Sie alle haben als Unfallchirurgen, als Mitarbeiter oder ehrenamtlich Tätige in den Berufsgenossenschaften oder in sonstigen Funktionen mehr oder weniger mit Berufsgenossenschaften zu tun. Deshalb möchte ich Sie an Entwicklungen der Sozialpolitik, aber auch im berufsgenossenschaftlichen Bereich teilhaben lassen.

Sicherlich kennen Sie die Diskussion um notwendige Veränderungen in unseren sozialen Sicherungssystemen. Dieses Thema wird auch in der Agenda der künftigen Regierungskoalition einen herausragenden Stellenwert haben. Wenn auch die Diskussion um die Renten- und Krankenversicherung im Vordergrund steht, so ist seit einiger Zeit auch die Unfallversicherung in hohem Maß mit einbezogen. Schlaglichtartig möchte ich folgende Diskussionspunkte kurz ansprechen:

Einige Verbände, Mittelstandsvereinigungen und politische Gruppierungen fordern eine Privatisierung der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie sind überzeugt, dass eine private Lösung preiswerter für die Unternehmen sei. Dagegen gibt es überzeugende Sachargumente, insbesondere die Tatsache, dass über 90% der Beiträge an die Berufsgenossenschaft, an Unternehmen und Versicherte wieder zurückfließen — in Form von Präventionsleistungen, insbesondere aber Rentenzahlungen, Heilbehandlungs- und Rehabilitationskosten von Unfallverletzten. Die besonders beeinflussbaren Verwaltungskosten liegen bei den Berufsgenossenschaften unter 10% und damit ganz entscheidend niedriger als bei der privaten Assekuranz, die bei den Verwaltungskosten im engeren Sinne schon nahezu 20% erreicht. Bei Miteinrechnung der Kosten für Werbung und Shareholder-Value ergeben sich Werte zwischen 30 und 40%. Es lohnt in diesem Zusammenhang auch ein Blick über die Grenzen. So hat in der Schweiz eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene Studie der Universität St. Gallen ergeben, dass die Kostenvorteile des dortigen, mit dem deutschen nahezu identischen System — ein öffentlich-rechtliches System — deutlich überwiegen, eine Privatisierung der Unfallversicherung somit keinen zusätzlichen volkswirtschaftlichen Nutzen haben würde. Ferner, auch das ist doch beachtenswert, hat sich die Volksrepublik China nach einem weltweiten Systemvergleich kürzlich für die Einführung des deutschen Systems einer Unfallversicherung entschieden.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Monopolstellung der deutschen Unfallversicherung. Kritiker bezweifeln die Konformität der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland mit der EU-Verfassung. Inzwischen sind mehrere Klagen gegen die Pflichtmitgliedschaft von deutschen Sozialgerichten und vom Europäischen Gerichtshof abgewiesen worden und vor einigen Monaten hat auch die EU-Kommission mitgeteilt, dass sie das BG-Monopol für europakonform hält.

Ich bin der Überzeugung, dass unser deutsches System erhaltenswert ist und auch erhalten bleiben wird. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass wir dieses System, wenn wir es erhalten wollen, reformieren müssen. Dieser Auffassung sind auch die Spitzenverbände der Sozialpartner, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund.

Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales diskutiert intern seit 2004 diese Problematik, und auch im Bundesrat gibt es verschiedene Initiativen. So hat die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder einen Beschluss zur Reform der gesetzlichen Unfallversicherung gefasst. Seit Februar 2005 prüft eine Bund-Länder-Kommission Reformfragen zur Unfallversicherung in einem Lenkungsausschuss und in 2 Arbeitsgruppen; die eine zum Thema „Organisation“, die zweite zum Thema „Leistungen bzw. Finanzierung der Berufsgenossenschaften“.

Bei der Konzentrierung der gewerblichen Berufsgenossenschaften wurde bereits einiges erreicht: Gab es vor 2 Jahren noch 35 gewerbliche Berufsgenossenschaften, sind es aktuell nur noch 26. Weitere Fusionen bzw. Kooperationen sind in Vorbereitung.

Ein weit größerer Beitrag zur Senkung der Lohnnebenkosten könnte durch eine Reform des Leistungsrechts erreicht werden. Hier gibt es seitens der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung noch keine zwischen den Sozialpartnern abgestimmte Meinung und somit auch noch keine Vorschläge an die Politik. In vorbereitenden Verwaltungsgremien wird z. B. empfohlen, Renten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bis einschließlich 30% pauschal abzufinden, d. h. also nicht lebenslang zu zahlen. Renten mit einer höheren MdE sollten beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben enden, d. h. anschließend sollte die Rentenversicherung leistungspflichtig werden. Das klingt ganz überzeugend, ist aber heute nicht so, denn die Rente wegen MdE, die ja eigentlich nur in Zeiten der Erwerbsfähigkeit eine Rolle spielen sollte, wird lebenslang bezahlt, obwohl der Einzelne durch seine eigenen Beiträge ja Ansprüche gegen die Rentenversicherung erworben hat. Das ist sicher ein Systemfehler, der korrigiert werden sollte.

Besondere Bedeutung der Diskussion um Veränderungen im Leistungsrecht wird den Wegeunfällen zukommen. Befürworter des Status quo verweisen darauf, dass weltweit Wegeunfälle überwiegend in die Unfallversicherung einbezogen sind. Weiterhin fließt ein nicht unwesentlicher Anteil der Kosten über Regresseinnahmen wieder an die Berufsgenossenschaft zurück. Bei einer Ausgliederung der Wegeunfälle hätten die Berufsgenossenschaften auch nicht mehr die Möglichkeit, diese im Heilverlauf zu steuern, wobei die Berufsgenossenschaft ja bekanntlich das Ziel hat, den Verletzten möglichst schnell wieder in den Betrieb, an den Arbeitsplatz zurückzubringen. Das wäre dann nicht mehr möglich.

Befürworter einer Herausnahme des Wegeunfalls aus dem System der gesetzlichen Unfallversicherung argumentieren hauptsächlich damit, dass dieser Bereich der Einflusssphäre eines Unternehmens weitgehend entzogen ist. Ich bin mir sicher, dass die Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaften hier eine sinnvolle Kompromisslösung finden wird.

Neben Reformen der Organisation und des Leistungsrechts geht es letztlich auch um eine Reform des Finanzierungssystems. Wie Sie wissen, ist die gesetzliche Unfallversicherung rein umlagefinanziert. Dieses System wird für nicht mehr zukunftsfähig gehalten. Es wird deshalb darüber nachgedacht, sukzessive Elemente eines Kapitaldeckungsverfahrens einzuführen. Dieses Vorgehen verspricht eine größere Unabhängigkeit, mindert die Altlastenproblematik und erhöht die Flexibilität des Systems. Leider wird aber zur Einführung eines Kapitaldeckungssystems Kapital benötigt. Aber auch hier könnte es m. E. Lösungsmöglichkeiten geben, denn Spielräume zur Abfederung von unzumutbaren Belastungen der Unternehmen während einer partiellen Umstellung könnten sich daraus ergeben, dass die derzeitige hohe Rentenlast z. T. aus Unfällen resultiert, die sich vor 20, 30 Jahren ereignet haben, und wegen rückläufiger Unfallzahlen allmählich geringer wird. Nimmt man aber Veränderungen im Leistungsspektrum wahr, könnten daraus auch finanzielle Spielräume entstehen.

Nach diesen übergeordneten Überlegungen möchte ich nun überleiten zu den Berührungspunkten zwischen Ärzten und Unfallversicherungsträgern und zu Themen, die besonders in den Rahmen einer Unfallmedizinischen Tagung passen. Nach dem wissenschaftlichen Programm unserer diesjährigen Tagung bewegen wir uns ganz stringent auf einem Weg, dessen Motto nach wie vor lautet: „Mehr Qualität bei weniger Kosten“. Es hieße „Eulen nach Athen“ tragen, wollte ich Ihnen an dieser Stelle die Vorteile und Erfolge eines Berufsgenossenschaftlichen Heilverfahrens aufzeigen; dennoch: Auch hier sind wir angetreten, durch Maßnahmen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität das System fortzuentwickeln.

So haben wir die Neuregelungen des ärztlichen Weiterbildungsrechts in unseren Zulassungsvoraussetzungen für Ärzte und Kliniken verankert. Um aber im Vergleich zum bisherigen Schwerpunkt Unfallchirurgie den Standard zu halten, muss der künftige Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie zusätzlich die Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ nachweisen, um Durchgangsarzt werden zu können. Ein Chefarzt eines zum Verletzungsartenverfahren zugelassenen Krankenhauses muss darüber hinaus mindestens 3 weitere Jahre unfallchirurgisch tätig gewesen sein.

Unsere neuen Anforderungen haben zu einer Verringerung der zugelassenen Kliniken und damit zu der aus Qualitätsgesichtspunkten gewollten Konzentration Schwerunfallverletzter geführt. Nach Ablauf der 5-jährigen Übergangszeit, in der sich die Beteiligten auf die neuen Zulassungsanforderungen einstellen konnten, stehen derzeit im Bereich des Landesverbandes 85 Kliniken zur Verfügung, die der Unfallchirurgie durch das Vorhalten selbstständiger Unfallabteilungen einen hohen Stellenwert einräumen. Bedarfsgerechte unfallchirurgische Versorgung auf hohem Niveau war unser Ziel, und ich denke, mit der Realisierung unseres Konzepts sind wir diesem sehr nahe gekommen.

Weiterhin beschäftigen wir uns auf Anregung des in diesem Jahr federführenden Wissenschaftlichen Leiters unserer Tagung, Prof. Wentzensen, und der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie mit dem Thema „Verbesserung der Versorgung Polytraumatisierter“. Eine vom Landesverband Südwestdeutschland im Frühjahr diesen Jahres hierzu durchgeführte Expertentagung hat bereits erste Optimierungsmöglichkeiten aufgezeigt. Die gesetzliche Unfallversicherung wird sich in diese Thematik einbringen. Konzeptionelle Vorstellungen, parallel dazu die Formulierung persönlicher und sächlicher Voraussetzungen werden diesem Ziel dienen. Es gibt auch positive Signale der Krankenversicherung und des Sozialministeriums Baden-Württemberg, das bei dieser Tagung vertreten war. Das alles lässt mich hoffen, dass es bald zu einem Modellprojekt in unserem Verbandsbereich kommen wird.

In die gleiche Richtung gehen unsere Bemühungen, durch organisatorische Maßnahmen die Rehabilitationschancen Handverletzter und die Versorgung Arbeitsunfallverletzter mit psychischen Gesundheitsschäden zu verbessern.

So haben wir unter Berücksichtigung von Qualitätsgesichtspunkten flächendeckend Handchirurgen benannt, die von den behandelnden D- und H-Ärzten zur Klärung der Diagnose und/oder Mitbehandlung in Anspruch genommen werden können. Entsprechende Regelungen sollen nach Entscheidung des behandelnden D- oder H-Arztes die Mitwirkung von Handchirurgen in schweren Fällen bzw. auch dann sichern, wenn die Schwere der Verletzung primär nicht zu erkennen war, sondern erst nach einem gewissen Zeitablauf zu vermuten ist.

Schließlich soll noch das zum 01.01.2005 in der Unfallversicherung stärker verankerte Ambulante Operieren erwähnt werden, das in ausgewählten Fällen eine Möglichkeit sein kann, mit geringeren Kosten ein optimales Heilergebnis zu erreichen.

Fortentwickelt haben wir auch unser Modellprojekt „Einbindung ärztlicher und nichtärztlicher Psychotherapeuten in das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren“.

Die Freiburger Arbeitsunfallstudie, über deren Ergebnisse am heutigen Nachmittag zu sprechen sein wird, erlaubt es mir, es bei einem kurzen Hinweis zu belassen. Wichtig ist für mich die Erkenntnis, dass das zunächst nur für ambulante Fälle konzipierte Modellprojekt der Landesverbände fast schnittstellenfrei genutzt werden kann, wenn sich schon während der stationären Behandlung die Notwendigkeit der Einbindung von ärztlichen oder nichtärztlichen Psychotherapeuten in das weitere berufsgenossenschaftliche Heilverfahren zeigt.

Auch die gezielte Schmerztherapie nach einem Trauma ist ein Thema, dem wir uns zugewandt haben. Auch hierüber werden wir neue Erkenntnisse und Ansatzpunkte in unserer diesjährigen Tagung erfahren.

Sachgerecht fortentwickelt und qualifiziert wurden ferner unsere Verfahren der Übungsbehandlung mit der Physiotherapie, der EAP und der BGSW. Tragende Elemente hierfür sind die exakter gefassten Definitionen, die Indikationskataloge, Leistungsbeschreibungen und Dokumentationsaufgaben. Zum 01.01.2006 werden diese in Kürze zu veröffentlichenden Regelungen in Kraft treten. Bereits heute darf ich Sie bitten, die sich am Schweregrad der Verletzung orientierenden differenzierten Möglichkeiten der Rehabilitation dann auch zu nutzen.

Eine positive Entwicklung zeigt ferner die Realisierung des Konzepts „Kompetenz-Zentren Reha-Abklärung“, das vor rund 1 Jahr an den BG-Unfallkliniken Tübingen und Ludwigshafen institutionalisiert werden konnte. Im Rahmen eines kurzstationären Aufenthalts wurde unter Einbindung von Unfallchirurgen, Physiotherapeuten, Psychologen sowie ggf. und notwendigerweise weiterer Fachkräfte ein Weg eröffnet, für Fälle mit verzögertem oder unklarem Heilverlauf verbesserte Rehabilitationschancen zu schaffen. Erkennbar wurde, dass auch bei schwieriger Arbeitsmarktsituation eine umfassende medizinische bzw. medizinisch-berufsbezogene diagnostische Abklärung unter Berücksichtigung des aktuellen Leistungsvermögens des Versicherten zur Reintegration so genannter Problemfälle führen kann.

Der Schweizer Schriftsteller und Verleger Emil Oesch sagte einmal: „Zum Erfolg gibt es keinen Lift. Man muss die Treppe benutzen“. Dies gilt auch und insbesondere für unsere Arbeit, die davon geprägt ist, Schritt für Schritt die Qualität in der Prävention und in der Rehabilitation zu verstärken und dabei möglichst Kosten zu senken. Die Zusammenarbeit mit Ihnen ist mir hierfür eine wichtige Voraussetzung, ebenso in der gemeinsamen Zielsetzung, die Unfallversicherung als stabilstes Element in unserem Sozialsystem zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.