Im Zuge der vergangenen rund fünfzig Jahre lassen sich in westlichen Gesellschaften zwei Transformationen ausmachen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Es handelt sich um die Etablierung der Psychotherapie als Institution und der weitgehende Verlust der Figur der Mutter aus der feministischen Theoriebildung. Ob ihrer beider Gleichzeitigkeit mit dem Erstarken des neoliberalen Staates werden erste philosophische Überlegungen dargelegt, wie diese gemeinsame Historizität aus einer feministischen Perspektive gedacht werden könnte. Ein Unbehagen im Feminismus und eines mit der von mir so bezeichneten „Psychotherapeutisierung“ (Grubner 2018, S. 208) wird eine These zum Vorschein bringen, deren Plausibilität mittels erster Suchbewegungen untermauert wird. Den Abschluss macht ein pointierter Ausblick.

Zwei Unbehagen

Mit Blick auf die „‚langen Wellen‘ der Frauenbewegungen“ (Gerhard 2001, S. 28) fällt auf, dass im deutschsprachigen Raum eine Figur beinahe gänzlich verdrängt wurde, namentlich jene der Mutter. Wurde sie in Teilen der ersten Frauenbewegung als ein widerständiger Gegenentwurf auf die Zumutungen des kapitalistischen Regimes verstanden (vgl. Gerhard 2009, S. 62 f., 1990, S. 145 ff.; Sachße 1986, S. 114) und stand sie zu Beginn der zweiten Frauenbewegung sogar im „Zentrum der Auftakt-Auseinandersetzungen“ (Reusch 2018, S. 12), so scheint sie allerspätestens mit den 1990er-Jahren für feministische Debatten nicht mehr zu taugen.

Dennoch ist seit kurzem ein aufflammendes Interesse zu beobachten. So wird gefragt, „weshalb das Thema Mutterschaft und Mütterlichkeit in aktuellen feministischen Debatten im deutschsprachigen Raum so wenig Platz einnimmt“ (Dolderer et al. 2016, S. 8), wer denn eigentlich „sorgt, wenn sich heute jene, die bislang die Sorge getragen haben, den Lebens- und Karriereentwürfen der Männer anpassen“ (Hartmann 2020, S. 10) oder wie es kommt, dass der Begriff Care zwar als kapitalismuskritischer Kampfbegriff im Sinne einer „Care Revolution“ (Winker 2015) herangezogen wird, Mutterschaft allerdings „kein positives politisches Identifikationspotential zu bieten und kein Ort zu sein [scheint], von dem aus sich feministische Politik begründen und betreiben ließe“ (Reusch 2018, S. 20). Es ist paradox: Obwohl die feministische Philosophie das abendländische Denken seit langem als androzentrisch entlarvt und kritisiert, geht ihr das Nachdenken über das Geboren- und zumeist auch Versorgt-werden von Frauen und Müttern – bis auf wenige Ausnahmen – verlustig.

Nun zu meinem Unbehagen im Kontext der Psychotherapie, das ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe (vgl. Grubner 2018): Seit hierzulande die Psychotherapie 1991 gesetzlich geregelt wurde, lässt sich ein regelrechter psychotherapeutischer Hype beobachten. Dieser zeigt sich nicht nur an der rasant anwachsenden Nachfrage nach Psychotherapie, der beständigen Zunahme von ausgebildeten Psychotherapeut_innen und einem Markt, der seinesgleichen in der Geschichte sucht, sondern auch an den mittlerweile äußerst aktiven staatlichen Anreizsystemen, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Das ist keinesfalls ein österreichisches Phänomen. In westlichen Gesellschaften, so habe ich Michel Foucaults Gouvernementalitätsstudien folgend argumentiert, lässt sich der ständig steigende psychotherapeutische Bedarf mit der Etablierung des neoliberalen Staates erklären. Wenn nämlich die politische Rationalität des Neoliberalismus – gefasst als „Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Begrenzungen“ (Butterwegge et al. 2008, S. 11) – die Bürger_in unabhängig von Geschlecht als „Homo oeconomicus“ (Foucault 2006, S. 314 [Kurs. i. Orig.]) anruft und gleichzeitig die soziale Wohlfahrt radikal ab- und umbaut, kann sich die Einzelne keinesfalls auf soziale Absicherung verlassen, sondern muss für alles selbst verantwortlich zeichnen. Damit entpuppt sich die psychotherapeutische Hilfe als geeigneter Modus, sich bei dieser Selbstführung im Sinne des „Führen[s] der Führungen“ (Foucault 1994, S. 255) unterstützen zu lassen – eine These, die in der Soziologie schon lange diskutiert wird. Insofern wundert nicht, dass die Psychotherapie als Anlaufstelle für sämtliche Problem- und Lebenslagen fungiert – auch bei Arbeitslosigkeit und Armut. Meine damaligen Behauptungen haben im österreichischen Regierungsprogramm 2020 eine bittere Bestätigung erfahren: Der Ausbau des vollfinanzierten Psychotherapiekontingents rangiert hier unter dem Kapitel „Armutsbekämpfung“ (vgl. Österr. Regierungsprogramm 2020, S. 170).

Ausstehende feministische Deutung der Therapiegesellschaft

Bereits vor fünfundzwanzig Jahren findet sich die Rede von einer „Therapiegesellschaft“ (Bauer 1997, S. 8), die als gesellschaftlicher Verbund verstanden wird, der „nur durch eine verstetigte therapeutische Begleitung der Individuen gewährleistet werden kann“ (ebd.). Insofern erscheint es bemerkenswert, dass sich im Kontext feministischer Denkzusammenhänge keine Erklärung, Deutung oder gar Kritik dieser neuen Gesellschaftsform findet. Obwohl in überwiegendem Ausmaß Frauen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. Schigl 2012, S. 127) und weibliche Psychotherapeut_innen die Mehrheit der Berufsgruppe stellen, und obwohl seit der Entstehung der Psychoanalyse feministische Kritiken und Neukonzeptionen vorliegen, die die Zusammenführung von Feminismen und psychotherapeutischen Ansätzen bis heute verfolgen, „steht eine feministische Sicht der ‚Therapie-Gesellschaft‘ bisher noch aus“ (Sozialwissenschaftliche Forschung & Praxis für Frauen 1991, S. 5).

These: Psychotherapie als neue Mutter?

Bezugnehmend auf die beiden oben skizzierten Unbehagen lässt sich folgende – zugegeben provokante – These formulieren, wie die Therapiegesellschaft aus einer feministischen Perspektive zu verstehen sein könnte: Selbst wenn sich psychotherapeutische Theorien weitgehend dagegen verwehren, mit Mütterlichkeit in Verbindung gebracht zu werden, lässt sich doch folgendes fragen: Kann es sein, dass mit der forcierten Angleichung weiblicher Lebensentwürfe an jene der Männer eine strukturelle Leerstelle entstanden ist, die langsam, aber stetig mittels Psychotherapie gefüllt wird?

Dieser Verdacht wäre aus einer historischen Perspektive nicht einfach von der Hand zu weisen. Denn ohne diese Zeit nostalgisch verklären zu wollen, war es nach dem zweiten Weltkrieg – also den 1950er-Jahren – eine leitgebende Vorstellung, dass es der sorgenden Mutter oder einer anderen weiblichen Person im privaten Raum braucht, während der Mann mit seiner Erwerbstätigkeit die Familie erhalten konnte. Das gängige Argument war zwar die Versorgung der Kinder, aber dahinter verbarg sich zumindest noch eine andere Wahrheit, die Christina von Braun so auf den Punkt bringt: „Die Frau ist als Mutter des Mannes gedacht, als eine Art von Schutzfunktion für den Mann“ (in Schmidtkunz 2009, S. 31). Damit ist die Vorstellung – besser, die weitgehend unbewusste Setzung – der westlichen Philosophiegeschichte angesprochen, die das (unbekannt) Weibliche mit der Mutter verwebt und unterordnet, wie Luce Irigaray (1980) nachvollzieht.

Mit der Kritik der zweiten Frauenbewegung an dieser geschlechterhierarchischen Trennung von Produktion und Reproduktion und dem zeitgleichen Erstarken des Neoliberalismus beginnt sich die gesellschaftliche Organisationsform mit den 1970er-Jahren umzubauen: Durch die Mutation vom fordistischen Wohlfahrtsstaat zum post-fordistischen Wettbewerbsstaat etabliert sich – so Lars Kohlmorgen (vgl. 2004, S. 310 f.) – eine modernisiert patriarchale Geschlechterordnung, die Geschlechterungleichheiten zwar als überholt und illegitim befindet, aber weiterhin sowohl die Erwerbsarbeit hartnäckig geschlechtsspezifisch segregiert und segmentiert als auch die Haushalts- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt. Selbst wenn die meisten Frauen immer schon einer Erwerbstätigkeit nachkommen, fungieren sie demensprechend – tendenziell bis heute – ihren Familienmitgliedern als „Seelenklempner*innen“ (Federici 2021, S. 41), was Bettina Zehetner (2020) von einem „Erholungsgebiet Frau“ sprechen lässt.

Wenn Frauen heute mehr denn je – und das ist ein ungelöstes Problem im Feminismus – aufgerufen sind, sich analog den Männern in das Marktgeschehen einzureihen, zu dessen Gunsten sie sich von Fürsorgetätigkeiten befreien sollen, bestätigen und bestärken sie – gewollt oder ungewollt – die Verleugnung unserer grundgelegten, lebenslangen Angewiesenheit auf die Zuwendung und Fürsorge anderer. Das lässt sich mit Tove Soilands (2017, o. S.) kritischen Worten so fassen: „Der Umstand, dass wir nicht ohne Fürsorge leben können, und dass diese Fürsorge immer die Form einer Gabe hat, die von jemandem kommt, die dafür ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt, diese Selbstverständlichkeit scheint auch aus dem feministischen Bewusstsein und der Politik, die sich heute Gleichstellungspolitik nennt, verschwunden. Bei dieser Gabe handelt es sich symbolisch gesehen letztlich immer um die Gabe der Mutter, und über genau diese Gabe und dass wir sie eigentlich niemals restituieren können, sollen wir – gar im Zeichen unserer Emanzipation? – schweigen“.

Eine Klarstellung: Wenn ich von der Mutter spreche, so tue ich das im Sinne eines Bildes. Ich verstehe die Mutter als eine „imaginative Dimension […], wovon man sich nährt“, wie das Jacques Lacan (2015, S. 19) schreibt. Diese imaginative Dimension ist in unserem gelebten Alltag nicht geschlechtsneutral. Denn weitgehend ist es die leibhaftige Mutter oder eine nahestehende weibliche Person, die zuhört, tröstet, umsorgt und liebevolle Zuwendung gibt.

Eine weitere Klarstellung: Es geht mir weder darum Frauen und Mütter an den sprichwörtlichen Herd zurückzurufen, noch darum, ihnen eine eigenständige Existenzsicherung abzusprechen. Vielmehr möchte ich, um es noch einmal auf den Punkt zu bringen, aus einer feministischen Perspektive die Frage stellen, ob es sein kann, dass das seit der Moderne beschworene autonome Subjekt, das immer schon männlich imaginiert wurde, seine uneingestandene konstitutive Abhängigkeit von der Fürsorge anderer heute auf Psychotherapeut_innen als Zuwendungsexpert_innen auslagert, um an mehr oder weniger verborgenen Räumen seine Bedürftigkeit zu stillen.

Erste Suchbewegungen

Diese Fragestellung mag verwundern, doch einiges spricht dafür.

Als ersten Punkt lässt sich anführen, dass es state of the art ist, dass die therapeutische Beziehung das ausschlaggebende Kriterium für einen gelingenden psychotherapeutischen Prozess darstellt. Daraus ergibt sich für jede Psychotherapeut_in die grundlegende Aufgabe der Verantwortung und Gestaltung einer tragfähigen Beziehung. Zusätzlich muss sie ihre eigenen unmittelbaren Bedürfnisse weitgehend hintanstellen, um die Klient_in ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Damit kommt sie der Fürsorge der Mutter recht nahe, die ebenso die Beziehung zu ihrem Kind gestaltet und sich auf dessen Bedürfnisse einlassen muss. So gesehen trifft für beide zu: „Fürsorge ist eine Gabe; sie besteht nicht in einer von den Personen trennbaren Handlung, sondern in der Beziehung“ (Soiland 2016, S. 204).

Zweitens finden sich in der einschlägigen Fachliteratur Hinweise, die ein Naheverhältnis von Psychotherapie und Mütterlichkeit andeuten. Ilka Quindeau schreibt, dass es in der Psychotherapie „die haltende, strukturgebende Liebe [ist], die eine Veränderung erst möglich macht“ (Quindeau und Schmidbauer 2017, S. 12) und Wolfgang Schmidbauer stellt einen Konnex – zwar nicht von Mutterschaft, aber doch – von Elternschaft und Psychotherapie her: „Die Elternliebe verlangt, dass wir am Wohlergehen und an der Entwicklung des Kindes interessiert sind und unsere eigene Bedürfnisbefriedigung zurückstellen; die Liebe des Therapeuten leitet sich aus dieser Form der Liebe ab“ (ebd., S. 12 f.). Theodor Itten und Ron Roberts bestimmen – bezugnehmend auf Donald Winnicotts „genügend guter Fürsorge“ (1990, S. 63) einer Mutter – das „Gut genug […] sein“ (Itten und Roberts 2016, S. 75) von Psychotherapeut_innen derart, dass diese „eine mütterliche Botschaft übermitteln: ‚Ich sehe dich, ich höre dich, ich verstehe dich, indem ich dir Aufmerksamkeit schenke‘“ (ebd., S. 74).

Christine Wakolbinger (2005, S. 136) denkt, „dass es in der Mutterschaft wie in der Personenzentrierten Psychotherapie um Ähnliches geht“. Sowohl als Mutter als auch als Psychotherapeut_in soll ich „als möglichst kongruente Person mit meiner Fähigkeit zu möglichst großer Wertschätzung und Empathie für meine Kinder da sein bzw. auf meine Klienten eingehen, damit sich die Kinder gut entwickeln bzw. damit sich beim Klienten Inkongruenzen auflösen können“ (ebd.).

Eva Jaeggi ortet diese therapeutische „Bemutterung“ (1997, S. 196) sowohl in theoretischen Weiterentwicklungen der Psychoanalyse, als auch in anderen psychotherapeutischen Verfahren wie der Gesprächspsychotherapie nach Karl Rogers, der integrativen Therapie und der Gestalttherapie.

Drittens stehe ich mit meiner These nicht alleine da, wie Hinweise jenseits facheinschlägiger Publikationen zeigen. Christina von Braun (1994, S. 243) stellt die Verbindung von Mütterlichkeit, Psychologie und Psychoanalyse in den Kontext des Geschlechterverhältnisses insgesamt: „Daß die neue ‚Väterlichkeit‘ nichts mit einer Neuorientierung der männlichen Rolle zu tun hat, sondern vielmehr mit der Vereinnahmung der Mutterrolle durch den Mann, spiegelt sich besonders deutlich in der Entwicklung der Psychologie und Psychoanalyse wider. Ich möchte sogar sagen, daß einer der Gründe für die Bedeutung, die die Psychologie im 20. Jahrhundert eingenommen hat, hierin zu suchen ist: die Berufe, die sie geschaffen hat, bieten dem Mann die Möglichkeit, ‚mütterliche‘ Funktionen zu übernehmen – Funktionen, die direkt von denen des Seelsorgers übernommen sind, dessen Rolle über Jahrhunderte dem Mann zum Preis der Kinderlosigkeit vorbehalten blieb“. Ähnlich formuliert Irene Mariam Tazi-Preve (2004, S. 194), dass die Psychotherapeut_in als „Ersatzmutter“ fungiere und sich als „bessere, perfektere und ‚allwissende‘ Mutter“ präsentiere.

Viertens kann die Aufgabe der Psychotherapie im österreichischen Psychotherapiegesetz im Sinne einer Art Mütterlichkeit gelesen werden. Bekanntlich ist es ihre Aufgabe bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit der Behandelten zu fördern. Jenseits der Tatsache, dass (vorwiegend) Mütter etwa von der Schule dazu angehalten werden dafür zu sorgen, dass sich ihre Kinder angemessen verhalten, ist es heute weitgehender Konsens, dass jede Mutter auch die Reifung, Entwicklung und Gesundheit ihrer Sprösslinge befördern solle. Denn spätestens seit dem 20. Jahrhundert haben sich die Erwartungen an Mütter „fast gänzlich von der materiellen zur psychischen Seite der Reproduktionsarbeit“ (Speck 2016, S. 38) verschoben. Um dieser psychischen Förderung gerecht zu werden, ist sie aufgerufen „auch ihr eigenes seelisches Gleichgewicht im Blick zu behalten“ (ebd.). In diesem Punkt unterscheidet sich das Anforderungsprofil der Mutter nicht von jenem der Psychotherapeut_in. Denn Eigentherapie und Supervision sollen die Gefahr, den therapeutischen Prozess durch eigene emotionale Turbulenzen zu stören oder zu behindern, hintanhalten.

Als fünften Punkt legen meine eigenen Erfahrungen die Plausibilität der aufgestellten These nahe, wobei ich nun die Leser_in sowohl auf die Rede vom Gut-tun der Psychotherapie als auch auf die Mutter lenken möchte. Neben den persönlichen Mitteilungen meiner Klient_innen, wie gut ihnen die psychotherapeutischen Sitzungen tun, findet sich auch im psychotherapeutischen Feld immer wieder die Betonung dieses Gut-tuns, was anhand dreier Szenen deutlich wird.

Erste Szene: Im Gespräch mit Kolleg_innen flüstert mir eine hinter vorgehaltener Hand zu: „Was mich so oft wundert ist, dass die Klient_innen so wenig von mir wollen. Nur, dass ich da bin, zuhöre und Verständnis zeige, scheint schon zu genügen“. Eine andere meint dazu: „Manchmal komme ich mir vor wie eine gute Mutter“.

Zweite Szene: In einer Diskussion um die von mir kritisierte verpflichtende Psychotherapie für den Bezug des Rehabilitationsgeldes sagt eine Kolleg_in: „Das mag stimmen, aber gut tut es ihnen schon!“.

Dritte Szene: Eine Psychotherapeut_in berichtet einer befreundeten Kolleg_in von der Diagnose einer schweren Erkrankung. Die Freundin fragt weder danach, wie es ihr denn ginge, ob sie etwas für sie tun könne, geschweige denn, dass sie sie in den Arm nimmt. Vielmehr schlägt sie der Erkrankten vor, zwei Psychotherapieeinheiten in Anspruch zu nehmen, um mit der Diagnose besser fertig zu werden. Das würde ihr sicher gut tun.

Mit meiner These im Hintergrund lassen sich sowohl meine Erfahrungen aus der Praxis als auch die drei Szenen dahingehend interpretieren, dass die Psychotherapie so etwas wie mütterliche Zuwendung gibt, die gut tut. Hier klingt eine Art „Genuss als Heilsversprechen“ an, wie ihn Elisabeth Mixa (2016, S. 119) im Wellness-Diskurs erkennt. Dieser findet sich aber nicht nur dort, sondern ebenso im psychotherapeutischen Kontext, wie auch eine entsprechende Publikation mit dem Titel „Mut zur Psychotherapie! Wie sie funktioniert und warum sie gut tut“ (Trebbin 2019) verdeutlicht.

Die dritte Szene verweist darüber hinaus auf etwas Zusätzliches: Die empfohlene Psychotherapie für die Verarbeitung der Diagnose soll, so scheint es, die eigene unmittelbare Zuwendung ersetzen. Ein tröstendes Wort oder eine körperliche Geste, die von einer guten Freundin erwartet werden kann, sind durch den Verweis, doch ein paar Psychotherapiesitzungen in Anspruch zu nehmen, ausgeblieben – so als ob dort die passenden Worte oder das notwendige Know how zu bekommen sei.

Der letzte und sechste Aspekt, der mich in der Verfolgung meiner These bestärkt hat, ist die Zeit der Corona Pandemie. Die Zunahme psychischer Erkrankungen wird beklagt und der Ruf nach mehr Psychotherapie immer lauter. Folglich sind Psychotherapeut_innen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß medial präsent, um Handlungsempfehlungen und Unterstützungstipps zu geben und nicht zuletzt ihre Hilfe anzubieten. Es scheint, als ob die Psychotherapie hier als eine Art Übermutter fungiert, indem sie den angemessenen Umgang in schwierigen Zeiten lehrt.

Es gibt also gute Gründe für die Frage, ob die Psychotherapie – strukturell gesehen – als eine Art neue Mutter in neoliberalen Gesellschaften zu verstehen sein könnte. Insofern: ein kurzer Ausblick.

Ausblick

Es wurde angedeutet, dass der Psychotherapie eine Art von Genuss implizit sei. Gesellschaften, die dem Genießen einen derart prominenten Platz einräumen, werden von der gesellschaftskritischen Psychoanalyse als „postödipal“ (Hegener 2009, S. 130; Soiland et al. 2022; Žižek 2017, S. 460) bezeichnet. Der Ausgangspunkt dieser Zeitdiagnose ist die ins Wanken geratene patriarchale Ordnung, die in den Studierendenprotesten 1968 ihren wohl stärksten Ausdruck fand und viele bis heute andauernde Liberalisierungsbewegungen nach sich zieht. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderung werden – nicht nur – von der Ljubljana School of Psychoanalysis analysiert und theoretisiert: Karl Marx und den „späten“ Jacques Lacan zusammendenkend wird kolportiert, dass mit dem Ende der väterlichen Autorität den Subjekten nun unter dem Vorzeichen der Freiheit ein je individuelles Glücksversprechen in Aussicht gestellt werde. Dieses Glücksversprechen sei allerdings eines, welches die Subjekte noch fester und vor allem unmerklicher an die neuen Herrschaftsformen des neoliberalen Kapitalismus bindet. Denn an die Stelle der Autorität des patriarchalen Vaters tritt nun ein Expert_innenwissen, das – demokratisch zugänglich – die Subjekte zu einem individuellen, selbstbestimmten und selbstoptimierbaren Glück auffordert. Dieses Glück sei denn auch eines des scheinbar möglichen, beinahe grenzenlos zugänglichen Genießens (vgl. Soiland et al. 2022).

Bekannterweise verlötet die Lacan’sche Psychoanalyse das Genießen mit dem Körper der Mutter. Wenn das Gesetz des Vaters in der ödipalen Gesellschaft als Begrenzung des allumfassenden Genießens fungiert, so ist diese Schranke in der postödipalen verschwunden – oder, alles ist möglich, wie uns die Werbung glauben macht. Hängt damit vielleicht die Psychotherapeutisierung zusammen? Das wäre nicht gänzlich unwahrscheinlich. Denn wenn das Genießen/die Mutter als frei zugänglich gilt, das damit verbundene Glück aber ausbleibt, steht zur Disposition, ob die Psychotherapie symbolisch sowohl als Ort des Genusses/als Mutter einspringt als auch ein spezifisches Wissen für das Erringen des individuellen Glücks in Aussicht stellt.

Sollte sich diese These erhärten, kann eine feministische Perspektive nicht ausbleiben. Denn beide, die westliche Philosophietradition und die Psychoanalyse, sind bis heute von einer vielschichtigen, tiefgreifenden und allgegenwärtigen Skepsis, ja von einer Gefahr – Stichwort Todestrieb – des Mütterlichen durchdrungen. Daran knüpft sich auch in der postödipalen Gesellschaft ein Geschlechterverhältnis, das Frauen strukturell unterordnet. Insofern wäre dringend zu überlegen, welche Konsequenzen es hätte, wenn „der kulturell gesehen nach wie vor bestehenden Subjektlosigkeit der Mutter ein Ende […] [gemacht wird], indem für das, was sie gibt, eine kulturelle Repräsentation gefunden wird“ (Soiland 2018, S. 113). – Wären die Subjekte dann nach wie vor auf den Weg geschickt in der Psychotherapie ihr Glück zu suchen?