Kein Mensch kann alle Nebenwirkungen der modernen hochwirksamen Medikamente kennen. Auch kein Arzt. Gleiches gilt für Komplikationen bei Medizinprodukten. Umso mehr sollte man bereit sein, auf den Patienten zu hören, auf die Pflege, die ganz nah und über lange Zeit beim Patienten ist, und auch auf die anderen Beteiligten im Betreuungsteam. Sinnvoll ist auch, daran zu denken, die Kollegen einzubeziehen – über Fachgrenzen hinaus.

In manchen Fächern und in manchen Konstellationen scheint diese Herangehensweise schon Realität zu sein. So zeigt sich beispielsweise in der Onkologie die Anerkennung der Sachkompetenz der Gesundheits- und Krankenpflege durch die Mediziner. Hier ist Teamarbeit und aufeinander Hören im Patientenmanagement durchaus Praxisalltag. Hämatologisch-onkologische Pflegepersonen werden bei einschlägigen Fachkongressen und Veranstaltungen, in interdisziplinären Fortbildungen und im gemeinsamen Therapiemanagement eingebunden.

Ähnlich entwickelt sich die Zusammenarbeit mit der Pflege im Bereich des postoperativen Schmerz- und des häufig unterschätzten Delir-Managements. Die Pflege gibt hier mit ihren kontinuierlichen Beobachtungen und einer Verlaufserfassung wichtige Informationen über den Zustand des Patienten, auf den entsprechend therapeutisch reagiert werden kann.

Der Patient stört

Viel zu wenig werden der Patient selbst und seine Angehörigen in die Überlegungen und Entscheidungen zu seiner Therapie, den Nebenwirkungen und seiner psychischen Situation gehört, geschweige denn einbezogen. Der Patient stört. Der Angehörige stört noch viel mehr. Das Credo, dass der Patient Experte für sich selbst ist, ist in der Mehrzahl noch nicht in der Praxis angekommen. Standards, Leitlinien, bekannte physiologische Werte sind die entscheidenden Eckpunkte, an denen sich der Arzt in seinen Entscheidungen orientiert. Die individuelle Variabilität, das Wohlbefinden oder eben die belastenden Beschwerden beeinflussen nicht nur die Verträglichkeit der Therapie sondern auch deren Wirksamkeit.

Dass die rein physiologischen Werte oder objektivierbaren Fakten von beispielsweise bildgebenden Verfahren nur bedingte Aussagekraft zum tatsächlichen Gesundheitszustand haben, zeigt die „Nonnenstudie“: Die über mehrere Jahre durch den US-amerikanischen Epidemiologen David Snowdon und sein Team wissenschaftlich begleiteten mehr als 600 katholischen Nonnen im Alter zwischen 75 und 106 Jahren wurden regelmäßig auf ihre kognitiven Kapazitäten hin untersucht und stellten sich für eine Gehirnbiopsie nach ihrem Tod zur Verfügung. Der Großteil dieser Nonnen, nämlich 85 Prozent waren Lehrerinnen und geistig aktiv auch noch im hohen Alter. Die Gewebeproben zeigten, dass zwar durchaus bei einer beträchtlichen Anzahl eiweißhaltige Ablagerungen im Gehirn gefunden wurden, dies aber nur in zehn Prozent mit einer tatsächlichen Demenz-Erkrankung korrelierte. Es gibt also offenbar noch andere wichtige Einflussfaktoren und die scheinen sich auf der Ebene des Lebensstils zu finden. Der isolierte Fakten-Befund kann also tatsächlich in die Irre führen und er wird dem Individuum nicht gerecht.

Ein bisschen genauer auf den ganzen Menschen zu schauen, auf ihn zu hören und sich mit ihm zu befassen, ist übrigens durchaus im knappen Zeitbudget vertretbar: Empathische Kommunikation macht den Umgang mit den Patienten effektiver. So wurde tatsächlich eine Zeitersparnis von zehn Prozent berechnet. Das sollten Ärzte bedenken, wenn sie den Patienten nach im Durchschnitt 21 Sekunden zum ersten Mal unterbrechen, meint Ihre

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V. Kienast