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David Bryant Mumford ist ein 1937 geborener englischer Mathematiker. Zusammen mit Alexander Grothendieck und anderen war er maßgeblich an der Entwicklung der modernen algebraischen Geometrie beteiligt. Seine Publikationen erwiesen sich als enorm einflussreich, nicht zuletzt wegen ihres klar verständlichen Schreibstils. Am bemerkenswertesten sind seine Resultate zur Theorie algebraischer Flächen, zur geometrischen Invariantentheorie, zur toroidalen Geometrie, zur Theorie abelscher Varietäten und zur Theorie der Modulräume von algebraischen Varietäten. Für seine Leistungen erhielt David Mumford viele Auszeichnungen, darunter 1974 die Fieldmedaille. Ab etwa 1982, nach Fertigstellung einer Arbeit mit Joe Harris über die Kodairadimension von Modulräumen von stabilen Kurven, widmete er sich – für viele überraschend – dem Bereich der sogenannten Computer-Vision, also der Analyse und Manipulation von Bilddaten und der damit zusammenhängenden Pattern-Theory von Ulf Grenander. Auch in diesem Gebiet, das aus heutiger Sicht dem Bereich der künstlichen Intelligenz nahe ist, war er einflussreich und entwickelte dort zusammen mit Jayant Shah das Mumford-Shah-Funktional, das die Aufteilung von Bildern in Teilregionen optimiert. Mumford bezeichnet sich selbst als Polymath, also als breit interessierten Universalisten.

Das vorliegende Buch ist keine Autobiographie, sondern besteht aus zahlreichen Essays, die größtenteils Bearbeitungen von Beiträgen in Mumfords eigenem Blog sind. Sie spiegeln seine langjährige Erfahrung in vielen Bereichen wider, wobei die Zeit der algebraischen Geometrie ein wenig ausgeblendet wird. Die Inhalte der Kapitel variieren zwischen mathematischen Themen, politisch motivierten Bemerkungen und gelegentlichen persönlichen Erinnerungen. Wie Mumford im Vorwort betont, sind seine Meinungen zuweilen provokativ formuliert und er nimmt ausdrücklich in Kauf, dass sie kontrovers aufgenommen werden könnten.

Das Buch besteht aus sechs Teilen, die jeweils mehrere Essays in Form von Kapiteln thematisch bündeln. Die Inhalte umfassen den Bereich Wissenschaftskommunikation und Gesellschaft (Teil 1), die Mathematikgeschichte (Teil 2), den ganzen Komplex aus den Gebieten künstliche Intelligenz, Computer-Vision, Neurowissenschaften und Bewusstseinsforschung (Teil 3), ausgewählte Themen aus der Mathematik (Teil 4) und der Physik (Teil 5) und schließlich vermischte Bemerkungen zum Verlagswesen, zur Politik und zum Nationalismus, zur Philosophie von Spinoza sowie Spekulationen über die Zukunft (Teil 6). Einige dieser Themen will ich herausgreifen und ausführlicher beschreiben.

Der unnummerierte Abschnitt vor dem Vorwort geht auf die Bilder auf dem Cover des Buches ein, die ein Hauptthema von Mumfords Forschung illustrieren. Darauf sind Muster auf einer berandeten Fläche S im dreidimensionalen Raum abgebildet, wobei S eine menschliche Gesichtsform darstellen soll. Die auf Leonhard Euler zurückgehende Differentialgeometrie wird anhand von auf der Oberfläche eingezeichneten Niveaukurven für beide Hauptkrümmungen illustriert. Sowohl zum Zeichnen von Gesichtern als auch für die Gesichtserkennung sind solche Kurven ausgesprochen nützlich.

Mit Mumford kann man sich in Kap. 1 einig werden (oder nicht), dass der mathematische Schulstoff und seine Didaktik einer Reform bedürfen. Es besteht natürlich die Gefahr, dass derartige Veränderungen bei der derzeitigen Situation im Bildungssektor entweder ins Leere laufen oder durch Widerstände verhindert werden, wie Mumford betont. Mit Hilfe von Beispielen versucht er dennoch, zu zeigen, wie die Beliebheit des Faches und die Zufriedenheit der Lehrkräfte von anderen Herangehensweisen profitieren würden und die Verwendung der Mathematik als nützliches Werkzeug deutlich zunehmen könnte.

Vergnüglich und traurig zugleich ist die Geschichte in Kap. 2 zum Nachruf auf Alexander Grothendieck, den John Tate und David Mumford 2014 in der hochrangigen Zeitschrift Nature eingereicht hatten. Nachdem die Herausgeber in der ursprünglichen Version vermeintlich schwierige Begriffsbildungen sahen, musste der Artikel überarbeitet und gekürzt werden. Diese Begebenheit zeigt, dass das Verständnis von grundlegenden mathematischen Begriffen selbst bei solch renommierten Herausgebern nicht gegeben ist, obwohl die Mathematik, u. a. in Form der Bioinformatik, eine Grundlage für die Lebenswissenschaften bildet. Hier tut sich wieder die mit der Schulbildung zusammenhängende Lücke auf.

Mumford hat sich regelmäßig mit Mathematikgeschichte beschäftigt und seine Ausführungen in den Kap. 4, 5 und 6 zeigen, dass er differenzierte Untersuchungen angestellt hat, um historische Zusammenhänge präzise darstellen, sie zur Popularisierung der Mathematik zu nutzen und insbesondere die kulturelle Diversität aller historischen Wurzeln aufzuzeigen. Dies ist bemerkenswert, da er gelegentlich seine fehlende „Wokeness“ betont.

Die Kap. 8 und 9 haben mich am meisten fasziniert, da sie Mumfords Forschung nach 1982 im Bereich der Computer-Vision beschreiben und gleichzeitig auf neuere Entwicklungen der Neurowissenschaften und der künstlichen Intelligenz eingehen. Zum Beispiel arbeitet er heraus, wie neuronale Netze die Syntax von formalen oder natürlichen Sprachen implizit „lernen“ können. Dieses Forschungsfrage hängt mit innovativen Netzarchitekturen im Deep Learning zusammen, die bereits simpliziale Verknüpfungen höherer Ordnung oder Elemente der Typentheorie beinhalten sollten, um noch intelligenter und überprüfbarer zu arbeiten.

Das Kap. 10 beinhaltet Gedanken zur Bewusstseinsforschung. Mumford schildert hier seine Eindrücke zur Forschung in diesem interdisziplinären Forschungsfeld. Beeindruckend ist der letzte Abschnitt, der die Bewusstseinstheorie des Mainzer Philosophen Thomas Metzinger erklärt und kommentiert, die prinzipiell auch das Bewusstsein von Maschinen – wie zum Beispiel von Robotern – erklären könnte.

Kap. 13 beschreibt eine Sichtweise auf die Grundlagen der Mathematik vom Standpunkt eines angewandten Mathematikers aus. Dieses Kapitel arbeitet drei Aspekte heraus: Mögliche Subsysteme der Arithmetik zweiter Ordnung, neue Axiome in der Mengenlehre durch große Kardinalzahlen und schließlich die Diskussion des sogenannten Dart-Axioms, welches auf eine Arbeit von Christopher Freiling über Zufallsvariablen und die Kontinuumshypothese zurückgeht. Diese drei Ansätze haben sich meines Wissens bisher nicht als fruchtbar herausgestellt und verschieben die durch Gödels Sätze aufgeworfenen Probleme lediglich in andere formale Systeme. Die Betonung des Blickwinkels der angewandten Mathematik finde ich nicht passend, da der damit angedeutete Gegensatz zur theoretischen Mathematik künstliche Hindernisse aufbaut und inhaltlich nicht weiterführt.

Mehrere Kapitel in Teil 6 beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Mumford zu anderen Menschen. Kap. 16 stellt Alice und Klaus Peters in den Vordergrund, die nach ihrer Trennung vom Springer Verlag einen eigenen Verlag gegründet hatten. Mumfords Meinung nach sind offenes wissenschaftliches Publizieren und das derzeitige Verlagswesen unvereinbar. In Kap. 17 beschreibt Mumford seinen Briefwechsel mit Igor Shafarevich, dem 1992 von der National Academy of Sciences in einigen seiner Aussagen Antisemitismus vorgeworfen wurde. Er vermittelt mit Hilfe von Quellen aus erster Hand seinen eigenen Blick auf diese Vorwürfe. Zuletzt möchte ich noch Kap. 18 erwähnen, in dem Mumford sich mit dem Philosophen Baruch de Spinoza auseinandersetzt und inhaltliche Bezüge zu seinem eigenen Denken herausarbeitet.

Wie ist dieses Buch zu bewerten? Der Stil der einzelnen Kapitel variiert aufgrund der Herkunft der Texte aus Mumfords Blog merklich. Es war dennoch eine gute Idee, diese Texte zu einem Konvolut zusammenzufassen, da die Vielfalt der Themen ein reichhaltiges Spektrum für jeden Geschmack bietet und man in einem gedruckten Buch natürlich besser schmökern kann. Meines Erachtens legt David Mumford ein lesenswertes Buch vor, das spannende Einblicke in sein Denken bietet und wichtige Aspekte der Mathematik kritisch beleuchtet. Es hat mich an einigen Stellen zum intensiven Nachdenken gebracht.