Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts galt es als unumstößliche Wahrheit, dass alle Schwäne weiß seien. Erst als die ersten Europäer einen schwarzen Schwan in Australien sahen, war es mit dieser „scheinbaren Wahrheit“ vorbei. Der Philosoph Karl Popper setzte den schwarzen Schwan als Synonym für das Ende einer bis dahin als sicher geltenden Wahrheit.

„Der schwarze Schwan“

Gabor Steingart [11] sagt: „Wenn der schwarze Schwan als Sendbote einer neuen Zeit gilt, in der die alten Wahrscheinlichkeiten nicht mehr gelten, – dann sind wir ihm in jüngster Zeit häufig begegnet“. Es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht einem „tief greifenden Wandel“ unterworfen wäre: Werthaltungen und damit Lebensstile, Persönlichkeitsstrukturen und damit soziales Umfeld und Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten Jahren tief greifend verändert. Mit dem Übergang in die „Postmoderne“ erleben wir einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch unglaublichen Ausmaßes. Da die postmodernen Veränderungen in ihrer Ausbreitung und Auswirkung keine Ländergrenzen kennen, ist eine kurze Reflexion aus meiner Sicht für unsere Dreiländertagung geeignet.

Die Moderne: die soziale Organisation der Steigerung „schneller, schöner, stärker, höher”

Das Leben in der Moderne war scheinbar noch einfach. Die Zeit war geprägt durch den Glauben an eine kontinuierliche positive Vorwärtsentwicklung, an permanenten wirtschaftlichen Fortschritt an ungebremste Wissenschaftsgläubigkeit. Es galt noch der Glaube an das eine große Ding, an den charismatischen Künstler, an den charismatischen Politiker – Fachwissen und Charisma reichten, um gut führen zu können. Es war die Zeit der Ismen: Sozialismus, Nationalismus, Liberalismus, Kapitalismus versuchten, die Gesamtentwürfe der Gesellschaft zu ordnen und vor allem zu planen. Und man glaubte noch eine Planbarkeit derselben.

„Der Mensch in der Moderne verstand sich als „Schaffer“, er arbeitete zielgerichtet, gerne und viel“ sagt Gert Meyer [6]. Die eigene Leistungsfähigkeit wurde als zentraler Wert empfunden und lieferte im Idealfall neue Energie und Kraft. Die Welt war begreiflich und vernünftig. Und deswegen war die Welt im Vergleich zu heute noch einfach.

„Modern sein ist unmodern geworden“ (W. Adorno)

Am Ende des vorigen Jahrhunderts – niemand weiß genau wann – wurde es plötzlich unmodern modern zu sein (Adorno). Der Kritikansatz an der Moderne ging in zweierlei Richtungen: Einerseits wurde den ordnenden Ismen der Moderne nun vorgeworfen, sie seien doch nur „theoretische Konstruktionen“ gewesen, die nicht im Stande gewesen seien, nachhaltige gesellschaftliche Gesamtlösungen herbeizuführen. Zum anderen wurde die Vorrangstellung von Vernunft, Wahrheit, Schönheit und Logik kritisiert. Sie führe dazu, dass das Irrationale, das Verrückte, das Bedeutungslose und das Unlogische ausgesperrt bliebe [4].

Die Postmoderne will auch diese „Werte“ dem Vernünftigen, „Wahren“ und Schönen gleichwertig gegenüberstellen.

„Anything goes“ (Paul Feyerabend)

Paul Feyerabend erfindet die wohl treffendste Metapher für die Postmoderne – und die Simplizität dieser Metapher mag vielleicht bezeichnend sein für die Postmoderne -nämlich „Anything goes“. Ab nun ist alles möglich und gleichwertig. Die Leitprinzipien der Moderne – Traditionen und Regeln – gelten nun als erstarrt, sie beschränken die Freiheit des Einzelnen. Es entsteht eine Pluralisierung von Werten, Normen, und Lebensformen (Meyer [6]). „Anything goes“ heißt auch „Freiheit von allem für alles“. Die neu gewonnene Freiheit vergrößert – positiv gesehen – die Möglichkeiten des Einzelnen und erweitert die Chancen zur individuellen Entfaltung. Sie trägt bei zur „Verbreiterung des Kulturangebots“, indem sich „triviale Massenkultur“ gleichwertig neben die Hochkultur stellt, – wie immer man das bewerten will. Die Freiheit von allem und für alles hat aber auch entscheidende Nachteile: „Ab nun“, sagt Gabor Steingart [11], „wird nach Regeln gespielt, die erst während des Spiels erfunden werden.“ Schlimmstenfalls kann diese grenzenlose Freiheit – über Beliebigkeit – in die Orientierungslosigkeit führen – die Zukunft wird auf jeden Fall unvorhersehbar.

Nach Jean-Francois Lyotard [8] ist nun die Zeit der „tiefen Bedeutungen“ und der „großen Erzählungen“ und des „Leaderglaubens“ vorbei. Warum sollte man Politikern, Wissenschaftlern und anderen Weltverbesserern glauben, dass die Welt durch ihr Zutun kontinuierlich verbesserbar sei?

Baudrillard [2] schreibt: „Heute ist niemand mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen. [...] Diese unerfüllbare Aufgabe [ist] einfach lächerlich geworden.“

„Der Mensch is guat, nur de Leit san a Gsindl“ (Johann Nepomuk Nestroy)

Der große österreichische Satiriker Nestroy brachte es schon im 19. Jahrhundert auf den Punkt: In Krisenzeiten traut der Mensch nur einzelnen Menschen. Wer den Glauben an die Institutionen und damit an Hilfe von außen verliert, verkleinert seinen ihn umgebenden Kreis von Vertrauten. Der postmoderne Mensch braucht die Gesellschaft nicht mehr. Während der große Individualpsychologe und Freud Schüler Adolf Adler anfangs des 20sten Jahrhunderts noch davon überzeugt war, „dass der Mensch seine Lebensprobleme nur auf der Grundlage eines ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls lösen kann,“ bevorzugt der Mensch von heute die autonome individuelle Lebensgestaltung. Die Überwindung der Moderne wird in der Stärkung der Möglichkeiten des Individuums gesehen. Damit gewinnt die Ich-Orientierung des Menschen zentrale Bedeutung. Dieser zunehmende Individualismus beeinflusst und verändert unser auf Teamarbeit aufgebautes tägliches Arbeitsverhalten nachhaltig.

„Zeit für eigene Verfügung“

Rationalisierung, Technisierung und Industrialisierung der Moderne bildeten die Voraussetzung dafür, dem Menschen „Zeit für eigene Verfügung bereitstellen zu können“ (Meyer [6]). In der Postmoderne wird diese „Freie Zeit“ deutlich aufgewertet. „Erlebnisgesellschaft“ [10] ist das Stichwort. „Dort wo etwas geboten wird, fühlt man sich wohl“. Der „freien“ Zeit widmet man sich bevorzugt – aus der Freizeit schöpft man Energie. Im Gegensatz dazu verringert sich die Bedeutung von Arbeit und Beruf als Energiespender. Im schlimmsten Fall werden sie zu einem notwendigen Übel.

„Information statt Wissen“ – „Simulation statt tiefer Bedeutung“

Der Moderne wird vorgeworfen, ein Bildungssystem verwendet zu haben, das den Einzelnen ausschließlich darauf vorbereitet, was ihn im späteren Leben erwartet: hohe Leistungsfähigkeit und Effizienz. In der Postmoderne hat sich die Art des Wissenserwerbs grundlegend geändert. Technisierung und Digitalisierung führen zu einer explosionsartigen Zunahme der Möglichkeiten von Kommunikation und „Wissensvermittlung“. Wir sprechen jetzt nicht mehr von der Wissensgesellschaft, sondern von der „informatisierten Gesellschaft“. „Das alte Prinzip, wonach Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes verbunden war, verfällt mehr und mehr“, sagt Lyotard [9].

Im beruflichen Alltag kommt es zu einer „Abwertung von alltäglichem und beruflichem Erfahrungswissen bei gleichzeitiger Aufwertung von Theorie und Überprüfungswissen“ [3]. Performance wird wichtiger als fachliche Kompetenz. Rekombination bereits vorhandener Ideen wird wichtiger als Innovation. Für beides – Performance wie Rekombination – braucht es Helfer. Dies erklärt als weiteres Merkmal der Postmoderne die überbordende Bedeutung der Medien und der Technik.

„Komplexität und Managerismus“

Die Schwächung der Bewertung des Fachwissens wird versucht, durch Stärkung des Managerismus zu kompensieren. Rascher Wissenszuwachs, anhaltende Ökonomisierung und Absicherungsstrategien in allen Bereichen führen zu ausufernder Komplexität und diese hat die Überreglementierung beinahe aller Lebens- und Arbeitsbereiche zur Folge. Für diesen Ersatz von Fachwissen durch Bürokratisierung und Reglementierung braucht es Manager und zwar in allen Ebenen. Ohne dass wir das jemals wollten, „hat man uns alle – unabhängig von unserer ursprünglichen Profession – zu Managern gemacht“ [1]. Der am Arbeitsplatz erlernte Managerismus – das permanente Fahnden nach Effizienzreserven, Einsparpotenzialen und Synergieeffekten – wird längst zusätzlich auf die Ordnung des privaten Lebens angewandt.

„Change und Flexibilität“

Wenn wir die Metapher vom schwarzen Schwan als das Rauben von scheinbaren Wahrheiten festlegen – dann hat uns der schwarze Schwan in den letzten Jahren häufig besucht und Unsicherheiten verursacht. „Selbst die Zukunft ist nicht mehr das, was sie mal war“, schreibt Steingart [11], [...] “das Beste, was sich heute über sie sagen lässt, ist, das sie ungewiss sei.“

Wie sollen wir als Individuum dieser entgrenzten, enthemmten, beschleunigten postmodernen Welt begegnen? Reicht das scheinbar einzige Positivum der Postmoderne – der unbegrenzte Freiheitszuwachs aus, um mit den neuen Lebensbedingungen entsprechend umgehen zu lernen? Oder ist die Gefahr, durch die zügellose Freiheit über die Beliebigkeit in die Orientierungslosigkeit zu stolpern, höher einzuschätzen? Wie sollen wir lernen, mit dem permanenten „Change in jeder Lebenssituation“ umzugehen? Wir haben derzeit keine brauchbaren Antworten auf diese Fragen. Die ständig von uns geforderte Flexibilität ist längst zur offenbar einzigen Bewältigungsstrategie mutiert. Häufig bleibt es jedoch bei einer erzwungenen Flexibilität ohne Bewältigung. Auf Hilfe von außen zu hoffen, würde jedenfalls den postmodernen Prinzipien widersprechen.

Mit dem Versuch dennoch positiv zu enden, möchte ich nochmals Gabor Steingart [11] zitieren: „An das Individuum stellt die neue Zeit hohe und höchste, womöglich sogar heroische Anforderungen. Das Ende der Normalität bedeutet aber nicht das Ende der Geschichte, sondern den Beginn einer neuen Zeit. Es wird keine leichte Zeit sein. Aber es könnte trotzdem eine glückliche werden.“

Mit diesen Reflexionen zur neuen Zeit und den neuen, geänderten Lebensbedingungen, die uns über die Ländergrenzen hinaus verbinden, wünsche ich uns allen eine schöne und erfolgreiche gefäßchirurgische Dreiländertagung in Linz 2013

Dr. Franz Hinterreiter

Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gefäßchirurgie