Geht es Ihnen auch manchmal so, dass Sie sich angesichts der Datenflut in der Medizin sagen: Mehr Daten bedeuten nicht zwangsläufig mehr Wissen. Neben einer rationalen Betrachtung von "Big-Data" brauchen wir auch eine rationale Betrachtung unseres täglichen Tuns.

Der schottische Arzt William Cullen verwandte, mit der äußerlichen Auftragung von Senfpulver, 1772 erstmals den Begriff "Placebo" (ich werde gefallen). Der Begriff Placebo wurde später bedeutsam für viele Studiendesigns. Placebokontrollierte Studien gelten als höchster Standard in der evidenzbasierten Medizin. Es hat sich gezeigt, dass bei allen Erkrankungen mit hoher subjektiver Ausgestaltung der Placeboanteil 50 % und mehr betragen kann: zum Beispiel bei chronischen Schmerzen, Schlafstörungen und Übelkeit.

Wir wollen Patienten ein Angebot machen, ohne ihnen zu schaden

Welche Faktoren begründen, über rein pharmakologische Eigenschaften hinaus, den Therapieerfolg eines Medikaments? In unserem Alltag sind weiche Faktoren relevant, wie Ängste vor Nebenwirkungen, die Überzeugungskraft des Behandlers, Form, Farbe, Preis eines Arzneimittels, der Applikationsweg, persönliche Vorerfahrungen und Einstellungen des Kranken gegenüber Arzneien, die Adhärenz, kulturelle und soziale Hintergründe sowie die Behandlungsumgebung.

Bewusst oder unbewusst benutzen wir gegenüber unseren Patienten mit chronischen Schmerzen insbesondere Pseudoplacebos. Oft wollen wir offensichtlich einfach Patienten ein Angebot machen, ohne ihnen zu schaden. Nach der Deklaration von Helsinki muss mit dem Patienten offen über einen Therapieversuch mit Pseudoplacebos gesprochen werden, und er muss sich damit einverstanden erklären.

Die Placeboreaktion - ein reales Phänomen

Bei Patienten mit Rückenschmerzen wurde nachgewiesen, dass ein offenes Gespräch über eine Placebobehandlung den Placeboeffekt nicht schwächt! [Carvalho C et al. Pain 2016; 157: 2766] Die Schmerzen verbesserten sich im Placeboarm um -1,49 Punkte auf einer Skala von 0 - 10. Es wurde nachgewiesen, dass eine Schmerzbehandlung mit Placebo endogene Opiate freisetzt, deren Wirkung durch Opioidantagonisten auch wieder aufgehoben werden kann [Finniss DG et al. Lancet 2010; 375: 686].

Die Placeboreaktion ist also ein reales Phänomen in der Schmerzmedizin und beeinflusst unseren Therapieerfolg bedeutsam und nachhaltig.

Wenn Sie also Ihre Vorgehensweisen im Versorgungsalltag überdenken, sollten an dieser Stelle einige Definitionen nachgeholt werden: Als Placebo verstehen wir Scheinarzneimittel ohne (spezifische) Wirkung in einer definierten Indikation. Ein Nocebo hingegen ist eine pharmakologisch unwirksame Substanz, die bei der Anwendung Befürchtungen auslöst, durch die Behandlung zu erkranken. Daneben wird ein aktives Placebo definiert als eine aktive Substanz mit typischen Nebenwirkungen, jedoch ohne Effekt in der definierten Indikation. Ein Pseudoplacebo (unreines Placebo) ist eine pharmakologisch aktive Substanz, ohne spezifische Effekte in der betreffenden Indikation. Offensichtlich verwenden wir im klinischen Alltag vor allem Pseudoplacebos.

Eine Beforschung dieser Effekte in der Schmerzmedizin steht weitgehend aus.

Ihr

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"Mehr Daten bedeuten nicht zwangsläufig mehr Wissen. Neben einer rationalen Betrachtung von "Big-Data" brauchen wir auch eine rationale Betrachtung unseres täglichen Tuns."

Dr. med. Dipl. Lic. Psych. Johannes Horlemann

Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.,

Facharzt für innere Medizin und Allgemeinmedizin, spezielle Schmerztherapie, Kevelaer; Leiter des Regionalen Schmerzzentrums DGS, Kevelaer