Wie die Anamnese zeigt, hat Karl W. in den vergangenen Jahren zahlreiche Zahnbehandlungen hinter sich. Geprägt waren diese durch Prothesenreparaturen, Ersatz von gebrochenen Zähnen, Prothesenneuanfertigung und verschiedenen Reparaturen. Dieses „Spiel“ wäre noch weitere Jahre weitergetrieben worden, hätte nicht ein zahnärztlicher Kollege die Scheuklappen des mechanistischen Denkens abgelegt und sich in kriminalistischer Akribie auf eine Spurensuche allgemeinmedizinischer und sozialanamnestischer Art begeben. Dabei kamen auf den ersten Blick nichterkennbare Widersprüche zutage, die letztendlich zur Erkenntnis führten, dass Herr W. keine primären zahnmedizinischen Probleme hatte, sondern dass vielmehr die Umstände, die zum Kollaps führten, im allgemeinmedizinischen Umfeld und in der Organisation Pflegeeinrichtung ihre Ursache hatten.

Polypharmakotherapie mit der Möglichkeit der Summation zahlreicher Nebenwirkungen, gepaart mit nicht hinreichend geklärten Interaktionen einerseits und altersphysiologisch und altersbedingten Defiziten andererseits, endeten in periodisch auftretenden zahnmedizinischen Problemstellungen.

Polypharmakotherapie und Polypragmasie sind ein Problemkreis, dem wir als Zahnärzte mit besonderer Aufmerksamkeit begegnen müssen. Das Verständnis der physiologisch bedingten, gänzlich anderen Verteilung der wesentlichen Körperkompartimente Muskelmasse, Wasser und Fett bei Senioren sind für Wirkung und Nebenwirkung ausschlaggebend. Durch eine zusätzliche medikamentöse Therapie kann der Zahnmediziner dieses grundsätzlich aus den Fugen geratene System noch weiter destabilisieren.

Das Verständnis für Altersphysiologie, Pharmakologie und Pharmakodynamik stellt das Grundrüstzeug für den in der Alterszahnheilkunde tätigen Zahnarzt dar. Nicht unmittelbar in der Mundhöhle liegende Ursachen für prothetische Versagensmuster zu erkennen, ist die Herausforderung, der man sich in diesem Tätigkeitsfeld stellen muss.

Der Zahnarzt als medizinisch kompetenter Mediator

Natürlich stehen wir vor der schwierigen Situation, die multiple medikamentöse Therapie unserer ärztlichen Kollegen (wobei die einzelnen Spezialisten möglicherweise untereinander keine Kommunikation betrieben haben) als Ursache erkannt zu haben. Der Zahnarzt, der in ärztliche Therapiekompetenz eingreifen möchte – unvorstellbar. Trotzdem sollte es unter Darstellung der Ausgangssituation und der eruierten Ursachen durchaus möglich sein, beim behandelnden Hausarzt und Spezialisten einen Fokus auf eventuell nicht beachtete Folgen der medikamentösen Therapie zu richten.

Zum anderen lassen sich in einem aufklärenden Gespräch mit der Leitung der Pflegeeinrichtung relativ einfach umzusetzende organisatorische Änderungen bewirken.

Wenn man weiß, dass Herr W. immer um 2 Uhr nachts von Harndrang geplagt die Toilette aufsucht und dort eben nach dem vorauszusehenden orthostatischen Kollaps beim Sturz auf den Kopf seine Prothese zertrümmert, lässt sich dies durch einen routinemäßigen Kontrollgang und Hilfestellung der Pflegebetreuung genau in diesem Zeitraum einfach und effizient verhindern.

Diagnose: Prothesenbruch, Therapie: nächtlicher Kontrollgang der Pflegeperson

Ein ungewöhnliches Vorgehen, aber eine umso effizientere Problemlösung.

Ich denke Herr W. ist in guten zahnmedizinischen Händen, die durch einen interdisziplinären Denkansatz das Grundproblem erkannt und gelöst haben.

Herr W. hat in den letzten 3 Jahren nachts keine Prothese mehr am Toilettenboden zertrümmert.