Die Erholung der Psychosomatik nach dem Zweiten Weltkrieg begann schleppend. Gerade in der Pädiatrie war es übel: Noch aus der Vorantibiotikazeit gab es wegen der Angst vor Ansteckung praktisch keinen Besuch in Kinderabteilungen. Die Diagnose Scharlach führte zu einer sechswöchigen stationären Aufnahme; die Schule wurde desinfiziert; Geschwister durften keinen Kontakt zum Erkrankten haben. Die stationären Kinder wurden den Eltern sonntags durch eine Glasscheibe gezeigt. Es lag an Pionieren wie Hans Zimprich und Hans Czermak in Wien, eine neue Zeit einzuläuten. Sie begegneten unglaublichen Widerständen: Ärzte und Schwestern hatten die Arbeiten René A. Spitzens nicht rezipiert. Die anaklitische DepressionFootnote 1 des Säuglings und Kleinkinds war unbekannt. Was erlebt wurde war, dass das Kind, nachdem es seine Mutter gesehen hatte, unruhiger und weinerlich wurde. Daraus schloss man fälschlich, dass der Besuch der Eltern schadet, statt zu wissen, dass das sicher gebundene Kind durch den Anblick der Mutter Hoffnung schöpft und aus seiner Lethargie erwacht. Es gab keine oralen Cortisolmessungen, die den andauernden Stress des alleingelassenen Kindes gezeigt hätten. Damals waren noch Lehrbücher verfügbar, in denen dem Neugeborenen die Fähigkeit zu sehen und zu hören abgesprochen wurde. Es wurde angenommen, dass Neugeborene keine Schmerzen empfinden können, und Eingriffe wie zum Beispiel der Scherenschlag des Zungenbändchens wurden daher ohne Anästhesie durchgeführt. Von der Wahrnehmung eines intrauterinen Schmerzempfindens war keine Rede. Die Bedeutung der fetalen Bewegungen war unbekannt, Ultraschall gab’s noch nicht, das Kind war mehr Objekt als Subjekt, Eltern und Ärzten ausgeliefert. Die Persönlichkeit des Fetus und Säuglings wurde kaum wahrgenommen. Das in den USA berühmteste und millionenfach verkaufte Elternberatungsbuch von B. Spock „Dein Kind, dein Glück“ wandte sich schon 1942 gegen vierstündliche Mahlzeiten und Strenge, gegen das Schreien lassen und verordnete den liebevollen Umgang mit dem Kind. Die Ad-libitum-Fütterung wurde bis dahin (und in Europa noch lange) als Verweichlichung angesehen und von den Konservativen bekämpft. War die Kindererziehung bis dahin der Erzeugung einer soldatischen Persönlichkeit gewidmet, initiierte Spock die Wendung zur Erziehung des freien Bürgers einer demokratischen Gesellschaft. Im Kalten Krieg und in den Kämpfen danach (Vietnam) wurde die „Spock-Generation“ als verweichlicht angesehen. Die Baby-Boomer der sechziger Jahre schienen die „freie Welt“ nicht mehr verteidigen zu können.

Neue Ansätze

Hans Asperger war wöchentlich im Karolinen-Kinderspital, um uns „Junge“ zu supervidieren. Allerdings vertraten wir den tiefenpsychologischen Ansatz, der sich mit dem heilpädagogischen Denken nicht vereinen ließ. Libertinage, Freiheit für unsere Patienten (während die auf der Heilpädagogik stationären Patienten zweimal wöchentlich begleiteten Ausgang hatten, konnten unsere jeden Tag rausgehen, die Älteren allein) – Weite, statt Enge der strengen Führung. Selbsterkundung und analytische Psychotherapie stand im Mittelpunkt unseres Teams, bestehend aus den beiden Psychoanalytikern Karl Purtzner und Renate Singer, sowie Alois Piperger, Bibi Berger-Margulies und dem Autor, etwas später noch Barbara Langegger. Psychosoziales Management war ebenso gefragt wie Einzel- und Familientherapie, lange bevor systemisches Denken in der Psychosomatik den Ton angab.

Vorbilder waren uns etwa Erwin Ringel, dem späteren „Psychiater der Nation“, der eine Erwachsenenpsychosomatik gemeinsam mit Peter Gathmann an der psychiatrischen Klinik leitete. In der Pädiatrie gab es nur wenige psychosomatische „Pflänzchen“ in Österreich: Burkhart Mangold übernahm in Innsbruck die ehemalige Infektionsabteilung im Nebentrakt der Klinik und begann mit serviceorientierter Liaisonarbeit für alle Fragen unklarer Störungen.

Ich gründete 1981 mit Erwin Ringel das Institut für medizinische Psychologie der medizinischen Fakultät der Universität Wien, ohne Geld, ohne Räume. Wir lehrten in Privatordinationen und prüften in Kaffeehäusern.

Erwin Ringels Stern ging auf. Leidenschaftlich setzte er sich für die Selbstmordprävention und Psychosomatik ein. Er war Zimprichs Lehr-, mein Kontrollanalytiker. Seine Führung der Psychosomatik war ebenso unkonventionell, wie herausragend: Jeder Patient konnte immer bei ihm vorsprechen, Patientenparlamente unterstrichen den demokratischen Charakter der Station, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter wurde gleichwertig anerkannt und geschätzt. Seine Habilitationsschrift zum Selbstmord als Abschluss einer krankhaften Entwicklung führte bis zur Änderung des Iuris Canonici: Suizid war nicht mehr eine Sünde gegen das Leben (so dass der/die Selbstmörder/in nicht in geweihter Erde begraben werden durfte), sondern das Ende einer psychiatrischen Entwicklung, die er im Einengungskonzept beschrieb. Ringel war Präsident der Individualpsychologischen Vereinigung Österreichs. In Adlers Tradition formulierte er einfach und griffig: „Was kränkt, macht krank!“ Das war jedem Laien verständlich.

Bedeutende Mutter-Kind-Beziehung

Uns Junge trieb Pioniergeist an. Besonders in der Kinderheilkunde erfuhr man von den Bindungsforschern über die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für viele Bereiche der Entwicklung. Die Versuche Harry HarlowsFootnote 2 mit Affenkindern zeigten, wie gescheiterte Mutter-Kind-Beziehungen transgenerational weitergegeben werden. Harlow nahm jungen Primaten die Mutter weg. Stattdessen positionierte er ein Milchfläschchen auf einem Drahtgerüst und – hinter einer hohen, aber überwindbaren Wand – ein Fell auf einem anderen Drahtgestell. Die Äffchen nahmen einen Schluck aus der Flasche, die schräg nach unten zeigte und huschten sofort zum Fell und wieder zurück. Das Experiment zeigte, dass sie „Mutterliebe“ ebenso stark wie Futter brauchten.

Diese geschädigten Äffchen, später selbst Mütter geworden, verloren ihre Kinder beim Springen und Hüpfen. Bei gesunden Bindungen klammern sich die Neugeborenen an die Mutter, wenn diese von Ast zu Ast springt, und werden von ihr im Flug mit einem Arm festgehalten. Die „frühgestörten“ Mütter machen das nicht. Manchmal legt so eine Mutter ihr Neugeborenes auch irgendwo ab, sucht es nicht oder reagiert nicht, wenn das Neugeborene schreit. Harlow konnte zeigen, dass fehlende frühe Bindung zu Schäden in der 1. und 2. Generation führt, es sich also „vererbt“. Er bereitete der Bindungsforschung Mary Ainsworth’Footnote 3 den Weg. Wir wüssten nicht, dass frühe Beziehung und Bindung für ein gesundes Aufwachsen unerlässlich sind. Ohne Harlow gäbe es keine Heidi AlsFootnote 4, die die sensible Behandlung Frühgeborener einführte. Wir wissen heute, dass die sanfte Säuglingspflege, die Rücksichtnahme auf das Freigeborene lebenswichtig für das Kind und seine Nachkommen ist.

Die Psychosomatik wurde zur Wissenschaft. Da sich nur so publizieren ließ, übernahm eine lerntheoretisch orientierte Psychosomatik die Bühne. Die scheinbar plötzlich als unwissenschaftlich geltende, geisteswissenschaftlich-hermeneutische Psychosomatik trat ab und die moderne Wirklichkeitskonstruktion übernahm. Ob es ein PyrrhussiegFootnote 5 gewesen ist? Am Weg zur Anerkennung ging manches verloren.

Vorschau: Teil 5

Die Psychosomatik konnte sich ab den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so etablieren und stabilisieren, wie andere Spezialfächer der Pädiatrie. Im 5. Teil werden wir uns die Früchte der Pionierinnen ansehen.