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Ian Stewart ist bekannt als Autor einer großen Zahl von populärwissenschaftlichen Büchern zu mathematischen Themen. Einerseits schreibt er dabei recht unterhaltsam, andererseits sind seine Bücher anspruchsvoller als die meisten vergleichbaren Bücher. Damit hat sich Ian Stewart – vor allem im englischsprachigen Raum – um die Popularisierung mathematischer Themen und Ideen verdient gemacht. Die meisten seiner Bücher gibt es in deutscher Übersetzung, so auch das Buch ‚Wetter, Viren und Wahrscheinlichkeit‘ (Originaltitel: ‚Do Dice Play God‘), das ich hier besprechen möchte. Das Buch beschäftigt sich mit der Unsicherheit und Unvorhersagbarkeit vieler alltäglicher Phänomene, und konzentriert sich dabei auf die Fragen: Kann die Mathematik erklären, wodurch und wie diese Unsicherheit entsteht? Wie kann die Unsicherheit mathematisch beschrieben werden? Wie kann die Mathematik schließlich dabei helfen, mit der Unsicherheit umzugehen? Diese Fragen werden zum Anlass genommen, Themen aus der Stochastik, der Theorie dynamischer Systeme und der Quantenmechanik zu beleuchten.

Einen gewissen Rahmen für die behandelten Themen liefert die Einteilung der Wissenschaftsgeschichte in die ‚sechs Zeitalter der Ungewissheit‘. Hierfür identifiziert Stewart wissenschaftliche Entdeckungen und Erkenntnisse, die jeweils zu einer neuen Qualität im Umgang mit Unsicherheit geführt haben. Diese Einteilung wird im ersten Kapitel eingeführt und in der Zusammenfassung des letzten Kapitels noch einmal aufgegriffen. Die restlichen 16 Kapitel sind entsprechend weitgehend historisch sortiert und beschreiben schlaglichtartig jeweils einen Aspekt der mathematischen Behandlung von Unsicherheit, wobei im Einzelnen folgende Themen behandelt werden: Der vorwissenschaftliche Umgang mit Unsicherheit, die Quantifizierung von Unsicherheit mittels Wahrscheinlichkeiten und Erwartungen, von kombinatorischen Aspekten zur Binomialverteilung, Fehleranalyse und der zentrale Grenzwertsatz, stochastische Paradoxien und fehlerhafte stochastische Intuition, Unsicherheit und stochastische Methoden in den Gesellschaftswissenschaften, der Satz von Bayes und seine Fallstricke, Thermodynamik und Entropie, nichtlineare dynamische Systeme und chaotisches Verhalten, Wettervorhersage und Klimawandel, statistische Verfahren und klinische Studien, die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften, Modelle für menschliches Denken und künstliche Intelligenz, Grundzüge der Quantenmechanik, das Messproblem und Interpretationen der Quantenmechanik, die Nutzung von Unsicherheit und (Pseudo‑)Zufallszahlen. Die meisten Kapitel sind weitgehend in sich abgeschlossen und meist nur lose miteinander verknüpft.

Während der Text für LeserInnen mit grundlegender universitärer mathematischer Vorbildung eine leichte Lektüre sein sollte, verlangt er LeserInnen, die über keine mathematischen Vorkenntnisse jenseits der Schulbildung verfügen, einiges an gedanklicher Arbeit und Konzentration ab. Dabei sind die Themen aber so gut aufbereitet, dass man bei ausreichendem Einsatz viel mitnehmen kann. Jede zu erklärende mathematische Idee oder Vorgehensweise wird jeweils an einem konkreten Beispiel, Gedankenexperiment oder Problem festgemacht. Die Erklärungen werden dadurch recht anschaulich und unterhaltsam, und die mathematische Vorgehensweise wird damit hervorragend motiviert. Andererseits muss man schon aufpassen, dass einem innerhalb eines Kapitels bei den verschiedenen Schlaglichtern auf ein mathematisches Thema der rote Faden nicht verlorengeht. Das vorliegende Buch geht etwas tiefer als die meisten vergleichbaren populärwissenschaftlichen Bücher, und meist funktioniert das ganz gut – insbesondere dann, wenn Stewart sich ausreichend Zeit für ein Thema nimmt (z. B. bei der Herleitung der Binomialverteilung in Kap. 4 oder der Erklärung des Satzes von Bayes in Kap. 8). An ein paar wenigen Stellen finde ich den Anspruch im Hinblick auf die intendierte Zielgruppe etwas überambitioniert (z. B. bei der Erklärung der zentralen Grenzwertsatzes in Kap. 5, der Erklärung seltsamer Attraktoren in Kap. 10 oder der Einführung der komplexen Zahlen zur Erklärung von Phasenverschiebungen in Kap. 15). Trotz der anspruchsvollen Themen wird die Verwendung mathematischer Formeln fast vollständig vermieden. Dies ist für die intendierte Zielgruppe durchaus angemessen, führt aber manchmal zu etwas umständlichen Umschreibungen von Formeln. Erfreulich ist, dass der Text auch ohne mathematische Formeln fast immer ausreichend präzise ist, um auch fachmathematischen Ansprüchen zu genügen. (Leider enthält zumindest die mir vorliegende deutsche Ausgabe ein paar ärgerliche Druckfehler in Formeln, so sind etwa in der Formulierung des zentralen Grenzwertsatzes im Anhang zu Kap. 7 gleich mehrere Fehler, und in Kap. 17 fehlen bei der Beschreibung des Mersenne-Twisters im Text mehrere Potenzausdrücke, so dass diese Stelle nicht gut verständlich ist). An ein paar Stellen werden die Erläuterungen im Text durch Diagramme ergänzt, die generell hilfreich sind.

Die im Buch behandelten Themen sind zum großen Teil auch schon in anderen populärwissenschaftlichen Büchern dargestellt worden, und auch viele der Beispiele und Problemstellungen, an denen die Themen aufgehängt sind, hat man anderswo schon gesehen. Vielleicht kennt man z. B. die beschriebenen stochastischen Paradoxa (wie etwa das Geschwister-Paradox) aus einer Stochastik-Vorlesung. An einigen Stellen finden sich aber doch auch weniger bekannte Themen und Bezüge auf aktuelle Forschung, so etwa die Beschreibung eines neuronalen Netzwerk-Modells zur visuellen Wahrnehmung von Hugh Wilson, oder das Gedanken-Experiment von Frauchiger und Renner zum Messproblem der Quantenmechanik.

Der Reiz des Buches liegt vielleicht auch gar nicht so sehr in der Darstellung der einzelnen Themen, sondern in der etwas ungewöhnlichen Zusammenstellung, die den Bogen sehr weit schlägt und Themen aus unterschiedlichen Teilgebieten der Mathematik untereinander und mit Themen aus der Physik, den Neurowissenschaften, der Finanzwirtschaft und der Psychologie verknüpft. Ich hätte mir hier noch etwas mehr Kapitel gewünscht, die das Zusammenspiel der verschiedenen Methoden und Disziplinen beschreiben. Beispielsweise in Kap. 17 ist dies bei der Beschreibung von (Pseudo‑)Zufallszahlen und genetischer Algorithmen jedenfalls sehr gut gelungen. Sucht man nach einer allgemein verständlichen Einführung in die Stochastik oder in die Theorie der dynamischen Systeme, gibt es dafür vielleicht auch bessere Bücher.

Insgesamt kann ich ein positives Fazit ziehen: ‚Wetter, Viren und Wahrscheinlichkeit‘ ist ein unterhaltsames und vergleichsweise anspruchsvolles populärwissenschaftliches Sachbuch. Es könnte interessant sein für mathematische Laien, die verstehen möchten, was Mathematik erklären kann und was nicht, für Studierende der Mathematik in den Anfangssemestern, die interessante und überraschende mathematische Anwendungen sehen möchten, oder auch für Lehrer, die ihre Schüler mit Anwendungsbeispielen von Mathematik motivieren möchten, wie sie in Schulbüchern sicher nicht zu finden sind.