Als ich zuletzt auf dem Facharztseminar „Gefäßchirurgie“ des Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) im Anschluss an meinen Vortrag gefragt wurde, ob ich mich für einen alten oder jungen Gefäßchirurgen halte, war meine spontane Antwort – „ich bin ein Dino“. Weniger, weil ich einen Meteoriteneinschlag fürchte, als vielmehr, weil ich im Rahmen meiner Ausbildung vieles gelernt habe, was die jungen Gefäßmediziner von heute nicht mehr beigebracht bekommen. Dafür lernen sie aber viele andere Techniken, die ich dafür nie in der Professionalität erlernen werde, wie die neue Generation.

Dies ist gilt auch für den Umgang mit Daten. Vor sich liegen haben Sie Teil 2 von Real-world-Evidenz. In der Einleitung zu Teil 1 der Thematik (Heft 1/19) hat Herr Behrendt auf die möglichen Schnittmengen von Real-world-Evidence und Big Data hingewiesen [1]. Und wenn Sie aufmerksam die Editorials lesen, erinnern Sie sich vielleicht an meinen Hinweis auf das Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ [2], dessen Schlussfolgerungen in Bezug auf Bio- und Informationstechnologie ich eher beunruhigend fand [3]. Interessant, wie unterschiedlich die Szenarien wahrgenommen werden – Herr Flessenkämper schrieb mir, „seine Gedanken waren Anreiz, für mich aber keineswegs beunruhigend“.

Während wir viele Dinge mitbekommen – z. B. wie Algorithmen Einzug in den Alltag halten (werden) [3], läuft vieles unbemerkt unter der Oberfläche ab. Vielleicht kennen Sie die folgende Geschichte [4]: Der Vater einer jungen Frau betrat wutentbrannt eine Filiale einer Supermarktkette in der Nähe von Minneapolis (USA). Seine Tochter – sie ging noch zur High School – hatte mit der Post Coupons für Babykleidung und Kinderbettchen erhalten. Er schimpfte „Wollen Sie sie ermutigen, schwanger zu werden?“. Der Filialleiter war sehr überrascht, entdeckte das Mädchen auf dem Postverteiler, entschuldigte sich, und strich sie von der Liste. Ein paar Wochen später meldete sich der Mann bei der Filiale. Tatsächlich war die Tochter schwanger. Also wusste die Supermarktkette vor dem Vater, was los war.

Können Sie sich vorstellen, wie sehr Ihr Verhalten vorhersehbar ist?

Zugrunde lag ein Marketing-Schachzug der Supermarktkette. Man hatte junge Mütter als Zielgruppe auserkoren. Aus dem Kaufverhalten schwangerer Frauen (z. B. erstanden Frauen in den ersten 20 Wochen der Schwangerschaft deutlich mehr Kalzium, Magnsium und Zink, oder wechselten auf parfümfreie Lotionen) ermittelten Analytiker ein Modell, mit dessen Hilfe aus der gesamten Kundendatei Frauen mit diesem Kaufverhalten ermittelt werden konnten [4]. Diese Geschichte stammt aus dem Jahr 2012 (!). Können Sie sich vorstellen, wie viele Daten heutzutage von Ihnen vorliegen, und wie sehr Ihr Verhalten vorhersehbar ist? Darauf geht Havari in seinem Buch übrigens auch ein und schlussfolgert, dass die Algorithmen besser wissen, was Sie eigentlich wollen, als Sie selbst [2]. Auch weiß der Computer heutzutage anhand dessen, wie Sie tippen, wer dort am Rechner sitzt. Die Art und Weise, wie Eingabegeräte bedient werden, soll so einzigartig sein wie ein Fingerabdruck und dann als Authentifizierungshilfe, aber auch zur Identifizierung benutzt werden [5]. Diese „keystroke biometrics“ sind Teil der Verhaltensanalyse, „behavioral analysis“ [5].

Wenn Sie nun noch vielleicht ein anderes Buch vor Augen haben: NSA – Nationale Sicherheitsbehörde von Andreas Eschbach [6], in dem die Folgen einer zentralen Datenverarbeitung in einem totalitären Regime dargestellt werden (Server sind „Datensilos“, Passwörter „Parolen“ und Programmierer „Strickerinnen“, Bargeld und tragbare Speicher werden verboten), werden Sie vielleicht doch häufiger wieder mit Bargeld zahlen – ich tue es zumindest, auch wenn ich ein Amazon Echo-Gerät mit Alexa mein eigen nenne. Womit sich nämlich der Bogen zur Bequemlichkeit zieht. Ist es nicht sagenhaft? Man sitzt auf der Couch und wünscht sich von Alexa in Captain-Kirk-Manier dieses oder jenes Lied oder einen „Radiosender, der Dir vielleicht gefällt“. Seitdem ich aber entdeckt habe, dass viele Alben auch wieder auf Vinyl herausgegeben werden, habe ich meinen alten Schallplattenspieler überholen lassen, und meine komplett analoge Stereoanlage inklusive der großen Boxen wieder im Wohnzimmer aufgebaut.

Bin ich ein Dino? Zumindest denke ich das dann, wenn ich aufstehen muss, um nach 20 min die Schallplatte umzudrehen, und vorsichtig die Nadel am Rand aufsetze und das schöne Knistern höre, bevor das Lied beginnt. Oder wenn ich meine E‑Gitarre in den alten Vollröhrenverstärker einstöpsele. Alexa kann das nämlich nicht. Aber dies bekommt dann auch niemand mit – außer den Nachbarn, wenn der Lautstärkeregler zu weit aufgedreht ist. Wie Sie sehen, bin ich der Meinung, dass man sich immer ein Stück (analoge) Unabhängigkeit bewahren sollte.

Leider muss ich Ihnen an dieser Stelle mitteilen, dass ein Stück Unabhängigkeit der Zeitschrift Gefässchirurgie verloren gegangen ist. Wie Sie wissen, hatten wir mit der Open-Choice-Publikation die Möglichkeit, Artikel unserer Zeitschrift bei PubMed platzieren zu können, ohne dass die Gefässchirurgie dort gelistet ist. Dies war auch eines der Werkzeuge, um häufiger gefunden und zitiert zu werden. Laut Analysen hat dieses Konzept tatsächlich den gewünschten Erfolg gebracht. Leider wurde diese Option von PubMed zum 01.01.2019 gestrichen. Zwar können wir/Sie Open Access in der Gefässchirurgie publizieren, und der Artikel wird auch über Springer-Link, Google, Google Scholar etc. gefunden werden, aber eben nicht mehr in PubMed.

Welche Konsequenzen das für den Fokus der Zeitschrift haben wird, ist noch nicht abzusehen. Herausgeber und Fachgesellschaften werden sich hierzu zusammensetzen und Konzepte erstellen.

Aber: Die Zeitschrift wird weiterhin gelesen, und – wie ich öfter zu hören bekomme – geschätzt. Dies erkennen Sie auch daran, dass Leserbriefe geschrieben, publiziert und beantwortet werden.

Von daher: Ungeachtet der verlorenen Open-Choice-Option brauchen wir a) gute Artikel und b) Zitationen in anderen Zeitschriften – ich habe ja schon mehrfach darauf hingewiesen. Jetzt mehr denn je.

In diesem Sinne wünsche ich – wie immer an dieser Stelle – viel Spaß mit der vorliegenden Ausgabe.

Herzlichst, Ihr

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Prof. Dr. A. Larena-Avellaneda