Studien, in denen virtuelle Realität als Element der Schmerzbehandlung verwendet wurde, zeigen, dass die analgetische Wirksamkeit dabei maßgeblich von der Immersion abhängt, das heißt von der Intensität, mit der die behandelte Person in die virtuelle Welt eintaucht, sich in ihr vollständig körperlich präsent fühlt. Was passiert dabei im Gehirn und lassen sich die damit einhergehenden neurophysiologischen Prozesse in Richtung einer noch effizienteren Analgesie steuern?

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Auf den Münchner EEG-Tagen bekamen die Teilnehmer virtuell Einblick in die Einbindung virtueller Realität in die Schmerzbehandlung.

Die Versuchsperson balanciert auf einem Balken. Langsam, in kleinen Schritten nähert sie sich dem Punkt, ab dem dieser Balken über die Fassade des Wolkenkratzers hinausragt. Von hier an schwebt der Balken frei über dem Abgrund. Die Aufgabe der Person ist es, bis zum freischwebenden Ende des Balkens zu balancieren. Nun, nachdem sie einen zaghaften Schritt über die Schwelle zum schwierigen Teil der Aufgabe gewagt hat, verlässt sie der Mut. Ihr wird schwindelig. Sie gerät ins Wanken, geht auf die Knie und klammert sich mit beiden Händen an den Balken.

Die Versuchsperson hatte eine Virtual-Reality(VR)-Brille auf, die ihr den Abgrund nur vorgaukelte. Sie wusste, dass sie sich in Wirklichkeit zu jedem Zeitpunkt des Experiments auf dem festen Boden des Forschungslabors befand. "Das ist ein eindrückliches Beispiel dafür, welcher Grad an Immersion (Eintauchen) in eine virtuelle Welt mit der heutigen VR-Technologie erreichbar ist," berichtet Prof. Andrea Kübler, Psychologie, Universität Würzburg. Ein Kernaspekt von Immersion, der oft auch damit gleichgesetzt wird, ist Präsenz. Für keinen der beiden Begriffe existiert bislang eine einheitliche Definition. Präsenz beschreibt Kübler zufolge eher den Wahrnehmungsprozess, dem subjektiven Erleben, sich wirklich in der virtuellen Welt zu befinden. Immersion umfasst darüber hinaus die gesamten Voraussetzungen, die für ein möglichst tiefes Eintauchen in die virtuelle Welt erforderlich sind. Dazu zählen neben den technischen Voraussetzungen, wie einer realistischen und hoch aufgelösten 3D-Grafik, auch die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen seitens der Versuchsperson. "Das tiefe Eintauchen in virtuelle Welten, das wir mit heutigen VR-Systemen induzieren, können wir möglicherweise für die Schmerztherapie noch sehr viel effektiver nutzen," erklärte Kübler.

Zu Beginn der 2000er-Jahre wurden bereits erste Einzelfallstudien vorgestellt, die eine klinisch relevante Schmerzreduktion durch Immersion in einer virtuellen Welt belegten. Dabei erwiesen sich virtuelle Welten, die mit Kälte assoziiert werden, etwa eine Polarlandschaft, als besonders stark analgetisch. Daraufhin entwickelte Dr. Hunter Hoffman, University of Washington, SA/USA, die erste VR-Software zur Schmerzbehandlung - "Snow World" [Hoffman HG et al. Clin J Pain. 2008;24:299-304].

Hoch wirksame, aber zeitlich begrenzte Analgesie

Eine Metaanalyse schloss 20 Studien zur Evaluation der analgetischen Wirkung virtueller Realität ein, davon 14 randomisiert-kontrollierte Studien. Besonders in der Behandlung akuter Schmerzen, etwa während eines Wunddebridements, zeigten sich beachtliche Effektstärken. Auch bei chronischen Schmerzen erwies sich das Eintauchen in eine virtuelle Welt als wirksam, allerdings hielt der Effekt nicht über den Aufenthalt in der virtuellen Welt hinaus an [Mallari B et al. J Pain Res. 2019; 12:2053-85].

Je realistischer die Darstellung, desto höher der Effekt

Über welche Mechanismen virtuelle Realität analgetisch wirkt, kann bislang allerdings nur vermutet werden. Ablenkung vom Schmerzerleben scheint dabei eine Rolle zu spielen, aber auch Körperzugehörigkeitsillusionen, wie sie in der Spiegeltherapie und anderen etablierten schmerztherapeutischen Verfahren bereits genutzt werden. Als weiteres Beispiel nennt Kübler die Gummihandillusion. In den entsprechenden Experimenten wurde den Versuchspersonen eine Gummihand gezeigt, die so platziert war, dass sie ihre echte verdeckte Hand "simulierte". Daraufhin wurden wiederholt beide Hände - Gummihand und echte Hand - an der jeweils korrespondierenden Stelle berührt. Nach erfolgreicher Konditionierung fühlte die Versuchsperson auch dann eine Berührung an ihrer echten Hand, wenn nur die Gummihand berührt wurde. Das Betrachten eines eigenen Körperteils kann dessen Empfindlichkeit gegenüber standardisierten nozizeptiven Reizen reduzieren. So fanden beispielsweise Forschende in Lausanne, Schweiz, heraus, dass dieser Effekt umso stärker ist, je kleiner und je weniger deutlich die als eigen wahrgenommene Hand der Versuchsperson in der virtuellen Welt präsentiert wird [Romano D et al. J Pain. 2016;17:350-8].

Dass der analgetische Effekt virtueller Welten mit der Intensität des Präsenzerlebens korreliert, konnten unter anderem Hoffman und Mitforschende zeigen, indem sie VR-Displays unterschiedlicher Qualität miteinander verglichen. Je realistischer die grafische Darstellung der virtuellen Welt gestaltet war, desto stärker fiel der analgetische Effekt aus [Hoffman HG et al. J Pain. 2006;7:843-50].

Was passiert bei hoher Präsenz im Gehirn?

Um den Einfluss des Präsenzerlebens auf Schmerzen näher zu evaluieren, ist es notwendig, dieses quantitativ und möglichst in Echtzeit zu beurteilen. Subjektive Maße wie Ratingskalen und die Beurteilung des Verhaltens der Versuchsperson in der VR, wie im Beispiel mit dem Balken, sind dazu nur bedingt geeignet. Physiologische Maße, die in bisherigen Studien als Immersionsmarker herangezogen wurden, sind die relativ unspezifischen Parameter Hautwiderstand und Herzfrequenz sowie das EEG.

In einer Auswertung der bisherigen Studien, die nach geeigneten EEG-Indikatoren für Präsenzerleben fahndeten, fiel Kübler auf, dass eine Reduktion von Alphaaktivität im Parietalkortex mit erhöhtem Präsenzerleben einhergeht. Vereinfacht gesagt, zeigt eine verminderte Alphaaktivität in dem betreffenden Gehirnareal eine erhöhte Verarbeitungsaktivität an. Im Parietalkortex lässt sich das plausibel als eine mit dem Eintauchen in die virtuelle Welt zunehmende somatosensorische und räumliche Verarbeitungsdichte und Integrationsaktivität interpretieren.

Auch im Motorkortex war die Alphaaktivität negativ mit dem Präsenzerleben korreliert. Das heißt, Präsenz ging mit einer erhöhten Muskelaktivität einher. Das leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, dass die Versuchspersonen in den virtuellen Welten dann besonders präsent waren, wenn sie starke Beschleunigungen im Raum simuliert bekamen, etwa eine Achterbahnfahrt.

Ebenfalls mit einem erhöhten Präsenzerleben korreliert war die Herunterregulierung der funktionellen Konnektivität vom dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFC) zum posterioren Zingulum (PCC). Das könne, so Kübler, dahingehend interpretiert werden, dass die frontale Top-Down-Regulation, die die parietale multisensorische Integration hemmt, bei einem erhöhten Präsenzerleben heruntergefahren wird. Als Top-Down-Regulation bezeichnet man die überwiegend von frontalen Kortexarealen geleistete Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das in der Prioritätenliste ganz oben Stehende, beispielsweise die Aufgabe, auf die sich die jeweilige Person konzentriert, und dazu andere, dabei unbedeutendere oder störende Reize ausblendet. Wenn die Top-Down-Regulation bei hohem Präsenzerleben herunterreguliert wird, heißt das grob gesagt, dass die Aufmerksamkeit ungehindert den Stimuli folgen kann, die - in diesem Fall aus der virtuellen Welt - auf die Person einströmen.

Was diese Befunde in Bezug auf das Schmerzerleben bedeuten, ist Kübler zufolge noch weitgehend unklar. Ein scheinbarer Widerspruch sei beispielsweise, dass man bei hoher Alphapower eher einen entspannten, potenziell mit Schmerzen inkompatiblen Zustand erwarten würde. Dass aber andererseits hohe Präsenz mit Schmerzlinderung einerseits und mit verminderter parietaler Alphapower einhergingen. Auch wenn man Ablenkung als potenziell schmerzlindernd betrachtet, seien die bisherigen Daten noch nicht stringent: Erfolgreiche Ablenkung würde man eher mit einer erhöhten präfrontalen Verarbeitungsaktivität in Verbindung bringen als mit einer reduzierten.

Kübler A. "Reduktion chronischer Schmerzen durch Brain-Computer Interface basierte Verstärkung des Immersionserlebens in virtuellen Welten", Vortrag 55. Münchner EEG-Tage, 25. 2. 2021