Zweig der Sozialversicherung – ohne Wettbewerb zwischen den Trägern, mit fester, für die Unternehmer verbindlicher Zuständigkeitsordnung. Die Träger sind nach wie vor Körperschaften des öffentlichen Rechts – und keine privatrechtlichen Versicherungsunternehmen. Die Aufgabentrias Prävention/Rehabilitation/Kompensation bleibt erhalten. Dies ermöglicht es, hieraus auch weiterhin – und möglichst noch verstärkt – Synergieeffekte zu erzielen. Auch die Vorteile dezentraler Organisationselemente bleiben erhalten – bei den Berufsgenossenschaften der Branchenbezug, bei den Trägern der Öffentlichen Hand die dem Staatsaufbau entsprechende regionale Gliederung; ebenso die Selbstverwaltung, die nach wie vor stärkere Gestaltungsmöglichkeiten als in den übrigen Zweigen der Sozialversicherung hat. Einen ganz wesentlichen stabilisierenden Faktor stellt die Neuregelung der Lastenverteilung zwischen den gewerblichen Berufsgenossenschaften dar. Sie ermöglicht es einerseits, das Branchenprinzip auch bei weiter fortschreitendem wirtschaftlichem Strukturwandel aufrecht zu erhalten; andererseits führt erst die neue Lastenverteilung dazu, dass auch Berufsgenossenschaften wie die Bergbau-BG, die durch den wirtschaftlichen Strukturwandel extrem belastet sind, sich mit anderen Berufsgenossenschaften vereinigen können.

Nicht zu verkennen ist aber auch, dass die Reform die gesetzliche Unfallversicherung stärker zu einer Einheit formiert, die Gemeinsamkeiten herausarbeitet und damit manches einfacher und transparenter werden lässt. Beispiele hierfür sind:

  • die Reduzierung der Träger, z. B. der Übergang von den bisher regional gegliederten Berufsgenossenschaften der Bau- und Metallindustrie zu bundesweit agierenden großen Trägern oder die Zusammenführung von Feuerwehrunfallkassen, Gemeindeunfallversicherungsträgern und Unfallkassen der Länder zu Landesunfallkassen, z. T. sogar über mehrere Bundesländer hinweg

  • die erwähnte Fusion von HVBG und BUK zur DGUV e. V., verbunden mit einer Stärkung ihrer satzungsrechtlichen Befugnisse. Diese geht allerdings weniger weit, als es Bund und Länder in den Eckpunkten und im Arbeitsentwurf UVRG anstrebten. Zweck ist es, die Eigenständigkeit der Träger zu wahren und die Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung in jedem Träger zu erhalten.

  • Klärung von Zuständigkeitsproblemen zwischen den Trägern. Diesbezüglich haben sich die gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand auf einen zentralen Zuweisungsmodus und eine Streitschlichtung durch eine gemeinsame Schiedsstelle geeinigt.

  • Optimierung der Verwaltungsabläufe und Ergebnisse durch Ausweitung des zwischen vielen Trägern bereits in den letzten Jahren eingeführten Benchmarking auf alle Träger

Es bleibt dringend zu hoffen, dass im Gesetzgebungsverfahren für die wenigen im Dissens verbliebenen Probleme adäquate Lösungen gefunden werden. Den neuen Spitzenverband DGUV e. V. unter Fachaufsicht und unter die Kontrolle des Bundesrechnungshofs zu stellen, ist weder rechtlich nachvollziehbar noch durch aufgetretene Probleme in der Vergangenheit begründbar noch geeignet, die Sozialpartner wie bisher für eine aktive und kreative Ausgestaltung – insbesondere in der Prävention – zu gewinnen und zu motivieren. Bei der Übertragung der Beitragsüberwachung von der gesetzlichen Unfallversicherung auf die gesetzliche Rentenversicherung war die Politik mit der Absicht des Bürokratieabbaus angetreten. Dieses Vorhaben droht zu einem mittleren Fiasko zu werden: Die Unternehmen tauschen die Aussicht, in Zukunft nur noch von der Rentenversicherung geprüft zu werden, gegen eine immense Ausweitung ihrer Meldepflichten und einen finanziellen Mehraufwand ein, der an die bisherigen Verwaltungskosten der gesamten gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland heranreichen kann. Es besteht die große Gefahr, dass eine solche Lösung die gesetzliche Unfallversicherung bei den Unternehmen mehr in Misskredit bringt als die bisherige Einziehung der Insolvenzgeldumlage. Diesen Stein des Anstoßes für manche Kritik wird das UVMG beseitigen – es sollte nicht den Fehler machen, ihn durch einen neuen, noch größeren zu ersetzen.