Es war einmal …

So fangen viele spannende Märchen an. Und es mag in der Tat in Zeiten des sich gefühlt rechts und links überholenden Fortschritts gerade in der Onkologie wie ein Märchen klingen, wenn man die Erfolgsgeschichte der Behandlung von Schmerzen bei Krebserkrankungen erzählt. Da traf sich 1989 das WHO Expert Committee on Cancer Pain Relief and Active Supportive Care, und diese 22 Fachleute formulierten die bis heute gültigen Grundlagen jeder medikamentösen Tumorschmerztherapie. Die Effektivität ihrer Umsetzung bezüglich des Erreichens einer suffizienten Schmerzlinderung liegt bei über 90 %, eine Ansprechrate, von der die Protagonisten selbst der ausgeklügelsten Kombinationssystemtherapien nur träumen. Dies ist umso bemerkenswerter, als in der Schlüsselsubstanzgruppe – den stark wirksamen Opioiden – nur 6 Substanzen in Deutschland zur Therapie zur Verfügung stehen und diese auch schon sehr lange im klinischen Einsatz sind: Oxycodon seit 1917, Hydromorphon seit 1926, Methadon seit 1946 und Fentanyl wurde 1960 synthetisiert.

Alles kalter Kaffee − ein Themenheft Tumorschmerztherapie eher ein Langweiler?

Immerhin wurde das Thema Tumorschmerztherapie als eines von 7 Themen in das Leitlinienprogramm Onkologie der AWMF aufgenommen.

Seine 11 Kapitel (Einleitung, Schmerzerfassung, Anwendung verschiedener Opioidklassen, Opioidtitration, Applikationsformen, Opioidwechsel, Prophylaxe und Behandlung von Nebenwirkungen, Verwendung von Opioiden bei Patienten mit Nierenversagen, Nichtopioide, Adjuvanzien bei neuropathischen Schmerzen, Opioide bei Schmerzexazerbation und Durchbruchschmerzen) beschreiben das Einmaleins einer Lege-artis-Schmerztherapie.

Das Leitlinienprogramm beschreibt eine Lege-artis-Schmerztherapie

Mit Blick auf die 30 Seiten geballter Fachinformation mag es da sehr im Sinne des Anwenders sein, die Essentials unter dem Blickwinkel „Was hat sich bestätigt, was geändert seit der WHO-Leitlinie zur Schmerztherapie?“ zusammenzufassen und zu bewerten. Wenn dieses der Leiter der Arbeitsgruppe der S3-Leitlinien macht, so darf man sich sicher sein, dass es auf Kenntnis der für diese Leitlinie sondierten Literatur basiert.

Schmerzfrei sterben.

Das ist immer noch die zentrale Hoffnung der meisten Krebspatienten. Warum ist das noch immer so angesichts der Erfolge der Schmerzbehandlung? Welche Erfahrungen und welches Miterleben stehen dahinter? Ist die Schmerztherapie in der Sterbephase eine besondere, eine andere? Welche Herausforderungen stellt sie für den Behandler dar? Die Schmerzbehandlung in den Kontext der ganzheitlichen Betrachtungsweise des individuellen Menschen zu stellen und sich hierbei nicht nur auf die Linderung körperlicher Symptome zu beschränken, ist das Anliegen des Beitrags „Wenn ein Mensch ohne starke Schmerzen sterben darf – Schmerztherapie in der Sterbephase“. Die Autorin zeigt auf, dass der Wunsch nach einem schmerzarmen Sterben ein erfüllbarer ist, und dieses auch den Menschen zugesichert werden darf. Sie öffnet den Blick für die Bedeutung der Angehörigen und die Beachtung aller Dimensionen des Leidens.

Schmerzen müssen nicht sein.

Dieser oftmals von Patienten fast vorwurfsvoll formulierte Anspruch scheitert an der Realität für Menschen mit geistigen Einschränkungen. Fälschlicherweise gilt: Wer nicht mit Worten sagen kann, dass er Schmerzen hat, der hat wohl auch keine. Hier gilt es zunächst, Verständnis für die Spezifika der Schmerzwahrnehmung, -verarbeitung und -kommunikation dieser Menschen zu wecken, Fachwissen zu vermitteln, das eben doch ein Schmerzassessment ermöglicht und die Grundlage für eine Bewertung der Therapiemaßnahmen legt. „Verhaltensänderung oder Schmerz?“ Nicht in (ab)wertender, sondern in um Engagement für den behinderten Menschen und sein Schmerzleiden werbender Form, stellt der Sprecher der AG Menschen mit geistigen Einschränkungen der DGP in seinem Beitrag sein Wissen und Können zur Verfügung.

Die Seele schmerzt.

Diese für eine stetig zunehmende Zahl von Menschen geltende Erkrankungsrealität steht nicht unbedingt im Fokus der Leitlinienschmerztherapie. Psychische Erkrankungen gehören nicht zu den primär als therapieentscheidungsrelevant eingeschätzten Komorbiditäten. Der Einfluss dieser Erkrankungen auf Schmerzwahrnehmung, Kommunikationsverhalten und Suizidrisiko bleibt oft unbedacht und führt sowohl zu Über- als auch Untertherapie. Das Zusammenspiel von der bei schwerwiegenden und chronischen Erkrankungen immer notwendigen Psychopharmakatherapie und der Analgetikagabe muss bedacht werden. „Wenn die Seele krankt – Schmerzwahrnehmung, -kommunikation und -therapie bei psychiatrisch (vor)erkrankten Krebspatienten“, dieses Themas haben sich eine Fachärztin für Gynäkologie, die zugleich auch Psychoonkologin und Leiterin eines stationären Hospizes ist, und eine Fachärztin für Psychiatrie, die zugleich ärztliche Direktorin einer LVR-Klinik (LVR Landschaftsverband Rheinland) ist, gemeinsam angenommen. Mit ihrem Beitrag eröffnen sie dem Onkologen neue Sichtweisen, bieten wichtiges Handwerkszeug für den klinischen Alltag und lassen ihn so den Bedürfnissen dieser vielfach kranken Menschen besser gerecht werden.

Schmerztherapie ist gefährlich.

Dieser Satz zählt spätestens, seitdem in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts – zumeist firmengesponserte – Kampagnen gegen die Irrationalität des Morphinmythos durchgeführt worden, zu den Unsätzen. Haben wir uns da vertan oder galt das nur, solange wir eine überschaubare Menge von Zytostatika und Adjuvanzien hatten? Oder lag es am begrenzten Wissen zu Pharmakokinetik und -dynamik der sich oftmals schon über Jahrzehnte im klinischen Gebrauch befindenden Analgetika? Der Artikel „Relevante Interaktionen von Analgetika und Koanalgetika mit häufig verwandten onkologischen Systemtherapeutika – wann wird es gefährlich?“ will Onkologen und Palliativmediziner gleichermaßen für die Bedeutung von Interaktionen sensibilisieren. Das Miteinander von klinischem Pharmazeuten und Onkologin, die zugleich Palliativmedizinerin ist, hat zu einem praxisnahen Beitrag mit hohem wissenschaftlichem Input geführt. Besonders erwähnenswert ist hier die fundierte Stellungnahme zum Einsatz von Methadon als Oncologicum. Er will Argumentationshilfen für das Gespräch mit dem lebenwollendem Krebskranken verfügbar machen.

Schmerzen kann man heilen.

Dieser Eindruck hat sich bei Patienten festgesetzt, die eine anhaltende und gute Schmerzlinderung durch Bestrahlungsbehandlungen erfahren haben. Umgekehrt ist der Mythos vom Verbrannt- oder Verstrahltsein, die Belastung durch endlos lange und anstrengende Bestrahlungsserien noch in den Köpfen vieler Patienten. In ihrem Beitrag „Strahlentherapie bei Tumorschmerzen“ stellen die Autoren überzeugend dar, dass neue Bestrahlungstechniken die Toxizitäten dramatisch verringert haben. Die Autoren zeigen die Bedeutung der Klärung der Zielsetzung einer Bestrahlungsbehandlung für die Wahl der geeignetsten Therapiemodalitäten auf und wägen ihre jeweiligen Vor- und Nachteile anhand wissenschaftlicher Studien ab. Dieser sehr umfassende Beitrag will zur Reflexion über die Indikationsstellung für eine Radiotherapie mit dem Ziel einer Schmerzlinderung anregen.

„Nicht nur Kaffee, sondern Espresso, Macchiato, Cappuccino etc.“

Dieses Themenheft hat den Anspruch aufzuzeigen, dass die Grundlage einer gelingenden Schmerztherapie zwar immer noch die WHO-Leitlinien sind − so wie der Kaffee bei allen Kaffeespezialitäten die Grundlage bildet. Diese Grundlagen bedürfen aber im individuellen Kontext – sei es der Mensch mit geistiger Behinderung oder mit einer psychischen Erkrankung – und in der aktuellen Erkrankungssituation, während einer aktiver Tumortherapie oder in der Sterbephase, der Anpassung und Modifikation.

Der Weg zu einer wissenschaftlich-abgesicherten Tumorschmerztherapie wird vermutlich nie ans Ziel führen, wenn als Maßstab onkologische Therapieoptimierungsstudie dienen. Denn „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“ (Definition International Association for the Study of Pain, IASP).

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Dr. Marianne Kloke

Für die Schriftleiter

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Prof. Dr. Klaus Höffken

Für die Herausgeber