Die Initiative „Gemeinsam Klug Entscheiden“ der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) will sich an internationalen Choosing-wisely-Programmen orientieren und Versorgungspraktiken in Deutschland kritisch hinterfragen und neben den etablierten Leitlinien wissenschaftlich begründete Positiv- und Negativ-Empfehlungen vor allen Dingen für die Indikationsstellung von diagnostischen und therapeutischen Verfahren erarbeiten. Damit hat die AWMF eine Qualitätsoffensive gestartet. Empfehlungen zu wichtigen Gesundheitsfragen sollen eine breite Diskussion erfahren. Das Motto „sinnvolle Medizin in einem Hochleistungsgesundheitssystem“ bringt das Problem auf den Punkt. Wir haben als Fachgesellschaft die unausgesprochene Aufforderung angenommen, uns mit dem Thema unnötiger oder sogar schädlicher medizinischer Leistungen zu beschäftigen und unsere Qualität der Positiv-Empfehlungen zur Indikationsstellung darzulegen.

Nun könnte man meinen, dass dies durch die Leitlinien ausreichend abgedeckt wird. Leitlinien beschreiben vor allen Dingen einen Korridor für Indikationsstellungen, gehen aber selten auf eindeutige Negativ-Empfehlungen ein. Dies ist mit der Datenbasis von Leitlinien begründet. Sehr selten werden evidenzbasierte negative Ergebnisse publiziert. Darüber hinaus ist der Umfang von zum Beispiel S3-Leitlinien inzwischen so umfangreich geworden, dass sie für den gestressten Kliniker und erst recht für den viele Gebiete abdeckenden Hausarzt praktischerweise gar nicht mehr lesbar sind. Die Kunst des Tuns oder Lassens, wobei Letzteres die schwierigere Entscheidung für den Chirurgen darstellt, ist eine gemeinsame Aufgabe für Arzt und informiertem Patienten. Diese Abwägung ist unverzichtbarer Teil der partizipativen Aufklärung und Entscheidungsfindung. Es sollte aber nicht allein identifiziert werden, welche medizinischen Leistungen kritisch zu hinterfragen sind, sondern es sollten auch Leistungen erkannt werden, die zu selten in Anspruch genommen werden und deshalb stärker in das Bewusstsein der zuweisenden Ärzte gestellt und unterstützt werden sollte. Ziel ist eine individualisierte und damit bessere Medizin. Die Initiative setzt dort an, wo Leitlinien nicht umgesetzt werden können oder fehlen. Am Ende sollen klug ausgewählte Empfehlungen als Wissensgrundlage für wissenschaftlich und ethisch begründete Entscheidungen stehen. Das Thema Fehlversorgung betrifft nicht nur die Arzt-Patienten-Interaktion und kann in diesem Feld auch nicht gelöst werden. Die Initiative ist auch eine kritische Antwort auf die zunehmend marktwirtschaftliche Orientierung des Gesundheitssystems und soll Anreize für wissenschaftliche Projekte der Versorgungsforschung bieten. Eine wichtige Rolle können diese Empfehlungen für die Weiterbildung darstellen, weil es gerade dem Berufsanfänger schier unmöglich ist, sich durch umfangreiche Leitlinien durchzuarbeiten und die nicht selten verklausulierten Kompromisse der Konsensfindung zu verstehen. Hier kann im Sinne von „Gemeinsam Klug Entscheiden“ sorgfältig aufbereitete Evidenz in kurzer und prägnanter Form den Weiterzubildenden früh und zeitökonomisch in die Verantwortung bringen, „kluge Entscheidungen“ zu treffen. Weiterbildenden auf der anderen Seite ist damit ein prägnantes Instrument an die Hand gegeben, ihre Vorstellung von einer klaren Indikationsstellung in der Klinik zu kommunizieren. Dies lässt sich problemlos auf die Zuweiser übertragen. Eine Kommunikation dieser Informationen an den Zuweiser ist der nächste logische Schritt. Die in diesem Heft publizierten Artikel sind das Ergebnis unsere Anstrengungen, dies auch für die Gefäßmedizin zu formulieren. Ich bin den Autoren sehr dankbar, sich auf dieses publikatorische Neuland eingelassen zu haben. Wichtige Protagonisten und Spezialisten für die einzelnen Themen haben dies, wie ich denke, hervorragend umgesetzt. Die Majorität unseres Fachgebiets ist mit den Beiträgen über das Bauchaortenaneurysma von R. T. Grundmann und E. S. Debus, die chronische Wunde von E. K. Stürmer und M. Storck, die Karotisstenose von P. Tsantilas et al., das diabetische Fußsyndrom von C. Uhl et al., die Aortendissektion von D. Böckler et al., das thorakale Aneurysma von T. Kölbel et al. und die PAVK von T. Betz et al. abgedeckt. Ich wünsche erhellende Momente bei der Lektüre und empfehle, die Artikel auch den Zuweisern zu kommunizieren.

Ein Lesetipp am Ende: Schauen Sie sich zunächst die Positivempfehlungen und Negativempfehlungen an und vertiefen Sie Ihr Wissen dann mit dem begründenden Text. Seien Sie mutig in der Umsetzung.

Herzlichst Ihr

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Thomas Schmitz-Rixen

Professor für Gefäßchirurgie

Direktor und Geschäftsführer des

Deutschen Instituts für Gefäßmedizinische Gesundheitsforschung gGmbH, Berlin