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Das Buch ist eine Wucht.

Auf 452 Seiten unternimmt der Autor mit dem Leser eine spannende Reise durch die Welt der dreidimensionalen Euklidischen Geometrie. Auf jeder Station dieser Reise trifft man auf einen besonderen Vertreter dieser Geometrie, sei es durch Erkundungen an ihm selbst, sei es durch Einbettung in weitere Sachverhalte: den Würfel.

Eigentlich, denkt man, ist doch der Würfel eine ziemlich dröge Figur, die mit ihrer ubiquitären Rechtwinkligkeit kaum der ebenen Geometrie zu entkommen scheint. Bei genuiner Raumgeometrie stellt man sich eher die Schraubenlinie, gekrümmte Flächen, archimedische Körper usw. vor. Aber der Autor belehrt uns eines Besseren. Der Würfel hat weit mehr zu bieten als rechtwinklig zusammengesetzte Quadrate, und zwar schon, wenn man ihn allein betrachtet, und erst recht, wenn man ihn im Ensemble mit anderen Figuren sieht.

Natürlich ist es kein Zufall, dass wir auf jeder Station dieser Reise dem Würfel begegnen. Wir kennen ja den Titel des Buchs und wissen, dass die Reise unter dem Motiv des Würfels steht. Dass wir mit diesem scheinbar einfachen Motiv in vieler Herren Länder gelangen und jeweils weit ins Innere vorstoßen, ist die besondere Meisterleistung des Autors.

An vielen Stellen spürt man den klassischen Didaktiker. Das fängt mit dem Deckblatt des Buchs an, wo in einer einzigen Grafik übersichtlich sämtliche Kapitel dargestellt sind, und zwar nicht in Form von fachlichen Inhalten, sondern von Handlungen, deren Ausführung jeweils den Zugang zu den Inhalten eröffnet bzw. die selbst schon der Inhalt sind, z. B. Einbeschreiben, Durchdringen, Zerlegen usw., aber auch Darstellen, Transformieren, Verallgemeinern usw. Das ist eine heterogene Liste einerseits mit Aktivitäten, die man (in der Vorstellung bzw. in der Zeichnung bzw. an den Realisaten) konkret an den geometrischen Objekten auszuführen hat, andererseits mit solchen eines abstrakten Überbaus. Die Schlagworte sagen einem im Vorhinein nicht allzu viel, aber im Nachhinein erweisen sie sich als treffende Zusammenfassungen der jeweiligen Kapitel und liefern zusammen eine treffende Charakterisierung des ganzen Werks im didaktischen Modus.

Gedruckt und vor allem elektronisch gibt es ja weltweit hunderte Millionen Quellen zur Geometrie des Würfels, und vermutlich ist so gut wie alles, was man über den Würfel wissen kann, irgendwo aufgeschrieben. Demgemäß macht der Autor sich nicht anheischig, inhaltliche Neuigkeiten zu entwickeln. Ebenso wenig will er einen Extrakt aller (oder vieler oder auch nur einiger) dieser Papiere darbieten, sondern er hat sein eigenes Werk abgeliefert. Ein Werk in dieser Form hat – aus Sicht des Rezensenten – bis jetzt gefehlt.

Zu seiner Erstellung bedurfte es der fachlichen Souveränität, des Überblicks, der Gabe der verständlichen Vermittlung. Nicht umsonst zählen Übersichtsartikel von Altmeistern eines Gebiets zu den höchsten wissenschaftlichen Leistungen, auch wenn alles darin schon „bekannt“ ist. Eine solche Leistung hat der Autor hier erbracht. Wohl führt er selbst einige Aspekte an, die er ausgelassen hat – eine Petitesse. Tatsächlich hat er eine wirklich breite und „ziemlich“ vollständige Darstellung der „WürfelGEOMETRIE“ mit angrenzenden Gebieten mit insgesamt fast 200 Einzelthemen vorgelegt.

Natürlich ist auch dieses Buch nicht frei von Fehlern. Z. B. ist das Fremdwort für die Schlangenschwanzkurve „Ophiuride“ und nicht „Orphiuride“. (Zu einer Rezension gehört wenigstens eine solche Beckmesserei, der man entnimmt, dass der Rezensent das Buch gelesen hat, und die das Gesamtlob nur noch erhöht).

Der Autor hat die Inhalte durchweg sehr verständlich erläutert, mit genau dem richtigen Maß an Ausführlichkeit. Natürlich ist das für Anfänger in Sachen „Raumgeometrie“ manchmal zu knapp. Aber das sind ja nicht die direkten Zielpersonen, sondern diese sind Menschen, die schon eine gewisse Affinität zum Thema besitzen. Jedoch auch diese müssen sich in jedes Kapitel neu einarbeiten. Das macht ihnen der Autor aber leicht.

Ganz wesentlich für die Verständlichkeit sind die vielen Abbildungen: Fotografien von allerlei Würfeln in der realen Welt, viele Zeichnungen und eben vor allem Darstellungen raumgeometrischer Situationen, die immer wieder einfach schön sind (ein Kunstlehrer sieht das vielleicht anders). Auch bei diesen zeigt sich das didaktische Geschick des Autors. Dabei kam ihm seine Expertise aus erster Hand mit computergrafischen Werkzeugen, die an die räumliche Elementargeometrie angepasst sind, zugute. Er hatte ja 1989 die erste Software für bewegliche Elementargeometrie „Cabri Geometer“ und 2004 deren Weiterentwicklung für die dritte Dimension „Cabri 3D“ im deutschsprachigen Raum implementiert.

Aus dem Ganzen hätte man ein schönes, großformatiges Bilderbuch machen können. Das hätte aber wohl die Möglichkeiten des Verlags Franzbecker gesprengt, und vermutlich wäre das Buch dann zu teuer geworden. Ja, den Franzbecker-Verlag, der sich um die deutschsprachige Mathematikdidaktik durchaus verdient gemacht hat, gibt es noch.

Gehört das Buch eigentlich überhaupt zur Mathematikdidaktik? Oder zunächst einmal gefragt: Gehört die Geometrie, zumal die Raumgeometrie eigentlich (noch) in die Schule?

Dass in der allgemein- und in der berufsbildenden Schule zu wenig Geometrie, insbesondere Raumgeometrie getrieben wird, und zwar immer weniger, wird in jedem Jahrzehnt seit mindestens hundert Jahren und länger beklagt. Von wem eigentlich? Na ja, von den Geometrieliebhabern unter den Mathematikdidaktikern und -lehrern. Außer ihrer Liebe haben diese allerdings auch eine Menge gute rationale Gründe, warum alle Menschen sich (in ihrer Jugendzeit) mehr oder weniger ausgiebig mit Geometrie befassen sollen. Abgesehen von ihrem grundsätzlichen Bildungsgehalt gilt diese als besonders gut geeignet, das Argumentieren (bis hin zum folgerichtigen Schließen) einzuüben, universellen Ideen der Mathematik (bis hin zu solchen der Menschheit) nahezukommen, Raumanschauung zu pflegen, die Anwendbarkeit theoretischer Überlegungen in der realen Welt zu erproben und ästhetische Momente zu erleben (nicht nur mit den geometrischen Objekten, sondern auch beim Aufbau von Systemen oder bei der Eleganz eines Beweises).

Heinz Schumann verzichtet auf eine explizite didaktische Diskussion; er stellt „lediglich“ die Inhalte dar und betreibt dabei insofern Didaktik, als er sie verstehbar und motivierend darstellt. Es ist klar, dass in der Schule nur sehr kleine Häppchen davon verabreicht werden können. Raumgeometrie ist nicht nur fachlich deutlich komplexer und komplizierter als die ebene Geometrie; sie erfordert zusätzliche Raumanschauung; und ganz praktisch: Die Herstellung räumlicher Objekte ist sehr aufwendig an Zeit, Materialien, Geschicklichkeit sowie Korrekturmöglichkeiten; die Objekte sind oft ungenau; sie sind zumeist nicht veränderlich; und sie sind sperrig, was Aufbewahrung und Transport sowie Versprachlichung und Verschriftlichung betrifft.

Für Puristen der Handlungsorientierung kann ein Buch über Raumgeometrie nicht das eigenständige Werken ersetzen. Aber sie müssen sich schon nach der Effizienz ihrer Idylle fragen lassen. Natürlich hat auch das praktische Tun einen Bildungsgehalt, ist ein Wert an sich und trägt zum Erreichen der o. g. Ziele seinen Teil bei, aber darüber hinaus ist noch viel Wahrnehmen, Nachdenken, Schlussfolgern, Argumentieren usw. erforderlich. Dies alles wird durch die Papierform in erheblichem Maß vorangebracht. Die zweidimensionale Darstellung dreidimensionaler Figuren leistet darüber hinaus ihren spezifischen Beitrag, indem sie zur Aktivierung und damit zur Förderung der Raumanschauung geradezu zwingt.

Das Buch ist kein Schülerbuch. Es ist gedacht für Liebhaber der Mathematik (!), für Menschen, die bereit sind, sich von der Ästhetik der Raumgeometrie und von der Vielfalt der Aspekte und Zusammenhänge faszinieren zu lassen. Am besten blättert man ein wenig, wird dann von einer Abbildung gefangengenommen und fängt an, in dem Kapitel weiterzuarbeiten. Undsoweiter. Wer als Mathematiklehrer (oder als Hochschuldozent) eine Idee für einen Gang durch die Raumgeometrie hat, schaut in der „WürfelGEOMETRIE“ nach, lernt das fachliche Umfeld kennen und kann dann sein Curriculum basteln. Und wer keine Idee hat, lässt sich durch das Buch anregen.