Haben Sie schon einmal etwas von einem primären Kopfschmerztyp gehört, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er immer beim Eisessen auftritt? Oder von einem, der permanent beim Sex stört? Es gibt sie, diese und eine Reihe anderer sonderbar anmutender primärer Kopfschmerzformen, und sie sind keineswegs Raritäten.
"Früher dachte man, all diese Kopfschmerztypen seien erstens selten und zweitens idiopathisch," erklärt Professor Stefan Evers, Neurologie, Universität Münster. Bei genauerer Betrachtung treffe dies aber keineswegs auf alle Syndrome zu, die bisher pauschal unter dem Punkt "Gemischte idiopathische Kopfschmerzstörungen" geführt wurden. Nach ICHD-3, der aktuellen Klassifikation der International Headache Society (IHS) [Cephalalgia 2018;38:1-211], werden sie in Gruppe 4 "Andere primäre Kopfschmerzstörungen" näher differenziert. Deren erste Untergruppe umfasst primäre Kopfschmerztypen, die bei körperlicher Anstrengung auftreten, nämlich primäre Hustenkopfschmerzen (4.1), Anstrengungskopfschmerzen (4.2), mit sexueller Aktivität assoziierte Kopfschmerzen (4.3) und Donnerschlagkopfschmerzen (4.4). Evers zufolge haben diese primären Kopfschmerztypen symptomatische Geschwister, die man tunlichst nicht übersehen sollte: Arnold-Chiari-Malformation Typ 1, Raumforderungen in der hinteren Schädelgrube, arterielle Dissektionen und Aneurysmen, Subarachnoidalblutung, hypertensive Krise und reversibles zerebrales Vasokonstriktionssyndrom (RCVS). Liegt jedoch wirklich ein primärer Kopfschmerztyp dieser Gruppe vor, dann ist dieser oft gut behandelbar, der Hustenkopfschmerz beispielsweise mit Acetazolamid, Methysergid oder Naproxen, der Donnerschlagkopfschmerz mit Paracetamol, Metamizol oder Opioiden. Bei anstrengungs- und sexassoziiertem Kopfschmerz hilft meist schon der Rat, es mit der körperlichen Verausgabung ruhig angehen zu lassen und diese nur langsam zu steigern. In schweren Fällen rät Evers zu einem Therapieversuch mit Propanolol oder Flunarizin.
Von Eisbadern und Kaiserin Sissi
Eine weitere Untergruppe der Gruppe 4 nach ICHD-3 sind "Primäre Kopfschmerzen, die durch direkte physische Stimuli ausgelöst werden". Beim Kältestimulus-Kopfschmerz (4.5) unterscheidet man wiederum den durch äußere Kältereize ausgelösten - Stichwort Ice Bucket Challenge - von dem innerlich hervorgerufenen - Stichwort Eiscreme. Kältekopfschmerz ist oftmals mit Migräne assoziiert. Den "Eiscremekopfschmerz" kennt bis zu einem Drittel der Bevölkerung.
Der durch äußere Kompression hervorgerufene Kopfschmerz (4.6.1) tritt beim Tragen von eng sitzenden Schwimmbrillen oder Helmen auf. Prominentestes historisches Beispiel für eine vom sogenannten externen Traktionskopfschmerz (4.6.2) betroffene Patientin ist Kaiserin Elisabeth von Österreich, alias Sissi. Deren opulente Haartracht zog besonders nach dem Waschen so sehr an ihrer Kopfhaut, dass Majestät die Haare hochbinden musste. Sonst drohte ihr das Syndrom, das mehr als 100 Jahre später als Pferdeschwanzkopfschmerz in die Annalen der Schmerzforschung einging [Blau JN. Headache 2004;44:411-13].
Die Kopfschmerzen aus Abschnitt 4.6 halten selten länger als eine Stunde an und bedürfen außer der Vermeidung des Auslösers in aller Regel keiner Behandlung. Ähnliches gilt für die sogenannten epikraniellen Kopfschmerzen. Dazu gehören der primäre stechende (4.7) und der nummuläre (4.8) Kopfschmerz. Die stechende Variante läuft auch unter Eispickel- oder Hieb- und Stichkopfschmerz, beschrieben als kurze, maximal für wenige Sekunden anhaltende multilokuläre "Stiche" in den Kopf. Auch diese primäre Kopfschmerzform ist häufig mit Migräne assoziiert und kommt bei bis zu einem Drittel der Bevölkerung vor. Wenn eine Behandlung notwendig ist, dann empfiehlt Evers Indometacin oder alternativ Melatonin, Nifedipin oder Gabapentin.
Den nummulären Kopfschmerz erlebt eine betroffene Person als scharf konturiertes, rundes oder elliptisches Schmerzareal von 1-6 cm Durchmesser, oft parietal lokalisiert, selten auch multifokal. Als abzugrenzende symptomatische Varianten sind trigeminale Läsionen sowie Histiozytome oder auch Granulome der Kopfhaut beschrieben worden. Evers berichtete in seinem Vortrag über eine Wirksamkeit von Botulinumtoxininjektionen in Einzelfallbeschreibungen.
Tasse Kaffee am Abend?
In Kapitel 4 des ICHD-3 findet sich auch der schlafbezogene Kopfschmerz (4.9). Er tritt immer aus dem Schlaf heraus auf, definitionsgemäß an mindestens zehn Tagen im Monat. Fast die Hälfte der Betroffenen haben zusätzlich eine Migräne. Evers berichtete über gute Erfolge mit starkem Kaffee am Abend. Ansonsten sei Lithium das Mittel der Wahl und Indometacin, Flunarizin oder Verapamil seien Alternativen.
Das Schlusslicht des Kapitels bildet der neue (neu aufgetretene) täglich persistierende Kopfschmerz (4.10), ein plötzlich einsetzender und über mindestens drei Monate ununterbrochen anhaltender Dauerkopfschmerz. Semiologisch ähnelt er dem chronischen Spannungskopfschmerz (TTH) und der Migräne. "Die Behandlung ist schwierig und die Prognose schlecht," erklärte Evers. Bei migräneähnlichem Bild empfiehlt er einen Versuch mit Valproat oder anderen Antikonvulsiva, bei TTH-ähnlichem Bild mit trizyklischen Antidepressiva.
European Acadamy of Neurology (EAN) Virtual Congress 2020. Session "Integrative treatment of idiopathic headache disorders - Level 3", 26.5.2020, www.eanvirtualcongress.org