Das Leitthema der diesjährigen 27. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e.V. ist die periphere arterielle Verschlusskrankheit im Stadium II. Die Frage, ob und wie bei belastungsabhängigen Beschwerden behandelt werden soll, beschäftigt uns tagtäglich in den Gefäßsprechstunden. Wir sind uns einig, dass eine kritische Ischämie eine Notfallsituation ist, die nur mit einer invasiven Therapie erfolgreich behandelt werden kann, sei es eine endovaskuläre oder offen gefäßchirurgische Verbesserung der Durchblutung. Bei der Behandlung der Claudicatio intermittens ergibt sich eine wesentlich größere Bandbreite der Behandlungsoptionen.

Periphere Verschlusskrankheit im Stadium II

Wichtige Studien zum Verlauf der AVK zeigen sehr deutlich, dass die Minimierung und Behandlung der Risikofaktoren extrem wichtig ist. Die Reduktion der Lebenserwartung bei Diagnosestellung einer pAVK und die Komorbidität belegen eindrucksvoll die Bedeutung der konservativen Gefäßmedizin.

In der täglichen Praxis begegnen uns aber auch viele Patienten, die durch die periphere arterielle Durchblutungsstörung eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität haben. Man spricht manchmal etwas herablassend von einer „Briefträger- oder Golfspielerindikation“. Gemeint ist eine Indikationsstellung unter Berücksichtigung der beruflichen und auch sozialen Aktivität. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes bei limitierender Claudicatio ist immer ein Thema, aber die Einschränkung durch eine Claudicatio betrifft nicht nur die berufstätigen Patienten. Wir beobachten in Jahrzehnten eine Verschiebung des Durchschnittsalters unserer Patienten und stellen fest, dass nicht nur die jüngeren Jahrgänge durch die reduzierte Gehstrecke eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität erfahren. Wir haben inzwischen eine große Zahl aktiver „Octogenerians“, die keine Lust haben, im Bus zu sitzen und zu warten, bis die restliche Gruppe wieder von der Besichtigung einer Sehenswürdigkeit beim Tagesausflug der Seniorengruppe zurück ist. Nein – alle wollen aktiv teilnehmen. Wie kann ich einem älteren Patienten erklären, dass man mit der Revaskularisation noch warten soll? Bis sich die Gehstrecke noch weiter verschlechtert? Bis zum Auftreten peripherer Nekrosen? Wer von uns erklärt einem 80-Jährigen tatsächlich in der Sprechstunde, dass seine Lebenserwartung bei Diagnosestellung einer pAVK quasi automatisch um 10 Jahre reduziert ist und es jetzt das Wichtigste sei, die Risikofaktoren zu reduzieren?

Die vorausschauende Beratung unserer Patienten wird immer wichtiger

Wir sollten nun nicht bei der Indikationsstellung im Stadium II eine 180-Grad-Wendung machen. Allerdings halte ich es angesichts der vielfältigen Möglichkeiten einer Revaskularisation für einen medizinischen Anachronismus, im Stadium II ausschließlich die konservative Behandlungsstrategie zu propagieren. Wie häufig sind wir schon nach Kongressen zurückgekehrt, bei denen die konservative Schiene „gepredigt“ und schon der erste Patient zuhause in der Klinik invasiv behandelt wurde.

Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir die Arteriosklerose und die Notwendigkeit, deren Risikofaktoren zu beeinflussen, niemals aus den Augen verlieren. Dennoch – eine rein konservative Haltung im Stadium II hilft den Patienten nicht wirklich im Hinblick auf seine Lebensqualität. Man könnte ja auch argumentieren: Wenn schon 10 Jahre weniger leben, dann angenehm und ohne relevante Gehbehinderung. Aus diesem Grund sollten wir ein besonderes Augenmerk auf die Behandlungsoptionen richten, nicht nach dem Prinzip „was machbar ist“, sondern nach dem „was nicht schadet“. Die Fähigkeit, diese Differenzierung zugunsten unserer Patienten durchzuführen, zeichnet die Gefäßchirurgen aus. Gleichzeitig stellt es uns vor die Herausforderung, die Methoden der Revaskularisation immer wieder kritisch im Hinblick auf die Ergebnisse im Stadium II zu hinterfragen.

Während wir bei der kritischen Extremitätenischämie eine relativ geringe Hemmschwelle in der Indikationsstellung haben und vor einer Amputation sich nur selten Grenzen der Revaskularisation zeigen, bleibt im Stadium II immer das Prinzip „primum nil nocere“. Daraus resultiert eine große Verantwortung bei der Indikationsstellung. Wir dürfen uns dabei nicht blenden lassen von „Vorher-Nachher-Bildern“, die vielleicht einen schönen Primärerfolg darstellen. Wichtig ist die langfristige Verbesserung der Beschwerden, ohne dass durch die invasive Maßnahme eine relevante Verschlechterung eintritt. Diese vorausschauende Beratung unserer Patienten wird immer wichtiger und ist ein wesentlicher Bestandteil unserer verantwortungsvollen Einzelberatung in der Sprechstunde. Ein wichtiger Diskussionspunkt bei der diesjährigen Tagung wird sein, die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten auszuloten. Machbar ist inzwischen fast alles, es bleibt die Frage, ob es auch sinnvoll ist.

Nationale Versorgungsleitlinien

Es ist unstrittig, dass die moderne Medizin nicht nur auf Expertenmeinungen basiert, sondern als Grundlage der Entscheidungsprozesse prospektive randomisierte Multicenterstudien aufweisen muss. Inzwischen haben wir ein Netzwerk aufgebaut, dessen Struktur die Leitlinien ermöglicht, aber auch zunehmend Probleme schafft. Während noch vor einigen Jahren die Fachgesellschaften eine Leitlinie unkompliziert und v. a. relativ kostenneutral erstellen konnten, ist das inzwischen nur mit einem sehr hohen personellen und finanziellen Aufwand möglich. Leitlinien unter einem S3-Niveau sind für die Fachgesellschaften nicht mehr finanzierbar, da durch Einholung externer Gutachten, Reisekosten, Meetings, etc. Summen kalkuliert werden müssen, die für diese Zwecke nicht mehr aufgewendet werden können. Die Frage der Finanzierung wird auch zunehmend die S3-Leitlinien betreffen. Seit vielen Jahren arbeiten wir beispielsweise mit einem erheblichen finanziellen Aufwand an einer „S3-Leitlinie Karotis“, die zum Zeitpunkt des Editorials noch immer nicht abgeschlossen und publiziert ist. Der finanzielle Aufwand ist atemberaubend. Die Diskussion über diese Problematik wird nicht nur die chirurgischen Fachgesellschaften die nächsten Jahre beschäftigen. Umso mehr freut es mich, dass in diesem Heft ein Beitrag von G. Rümenapf über eine nationale Versorgungsleitlinie (NVL) erscheint: „Nierenerkrankungen bei Diabetes im Erwachsenenalter: spielt sie für die Gefäßchirurgie eine Rolle?“

Scheinbar im Schatten der „großen“ AWMF-Leitlinien wurden mehrere Versorgungsleitlinien entwickelt, die eine erhebliche Bereicherung für unsere tägliche Arbeit darstellen. Es war und bleibt sehr wichtig, dass die DGG hier immer mit Fachvertretern präsent ist. Der Beitrag von G. Rümenapf zeigt auf, dass die Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin auch bei gefäßmedizinischen Themen einen wichtigen fachübergreifenden Beitrag leistet.

Gefäßmedizin von Gefäßchirurgen

DurchGEHEND Gefäßmedizin ist das Motto der 27. Jahrestagung der DGG. Es stellt unsere Kompetenz auf dem Gebiet der Gefäßkrankheiten dar. Wer dies als Affront sieht, hat die falsche Brille auf. Publikationen über die konservative Therapie in Kooperation mit Angiologen in diesem Heft belegen eine vernünftige Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gefäßkrankheiten. Die Autoren in diesem Heft und die freundliche Mitwirkung von Angiologen und Radiologen bei unserer Jahrestagung sprechen ebenso für die Kooperation auf dem Gebiet der Gefäßkrankheiten. Es war mir stets ein Anliegen, dass unsere Nachbardisziplinen bei dieser Tagung vertreten sind. Ich habe dabei besonders auf die Integration in die Sitzungen Wert gelegt. Weniger wichtig erschien mir die Einrichtung spezieller Sitzungen, z. B. „Gemeinsame Sitzung DGA/DRG/DGG“. Bei der diesjährigen Jahrestagung kommen bei den interdisziplinären Themen unsere gefäßmedizinischen Partner zu Wort, im interdisziplinären Dialog, wann immer gefordert, und nicht im Rahmen von aufgesetzten Extrasitzungen. Mein Wunsch ist, dass alle Kongressteilnehmer diese Gelegenheit des interdisziplinären Dialogs nutzen werden.

Ich hoffe, Sie in Erlangen zur 27. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie begrüßen zu dürfen.

Ihr W. Lang