Hintergrund

„Es ist, als würde jemand den Stecker ziehen, den Hauptschalter umlegen“, beschreibt eine Betroffene ihren Zustand in der ARTE-Reportage „Die rätselhafte Krankheit – Leben mit ME/CFS“, die am 10. Juli 2021 ausgestrahlt wurde [1].

Die myalgische Enzephalitis oder das „chronic fatigue syndrome“ (ME/CFS) hat als Folge einer COVID(Corona Virus Disease)-19-Erkrankung neue Aufmerksamkeit erhalten. Allein in Deutschland sind ca. 300.000 Menschen betroffen, und durch die SARS-CoV-2-Pandemie steigt diese Zahl weiter an [2]. In einem systematischen Review fanden Nasserie et al. in 25 von 45 eingeschlossenen Studien nach Kurzatmigkeit und Dyspnoe Fatigue als zweithäufigstes persistierendes Symptom von Long-COVID mit einer medianen Häufigkeit von 40,0 % (IQR: 31,0–57,0 %) [3].

Fatigue kann als ein durchdringendes Gefühl von Müdigkeit oder Energielosigkeit definiert werden, das nicht ausschließlich auf Anstrengung zurückzuführen ist. Sie ist in den meisten Fällen nur vorübergehend und von Muskelermüdung oder -schwäche zu unterscheiden. Wenn die Erschöpfung jedoch länger andauert oder zu schweren Beeinträchtigungen wie zum Beispiel Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, die eine berufliche Tätigkeit unmöglich machen, führt und von anderen charakteristischen konstitutionellen und neuropsychiatrischen Symptomen begleitet wird, sollte die Diagnose eines chronischen Fatiguesyndroms (CFS) in Betracht gezogen werden [4, 5].

Mehrere klinische Hauptprobleme sind mit der Diagnose von abnormalen Müdigkeitszuständen verbunden. Das grundsätzliche diagnostische Problem ist die Bestimmung der Ursache der Erschöpfung. Zu beachten ist, dass ME/CFS eine eigenständige Entität ist, aber extreme Fatigue auch ein häufiges Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung wie beispielsweise einer Tumorerkrankung oder multiplen Sklerose (MS). Ein gewisser Anteil von Patienten mit schwerer tumorassoziierter Fatigue oder Fatigue als Symptom bei MS erfüllt die kanadischen Konsensuskriterien für ME/CFS. Diese Symptome können als „CFS-like“ bezeichnet werden (siehe unten und Tab. 1; [5]). Erschwerend kommen für die Diagnostik ein weites Spektrum an Formulierungen zur Beschreibung der Symptomatik, eine große Spannbreite von Beschwerden [6] sowie Verzerrungen durch Übersetzungen aus dem Englischen hinzu.

Tab. 1 Mögliche Ursachen abnormer Erschöpfung [5]

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Akzeptanz für ME/CFS und extreme Fatigue bei nicht vollumfänglich verstandener Symptomatologie zu erhöhen. Darüber hinaus wird der Bedarf an Forschung, Orientierung für niedergelassene Ärzte sowie an Beratungsangeboten für Patienten hervorgehoben.

Methoden

Es wurde eine orientierende Recherche in Form einer fokussierten Informationsbeschaffung der für die Fragestellung angemessenen aktuellen Literatur durchgeführt.

ME/CFS in Folge von COVID-19 verglichen mit anderen Krankheitsbildern

Im Vergleich mit der als Pandemie erwarteten Influenza ergaben Analysen der Grippedatenbanken der WHO bereits zu Beginn der Maßnahmen zum „containment“ von SARS-CoV‑2 eine deutlich höhere Übertragbarkeit des Erregers [7]. Auch für das Krankheitsbild COVID-19 ließen retrospektive Kohortenstudien, wie die von Benaim et al. mit Daten aus einer Einrichtung der Maximalversorgung in Israel, auf ein erheblich komplexeres Krankheitsbild schließen. Die Auswirkungen von COVID-19 auf mehrere kritische Funktionen wie Immunsystem, Stoffwechsel, Blutgerinnung sowie Herz- und Atmungsfunktion stellten sich partiell als gravierend heraus [8]. Das multiorganische Erscheinungsbild sowie thromboembolische Ereignisse lassen darauf schließen, dass SARS-CoV‑2 ein endotheliophiles Virus ist und COVID-19 daher auch hinsichtlich der Spätfolgen eher mit einer Sepsis als mit einer Grippe vergleichbar ist [9]. Weitere Untersuchungen ergaben, dass das SARS-CoV-2-Spike-Protein die Bildung von Inflammasomen und die Freisetzung von Interleukinen anregt; darüber hinaus wurde eine tiefgreifende und lang anhaltende Umprogrammierung von Makrophagen beobachtet, was zu einer erhöhten Immunogenität des SARS-CoV-2-S-Proteins führt [10]. In Gewebeproben aus dem frontalen Kortex und Plexus choroideus wurden Perturbationen der zellulären Mechanismen beobachtet, aus denen sich ableiten lässt, dass die Entzündung in diesen Zellen an der Diffusionsbarriere registriert und dem Gehirn signalisiert wird, dass periphere T‑Zellen das Parenchym infiltrieren und das Entzündungsgeschehen zusätzlich befeuern. Es fanden sich Subpopulationen von Astrozyten und Mikroglia, die pathologisch zelluläre Merkmale aufwiesen, die bei neurodegenerativen Erkrankungen auftreten [11]. Halpert und Shoenfeld konnten bereits 2020 in einer Subgruppe von Patienten Hinweise darauf finden, dass das Virus eine kritische und zentrale Wirkung auf die menschliche Immunität hat und bei genetischer Prädisposition Autoimmunerkrankungen auslösen kann; sie bezeichneten SARS-CoV‑2 daher als Autoimmunvirus [12]. Die Hypothese, dass SARS-CoV‑2 die Bildung autoaggressiver Antikörper auslöst und daher zur Einschränkung der Hirnfunktion führt, bestätigten auch andere Forschergruppen wie die um den Neuropathologen Markus Glatzel vom UKE Hamburg. In der Post-mortem-Fallserie von 43 Patienten fanden sie am häufigsten leichte neuropathologische Veränderungen mit ausgeprägter Neuroinflammation im Hirnstamm [13]. Die stellvertretende Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie an der Berliner Charité, Carmen Scheibenbogen, geht davon aus, dass es sich bei postinfektiöser ME/CFS um eine Autoimmunerkrankung handelt. In ihrer Untersuchung einer kleinen Subgruppe von jüngeren Patienten nach milder bis moderater COVID-19-Infektion zeigte sich, dass COVID-19 ein schweres chronisches Syndrom auslösen kann, das sich durch Fatigue und Belastungsintoleranz auszeichnet [14].

Heterogenität diagnostischer Kriterien für ME/CFS

Die am häufigsten verwendeten diagnostischen Kriterienkataloge sind die Canadian Consensus Criteria für ME/CFS von 2003 und die Criteria for SEID (Systemic Exertion Intolerance Disease) des American Institute of Medicine (IOM) von 2015 [15]. Ebenfalls zur Anwendung kommen die Four-Symptom Criteria, die von Jason et al. als 1) Erschöpfung oder extreme Müdigkeit, 2) Schwierigkeiten bei der Wortfindung oder dem Ausdrücken von Gedanken, 3) körperliche Erschöpfung oder Krankheit nach leichter Aktivität und 4) nicht erholsamer Schlaf definiert wurden [16].

Mit den Kriterien werden unterschiedliche Patientenpopulationen beschrieben. Die Definitionen durch die Four-Symptom Criteria und die IOM-Kriterien für SEID (siehe Infobox 1) umfassen kleinere Patientenpopulationen als die kanadischen Konsensuskriterien (siehe Infobox 2). Letztere und die IOM-Kriterien beinhalten die Post-Exertional Malaise (PEM; [17]), die als zentrales Merkmal des Krankheitsbilds ME/CFS betrachtet wird und die Verschlechterung der Symptomatik nach körperlicher und kognitiver Anstrengung beschreibt [18].

Infobox 1 IOM-Kriterien [15]

Vorgeschlagene diagnostische Kriterien für ME/CFS.

Die folgenden 3 Kriterien müssen erfüllt sein:

1. Eine erhebliche Reduktion oder Beeinträchtigung bei der Ausübung von Beruf, Bildung, sozialen oder persönlichen Aktivitäten,

  • die mehr als 6 Monate anhält und von (oft stark ausgeprägter) Erschöpfung begleitet ist

  • die einen eindeutigen Beginn aufweist (nicht von Geburt an)

  • die nicht das Resultat von fortwährender und anhaltender Belastung ist

  • die sich durch Schonung und Ausruhen nicht erheblich lindern lässt

2. Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PEMa)

3. Nicht erholsamer Schlaf

4. Mindestens eine der folgenden Beschwerden muss vorliegen:

  • Kognitive Beeinträchtigung

  • Orthostatische Intoleranz

aHäufigkeit und Schweregrad der Symptome sollten festgestellt werden.

Die Diagnose ME/CFS (SEID) sollte hinterfragt werden, wenn Patienten diese Symptome mindestens die Hälfte der Zeit nicht mit moderater, bedeutender oder schwerer Intensität aufweisen.

Infobox 2 Die kanadischen Konsensuskriterien für die Diagnose ME/CFS [6]

Die nachstehend aufgeführten Symptome müssen seit mindestens sechs Monaten bei Erwachsenen (drei Monate bei Kindern und Jugendlichen) anhaltend oder wiederkehrend auftreten.

Liegen andere Erkrankungen mit den gleichen Symptome vor, müssen diese Erkrankungen zuerst untersucht und optimal behandelt werden, bevor die Diagnose ME/CFS gestellt werden kann. Auszuschließende Erkrankungen sollten durch eine Kombination aus klinischer Anamnese, körperlicher Untersuchung und ergänzenden Tests abgeklärt werden.

  • Pathologische Fatigue

  • Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (PEM)

  • Schlafstörungen

  • Schmerzen

  • Kognitive Symptome (mindestens zwei Symptome aus einer vorgegebenen Liste)

Darüber hinaus ist mindestens ein Symptom aus zwei der folgenden Kategorien von Symptomen erforderlich:

  • Autonom

  • Neuroendokrin

  • Das Immunsystem betreffend

Empfehlungen zu körperlicher und kognitiver Anstrengung

Bei tumorassoziierter Fatigue werden in den Leitlinien der europäischen Fachgesellschaft für medizinische Onkologie von 2020 körperliche Betätigung von moderater Intensität, Aerobic und Funktionstraining explizit empfohlen. Darüber hinaus wird zu Spazierengehen sowie Aerobic und Funktionstraining zu Hause geraten, um Fatigue und Lebensqualität zu verbessern [19]. In der Leitlinie wird beschrieben, dass sich die tumorassoziierte Fatigue von anderen Arten der Fatigue durch die Unfähigkeit, sie durch Ruhe oder Schlaf zu lindern, ihre Schwere und Persistenz unterscheidet. Sie betrifft fast 65 % der Patienten mit einer Tumorerkrankung, und über zwei Drittel dieser Patienten beschreiben die tumorassoziierte Fatigue als schwerwiegend für mindestens sechs Monate, und ein Drittel berichtet über eine für einige Jahre nach der Behandlung anhaltende Fatigue. Bis zu 40 % der Patienten berichten über Fatigue bei der Krebsdiagnose, 80–90 % während der Chemotherapie und/oder Strahlentherapie. Darüber hinaus können Hormontherapie, zielgerichtete Therapie und auch Immuntherapie für die Fatigue verantwortlich sein. Im Zusammenhang mit einer Immuntherapie hat die tumorassoziierte Fatigue eine Inzidenz von 12 bis 37 %. Wenn die Immuntherapie mit Chemotherapie, monoklonalen Antikörpern, antiangiogenen Mitteln und zielgerichteten Therapien kombiniert wird, steigt die Inzidenz auf bis zu 71 %. Darüber hinaus kann eine Immuntherapie eine Ursache für Fatigue sein, wenn sie durch endokrinologische Störungen kompliziert wird [19].

Auch in klinischen Leitlinien zum Management von MS wird behandelnden Ärzten geraten, Betroffene darauf hinzuweisen, dass Aerobic, Gleichgewichts- und Dehnungsübungen einschließlich Yoga bei der Behandlung von MS-bedingter Fatigue hilfreich sein können [20]. In einer aktuellen norwegischen Studie mit 1600 Teilnehmern wurde eine Prävalenz für Fatigue bei MS-Patienten von 81 % ermittelt und auf ältere Studien mit einer Prävalenz zwischen 50 und 90 % verwiesen [21].

Im Gegensatz zu den Empfehlungen für tumorassoziierte Fatigue wird in der im Oktober 2021 veröffentlichten britischen Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) zu Diagnose und Management von ME/CFS darauf hingewiesen, dass Programme für eine schrittweise Steigerung der körperlichen Aktivität oder des Trainings nicht zur Behandlung von ME/CFS angeboten werden sollten. Hintergrund sind die Schäden, die von Menschen mit ME/CFS berichtet wurden. Stattdessen wird betont, wie wichtig es sei, sicherzustellen, dass die Betroffenen bei Aktivitäten in ihrem „Energiebereich“ bleiben. Zudem wird empfohlen, dass Programme für körperliche Aktivität für Menschen mit ME/CFS nur unter bestimmten Umständen in Betracht gezogen werden sollen [22]. Ein solches Aktivitätsmanagement wird auch als Pacing bezeichnet. Unter Pacing ist ein schonender Umgang mit individuellen Energiereserven im Alltag zu verstehen, sowohl auf körperlicher als auch auf kognitiver und emotionaler Ebene. Die Patienten werden dafür sensibilisiert, für sie typische Warnsignale unter sozialer, kognitiver, emotionaler und körperlicher Aktivität zu erkennen, zum Beispiel durch das Führen von Symptomtagebüchern [23]. Durch rechtzeitiges Unterbrechen oder Beenden einer Aktivität kann ein gefürchteter Zusammenbruch (Crash/PEM) vermieden werden. PEM ist nicht mit Ermüdungserscheinungen vergleichbar, die sich bei gesunden Menschen infolge von körperlicher Aktivität, Anstrengung oder Aufregung einstellen; sie kann sofort oder verzögert nach geringster Aktivität auftreten und bis zur Bettlägerigkeit führen. Oftmals sind viele Tage zur Erholung notwendig, und eine Besserung tritt nur langsam ein. Ihre persönlichen aktuellen Grenzen können Patienten leichter akzeptieren, wenn sie durch eine medizinische Vertrauensperson bei der Erfassung und Einordnung der Symptome unterstützt werden. Ein konsequent praktiziertes Pacing gibt Patienten mehr Sicherheit bei Aktivitäten jeglicher Art und kann eine Grundlage zur Verbesserung des physischen und psychischen Wohlbefindens bilden [22, 24].

In der NICE-Leitlinie, in der Evidenz zu ME/CFS infolge einer COVID-19-Erkrankung explizit nicht berücksichtigt ist, wird die Balance der IOM-Kriterien positiv bewertet, aber eine Anpassung gefordert. Kombination und Interaktion der vier Hauptkriterien grenzen ME/CFS von anderen Erkrankungen ab, weswegen alle vier Kriterien (lähmende Fatigue, PEM, nicht erholsamer Schlaf, Schlafstörungen oder beides und kognitive Schwierigkeiten) für eine Diagnose vorliegen sollten. In diesem Fall kann auch eine akute Erkrankung ausgeschlossen werden und die Anforderung an die Dauer des Anhaltens aller vier Symptome für die Diagnose ME/CFS auf mindestens sechs Wochen bei Erwachsenen und vier Wochen bei Kindern reduziert werden.

Betont wird darüber hinaus, dass die kognitive Verhaltenstherapie (CBT) keine Behandlung oder Heilmittel für ME/CFS sein kann. CBT kann als unterstützende Therapie zur Symptombewältigung und Verbesserung von Wohlbefinden und Lebensqualität geeignet sein [22].

Diskussion

In ihrer Stellungnahme kam die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. unter Berufung auf den IOM-Report und den systematischen Review von Hvidberg et al. bereits im Jahr 2017 zu dem Schluss, dass die Schwere der Erkrankung, die im Durchschnitt sehr niedrige Lebensqualität, die Prävalenz sowie eine hohe Dunkelziffer von bis zu 90 % es dringend notwendig machen, das Krankheitsbild ME/CFS in der Fachöffentlichkeit bekannter zu machen [15, 25, 26]. Ihrer Forderung nach einem massiven Ausbau der Versorgung und Intensivierung der Forschungsanstrengungen hat die SARS-CoV-2-Pandemie mit ME/CFS infolge einer COVID-19-Infektion deutlichen Vorschub geleistet. Kedor et al. gehen davon aus, dass sich die Zahl der ME/CFS-Patienten durch die Pandemie dramatisch erhöhen könnte [14].

Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass auch Patienten mit z. B. tumorassoziierter Fatigue die kanadischen Konsensuskriterien für ME/CFS erfüllen können, ist es wünschenswert, dass Forschungsaktivitäten nicht nur auf viral bedingte Fatigue fokussiert werden. Angesichts der hohen Prävalenz und Inzidenz von Krebserkrankungen und MS stellt sich auch die Frage, wie groß der nationale und internationale „burden of disease“ von postviraler Fatigue infolge einer COVID-19-Erkrankung tatsächlich ist und wie er sich angesichts der Impfquoten entwickeln wird. Die aktuellen Forschungsagenden zu ME/CFS wie z. B. des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das durch das Bundesministerium für Gesundheit im Februar 2021 zur Umsetzung des Beschlusses des Europäischen Parlaments zur verstärkten Unterstützung von Forschungsaktivitäten zur Erstellung eines Berichts zur Erkrankung ME/CFS aufgefordert wurde [27, 28], oder dreier Betriebskrankenkassen mit Finanzierung durch den Innovationsfonds und in Kooperation mit dem Charité Fatigue Centrum sowie ein von der niederländischen Regierung bei der nationalen HTA Agency beauftragtes Forschungsvorhaben [29] sind auf viral bedingte Fatigue fokussiert.

Für nicht postviral erkrankte Patienten mit Fatigue erhebt sich die Frage, was die Ergebnisse aus der aktuellen Forschung beispielsweise für eine tumorassoziierte Fatigue oder Fatigue bei MS bedeuten und welche Konsequenzen sich für Diagnostik, Therapie und Management dieser Patienten ergeben. Zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab? Muss möglicherweise stratifiziert werden nach ME, CFS, ME/CFS und SEID?

Zielführender scheint es den Autoren zu sein, vergleichende Forschung für an extremer Fatigue leidende Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsentitäten zu betreiben [30] und Ätiologie, Pathophysiologie und mögliche Therapien interdisziplinär zu beforschen. Im Sinne des Patientenwohls und mit dem Appell für die Berücksichtigung und Beachtung oft langer Leidenskarrieren und hohem Leidensdruck sind zwingend verschiedene Fachgesellschaften zur Kooperation aufzurufen, wie es beispielsweise im onkologischen Leitlinienprogramm oder dem Ausschuss Soziales der Deutschen Diabetesgesellschaft seit langem Praxis ist. Auch für das Management von extremer Fatigue und eine symptomorientierte Therapie könnte man von der Expertise anderer Fachdisziplinen profitieren. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Ausgestaltung von Pacing und Coping, denn für das komplexe Krankheitsbild sind Interaktionen von einzelnen Symptomen wie erschöpften psychosozialen Kompensationsmöglichkeiten (reaktive Depression), Schmerz, gestörtem Schlaf und Folgen körperlicher Inaktivität (Dekonditionierung) anzunehmen [15].

Um Patienten mit extremer Fatigue besser beraten, begleiten und adäquat an Fachärzte überweisen zu können, muss auch die Handhabbarkeit diagnostischer Werkzeuge verbessert werden. Als Vorbild können die ein- bis zweiseitigen Toolkits der amerikanischen CDC zu Beurteilung, Beschreibung, Management spezifischer Symptome und von PEM sowie weitere Strategien zum Umgang mit ME/CFS dienen [31]. Websites mit weiterführenden Informationen im Internet sind in Infobox 3 aufgelistet.

Infobox 3 Websites mit weiterführenden Informationen

Schlussfolgerungen

Patienten, die von extremer Fatigue betroffen sind, haben einen hohen Leidensdruck und werden häufig stigmatisiert. Für postinfektiöse ME/CFS gibt es viele Hinweise auf eine u. a. autoimmune Genese, die Pathophysiologie ist jedoch noch immer nicht eindeutig geklärt.

„Ich glaube das Schlimmste ist dieser Kontrollverlust und umso mehr man strampelt, dagegen ankämpft, umso schlimmer wird der Gesundheitszustand. Das ist eigentlich wie im Treibsand“, beschreibt eine Betroffene ihr Leben mit ME/CFS [1]. Aktuell gibt es noch keine kausale Therapie oder Medikation. Laut Prof. Uta Behrends, deren Forschungsschwerpunkt ME/CFS bei Kindern am Klinikum rechts der Isar der TU München ist, stehen in der symptomorientierten Behandlung die Beratung, die Kreislaufstabilisierung durch Übungen ohne Belastung und die Entspannung im Vordergrund [1]. Ein bis zwei Prozent der an COVID-19 Erkrankten haben das Risiko, ME/CFS zu entwickeln [1]. Vor dem Hintergrund steigender Impfraten sollte die Forschung zu extremer Fatigue und ME/CFS jedoch nicht nur viral bedingte Erkrankungen umfassen.

Ein Therapieansatz kann nur durch die Zusammenarbeit von Patienten, Ärzten und Grundlagenforschern gefunden werden, wozu die Politik nach Aussage von Dr. Bhupesh Prusty von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg einen wichtigen Beitrag leisten kann [1].

Fazit für die Praxis

  • ME/CFS ist eine eigenständige Entität, aber extreme Fatigue als Teil von ME/CFS auch ein häufiges Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung wie beispielsweise einer Tumorerkrankung oder multiplen Sklerose.

  • Um Patienten mit extremer Fatigue besser beraten, begleiten und überweisen zu können, muss die Handhabbarkeit diagnostischer Werkzeuge verbessert werden.

  • In einer symptomorientierten Therapie lässt sich von der Expertise verschiedener Fachdisziplinen profitieren. Das gilt insbesondere für die Ausgestaltung von Pacing und Coping, denn für die komplexe Symptomatik bleiben Interaktionen der einzelnen Symptome wie erschöpfte psychosoziale Kompensationsmöglichkeiten, Schmerz, gestörter Schlaf und die Folgen körperlicher Inaktivität eine große Herausforderung.

  • Patienten mit tumorassoziierter Fatigue oder Fatigue bei multipler Sklerose sollten daher nicht aus der aktuellen Forschung zu Fatigue ausgeschlossen werden.