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Vor nur 25 Jahren, unmittelbar an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend, machte sich die technikaffine Menschheit noch Gedanken über den sogenannten Millennium-Bug. Dieser „Jahrtausendfehler“ galt dabei als Sinnbild der eingeschränkten Vorstellungsfähigkeiten, aber auch des Pragmatismus der Menschen bei der Entwicklung innovativer Technik. Aufgrund der hohen Kosten für Halbleiter und des begrenzten Speicherplatzes wurde bei der Konzeptionierung von Hard- und Software im letzten Jahrhundert noch nicht vorausgeplant, dass die Speicherung der vierstelligen Jahreszahl spätestens ab dem 1. Januar 2000 eine alltagsrelevante Herausforderung für die digitale Welt werden könnte. In dieser Zeit (vor 1998) waren allerdings auch nur etwa 1 % aller Europäer an das Internet angebunden, an den Siegeszug von Smartphones war noch nicht zu denken und der Großteil der weltweit verfügbaren Informationen war noch nicht digital zugänglich. Man könnte also rückblickend den Eindruck gewinnen, dass die Menschheit noch nicht bereit für diese neue Ära war.

Die Imitation menschlicher Fähigkeiten durch Maschinen ist ein großes Bedürfnis der Naturwissenschaften

Etwas außerhalb des zunehmenden öffentlichen Interesses, in den zahlreichen Innovationszentren der digitalen Revolution, wurde allerdings schon seit mehreren Jahrzehnten an Techniklösungen gearbeitet, die uns alle in ein neues Zeitalter begleiten würden. Bereits in den frühen 1980er-Jahren wurden erste Konzepte zu Quantencomputern präsentiert, die bis heute als Schlüsseltechnologie der Informatik gelten. Noch drei Jahrzehnte früher haben Mathematiker und Programmierer die theoretischen Grundsteine dafür gelegt, was in den 1950er-Jahren unter dem Begriff „künstliche Intelligenz“ (KI) in die Geschichtsbücher eingehen würde. Die Imitation menschlicher kognitiver Fähigkeiten durch unbelebte Maschinen war seit jeher ein großes Bedürfnis der beteiligten Naturwissenschaften, hat aber auch Geistes- und Sozialwissenschaftler über Generationen beschäftigt. Im Jahr 1966 hat der Informatiker Joseph Weizenbaum das Computerprogramm ELIZA entwickelt, das auf einer rudimentären natürlichen Sprachverarbeitung basierte und ein psychotherapeutisches Gespräch zwischen Mensch und Maschine ermöglichte.

Heute, im Jahr 2024 und im Zentrum globaler Krisen und Kriege, sieht die digitalisierte Technikwelt bereits grundlegend anders aus. Autonomes Fahren und Fliegen, personalisierte Werbung, Business Intelligence und intelligente Raumüberwachung begleiten uns im Alltag. In der Gesundheitsversorgung stehen zunehmend digitale Gesundheitsanwendungen und Apps zur Verfügung. Klinische Informationssysteme unterstützen Risikovorhersagen sowie Behandlungspfade und optimieren dabei passiv die Behandlung und Dokumentation mit dem Ziel, Medizin effizienter zu gestalten. Erste Wissenschaftsverlage, aber auch die Populärmedien, beschäftigen sich bereits mit dem Einfluss generativer Intelligenz auf das Urheberrecht, da sich hierdurch neue Geschäftsfelder entwickeln. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten.

Das bereits in der europäischen Grundrechtecharta verankerte Recht auf freiheitliche informationelle Selbstbestimmung ist zunehmend in Gefahr, weil die Kontrolle über die personenbezogenen Daten durch omnipräsente Datenspenden verloren geht und teilweise auch missbräuchlich entzogen wird. Krankenhäuser und Gesundheitsunternehmen werden immer wieder Opfer von Ransomware oder Hackerangriffen und müssen über Wochen offline gehen. Nicht jede digitale Havarie oder Verstöße gegen die Datenschutzgesetze wurden dabei allerdings öffentlich gemacht und die Dunkelziffer ist hoch. Der Einfluss zivil- und sozialrechtlicher Gesetze bei der Nutzung selbstlernender Algorithmen ist nicht geklärt und führt zu potenziellen Haftungsrisiken. Zu guter Letzt ist die jüngere Forschungsgeschichte auch begleitet von fehlerhaften Methoden und Vorhersagemodellen, die teilweise auf unzureichenden Trainingsdaten beruhen. Juristen bezeichnen diese Phänomene mitunter als Intelligenzrisiko und es erscheint naheliegend, dass die unüberschaubare Komplexität der Vernetzung und Datenverarbeitung oder sogar gänzlich unerklärbare selbstadaptive Algorithmen in Betroffenenrechte eingreifen, ohne dass wir es erkennen.

Die heutzutage erforderlichen Technik- und Methodenkompetenzen sind vielfältig

Die heutzutage erforderlichen Technik- und Methodenkompetenzen sind vielfältig und nicht jeder interessiert sich für den eigenen digitalen Finger- oder Fußabdruck, den wir alle unweigerlich im Internet hinterlassen.

Das nachvollziehbar große Interesse für technische Innovationen und die unübersehbare globale Aufbruchstimmung bei der Nutzung von KI scheinen subjektiv zu einer eher positiven Bewertung der Vorteile bei potenzieller Unterbewertung der Risiken zu führen. Obwohl für bestimmte Techniken, z. B. aus dem Bereich der robotischen Gefäßchirurgie, bis heute kein adäquater Wirksamkeitsnachweis und teilweise auch keine gefäßchirurgische Produktzulassung der marktüblichen Geräte existiert, entsteht in der internationalen Community auf Kongressen und beim Lesen der Publikationen der Eindruck, dass Innovationen und Zukunftspotenziale retrospektiv durch Daten belegt werden sollen. Dies gilt gleichermaßen für maschinelle Lernverfahren, die immer neue prädiktive Vorhersagemodelle an anderen Datenquellen hervorbringen. Die Europäische Union (EU) hat dies erkannt und in den letzten 30 Jahren intensiv an einer Reform des Rechtsrahmens sowie an einer umfassenden Digitalisierungsstrategie gearbeitet. Obwohl wir alle bereits von der Datenschutzgrundverordnung oder Medizinproduktregulation tangiert bzw. eingeschränkt wurden, haben die Reformen auch Rechtsklarheit geschaffen. Mit dem neuen Gesetz über die KI in der EU sind auch in diesem Bereich weitreichende Folgen zu erwarten. Insbesondere im Bereich der sogenannten „starken KI“ wird aufgrund der unvorhersehbaren Folgen eine strukturierte Registrierung und Prüfung gefordert – das schließt den Großteil der medizinischen Anwendungen ein.

Ob man persönlich eher die Risiken oder Potenziale der digitalen Gesundheitsversorgung sieht, spielt für die absehbare Entwicklung der nächsten Jahre vermutlich keine Rolle. Die globale Suche nach Trainingsdaten für lernende Algorithmen nimmt weiter zu und die Vernetzung von Registern und Bilddaten wird sowohl über Erfolge aber auch Misserfolge letztlich zu einer Verbesserung der Techniken führen. Nur durch Nutzung der Techniken und Methoden entwickelt sich das Feld weiter.

Bereits heute sind etwa zwei von drei Patienten mit einer symptomatischen peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK) im Besitz der notwendigen Smartphones, um patientenzentrierte KI auch in den gefäßchirurgischen Alltag zu implementieren.

Wearables tragen auch zu einer effizienteren Gestaltung der Arzt-Patienten-Kommunikation bei

Die Integration von Wearables in die Gefäßmedizin ermöglicht nicht nur eine bessere Früherkennung und Überwachung bestehender Erkrankungen, sondern auch eine präventive Gesundheitsvorsorge. Durch die kontinuierliche Aufzeichnung von Bewegungsdaten können Patienten motiviert werden, einen aktiven Lebensstil zu pflegen, was wiederum das Risiko von Gefäßerkrankungen senkt bzw. deren Prognose verbessert. Diese präventive Dimension stellt einen wichtigen Schritt in Richtung ganzheitlicher Gesundheitsversorgung dar. Neben den direkten Vorteilen für die Patienten tragen Wearables auch zu einer effizienteren Gestaltung der Arzt-Patienten-Kommunikation bei. Durch den Zugang zu Echtzeitdaten können Ärzte fundierte Entscheidungen treffen und individuelle Therapiepläne entwickeln.

Nur wenn wir uns als moderne Gefäßchirurgie offen gegenüber dem digitalen Fortschritt zeigen und das Thema aus der wissenschaftlichen Nische in die breite Fläche der vaskulären Versorgung tragen, können unsere Patienten hiervon profitieren. Das bedeutet auch, dass die Standards der evidenzbasierten Medizin und der Wissenschaftsvorbehalt in der Versorgung nicht gedankenlos umgangen werden. Digitale Gesundheitsanwendungen, KI-basierte Risikovorhersagemodelle und Techniken aus dem Bereich der Robotik sollten angemessen evaluiert werden, bevor sie außerhalb von Studien Anwendung finden.

Die Kollegen Freyer und Rizas aus München geben uns in dem aktuellen Themenheft einen spannenden Einblick in die Erfahrungen mit Wearables in der Kardiologie. Mit bemerkenswertem Tempo und großen Machbarkeitsstudien scheint unser Schwesterfach der Herz-Kreislauf-Medizin bereits viele Meilensteine erreicht zu haben. Dass die Nutzung moderner Technologien auch im ambulanten Sektor auf große ungeborgene Potenziale trifft, hat unser Kollege Pavlos Tsantilas aus Augsburg hervorragend herausgearbeitet. Es erscheint wichtig, dass wir uns mit digitalen Gesundheitsanwendungen in der Behandlung der symptomatischen peripheren arteriellen Verschlusskrankheit näher befassen. Der ambulante Sektor spielt dabei eine hervorgehobene Rolle. Mit derartigen digitalen Gesundheitsanwendungen und insbesondere mit dem Spannungsfeld der ethisch-rechtlichen Rahmenbedingungen hat sich Simone Kuhlmann in ihrer interessanten rechtswissenschaftlichen Übersicht befasst. Frau Kuhlmann hat kürzlich ein Young Investigator Fellowship am Zentrum für verantwortungsbewusste Digitalisierung in Frankfurt angetreten und wir dürfen gespannt sein, wie groß die Schnittmengen zwischen den Rechts- und Humanwissenschaften in den nächsten Jahren noch werden. Noch ein wenig abstrakter und mit besonderem Augenmerk auf die Anwendung der künstlichen Intelligenz in der Gefäßmedizin hat die zuständige Kommission der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e. V. in ihrer Übersicht auch die potenziellen Gefahren herausgearbeitet.

Viel Spaß bei der Lektüre, Ihre

Christian-Alexander Behrendt

Nikolaos Tsilimparis