figure a

Im Vorwort des Buches drückt der Autor die Hoffnung aus, einen „fresh approach“ zur Philosophie der Mathematik zu bieten. Er enttäuscht seine Leser nicht. Aus der Position der Grundlagen der Mathematik heraus gewinnt der Autor eine lockere Distanz zur Mathematik, um souverän, immer wieder einmal begleitet von einem Augenzwinkern, über Mathematik nachzudenken. Schon die Widmung des Buches ist ein mengentheoretisches Lächeln: „To all and only those authors who do not dedicate books to themselves.“

Nehmt Abstand von eurer Mathematik und blickt auf sie. Das ist der Aufruf jeder Philosophie der Mathematik. Hamkins Blick ist deutlich: Moderne Mathematik ist, inklusive ihrer Grundlagen, Menschenwerk. Diese tägliche Erfahrung des mathematischen „Grundlagenhandwerkers“ bestimmt den Tenor des Buches. Es ist voller Anregungen und bietet in großer Breite zahlreiche und tiefe Einblicke in die Arbeitsweisen, Methoden und Begriffe diverser Gebiete der Mathematik, nicht zuletzt der mathematischen Grundlagen.

Die Lectures sind zahllos: Das Inhaltsverzeichnis zeigt geschätzt 300 Punkte in acht Kapiteln und 65 Abschnitten. Das macht deutlich, wie breit und differenziert die Philosophie der Mathematik ist. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis dürfte jeden Leser animieren, sofort hier oder dort nachzuschlagen. Das Buch ist in der Tat ein ausgezeichnetes mathematikphilosophisches Nachschlagewerk, das bald vom Blättern ins Lesen in Zusammenhängen (ver)führt. Ich versuche, an Beispielen meinen Gesamteindruck zu schildern.

Dazu schaue ich zuerst in die letzten vier Kapitel über das Fundament der heutigen Mathematik. Es sind die Kapitel „Beweis“, „Berechenbarkeit“, „Unvollständigkeit“ und „Mengenlehre“. Was wir hier über mathematische Grundlagen erfahren, ist in solchem Umfang und in den vielen Details wohl selten in einer Philosophie der Mathematik zu finden. Der Autor führt den Leser bis in schwierige Fragestellungen, Begriffe, Methoden ein, so geschickt, dass jeder Mathematiker, auch wenn ihm die Grundlagenfragen und -begriffe fremd sind, die Dinge mit Interesse verfolgt.

Im Kap. 5 „Proof“ geht es im großen Rahmen um die Logik, die Grundlage der Beweise, diverse Aspekte des Beweisens, um Formalisierung und formale Beweise, um Korrektheit, Vollständigkeit und Kompaktheit. Und es geht um Logiken. Wir lesen: „… there is not just one true logic, but many.“ Das steht im Punkt „Logical Pluralism“. Was ist, mögen wir fragen, mit unseren Beweisen, von denen die Mathematik lebt? Gibt es jetzt eine Pluralität davon, was wir unter „Beweis“ verstehen können. Ja und nein. Ja, weil es z. B. die intuitionistische Logik gibt, die z. B. Widerspruchsbeweise zurückweist. Nein, weil es einen breiten Konsens über die „wahre“ klassische Logik gibt. Nein, weil das, was als Beweis anerkannt wird, in der Gemeinschaft der Mathematiker ausgehandelt wird.

Es ist eine wichtige und realistische Sicht, „Beweis“ als soziologische Erscheinung anzuerkennen. „Proof as dialogue“ heißt ein Punkt im Abschnitt „What is proof?“. Die Objektivität der Beweise jedenfalls ist relativiert, zumal dann, wenn man unterschiedliche Logiken akzeptiert. Man kann damit leben – in gegenseitiger Anerkennung der unterschiedlichen Logiken. „No unbridgeable chasm“, lautet der Punkt zuvor. Kurz: kein Beinbruch.

Hamkins pflegt, wie wir sehen, einen liberalen Umgang mit Beweisen und ihrer Grundlage, mit der einen Logik, an die wir „glauben“. Es kommt aber noch liberaler. Noch eine unserer Eindeutigkeiten wird hinterfragt: die unserer Mengenlehre, die uns die Begriffe und Strukturen liefert. Im Kap. 8 „Set Theory“ und schon im Kap. 1 (1.16 „What is philosophy for?“) spricht Hamkins von „Multiversen“. Was ist das? Das Gegenteil von „Uni-Versum“, unserem eindeutigen mengentheoretisches Universum, an das wir „glauben“. Hamkins bewegt sich frei in Modellen der Mengenlehre: mit Kontinuumshypothese oder ohne, mit Konstruktibilitätsaxiom oder ohne, mit großen Kardinalzahlen oder … usw.

Allen diesen Mengenlehren erlaubt Hamkins eine (potentielle) platonische Existenz, ein Leben in einem „Himmel“ von real existierender Strukturen und Modellen, in denen wir arbeiten. Er vergleicht die Situation mit den Geometrien, die heute euklidisch, hyperbolisch und elliptisch betrieben werden und genauso und ohne Protest je einen eigenen Platonismus beanspruchen können. Es ist ein liberaler strukturalistischer Platonismus. Ich blättere zurück ins Kap. 1 über „Numbers“, die und deren Strukturen Hamkins nutzt, um philosophische Grundhaltungen zu charakterisieren. Charakteristisch für die mathematische Arbeit in strukturalistischer Sicht ist, nicht isolierte Elemente zu fixieren, sondern die Relationen zwischen ihnen in Strukturen (modulo Isomorphie) zu studieren. Der „strukturalistische Imperativ“ lautet: „Therefore, do not concern yourself with the substance of individual mathematical objects, for this is mathematically fruitless …“. Ein liberaler platonistischer Strukturalismus, ein „Potentialismus“, scheint mir auch Hamkins Position zu sein. Nirgendwo aber bekennt sich Hamkins explizit dazu – oder zu irgendeinem anderen Ismus.

Was zeigen diese Blicke in die letzten Kapitel? Mathematische Grundlagen sind, wie andere Theorien auch, klug ausgedacht. Und: Mathematische Wahrheit ist menschengemacht. Das ist ein Charakteristikum moderner Mathematik und eigentlich nur das natürliche Eingeständnis, den Begriff der Wahrheit theoretisch, so, wie die heutige Mathematik ist, nicht klären zu können. Schon die innermathematische, eine theoretische, Wahrheit ist ein Problem. Sie ist, wie Tarski bewies, innerhalb einer Theorie nicht definierbar. Dazu braucht es eine formalisierte Metasprache. Darüber lesen wir im Punkt 7.5 im Kap. 7 „Incompleteness“. Hamkins bereitet ausführlich die Positionen und die Ideen von Unvollständigkeitsphänomenen vor, die zu den zentralen Aussagen und zu Beweisen führen, deutet Beweisideen an und führt sie partiell aus.

Zu Beginn des Buches geht es zuerst um das große Thema „Numbers“ (Kap. 1), dann um mathematische Strenge („Rigor“) im Kap. 2, um „Infinity“ and „Geometry“ (Kap. 3 und 4). Im Kapitel „Numbers“ werden die Zahlen, Zahlentypen und Zahlbereiche aus elementarer Sicht bis in ihre mathematischen Charakterisierungen vorgestellt und die philosophischen Auffassungen ihrer Existenz – vom Platonismus über den Strukturalismus und Nominalismus bis zum Fiktionalismus (Kap. 2) – plastisch, partiell amüsant, vorgeführt. Unendlichkeit im Kap. 3 („Infinity“) ist durchgehend aktuale Unendlichkeit, wie sie es heute ist – vom Hilbertschen Hotel bis zu unerreichbaren Kardinalzahlen. Die alte potentielle Unendlichkeit kommt in zwei knappen Punkten vor – über Zenon und Aristoteles.

Zwiespältig ist das Kap. 4 „Geometry“. Der Autor führt zu Beginn in alte Elementarkonstruktionen mit Zirkel und Lineal ein, macht die alte Geometrie des Euklid lebendig – und zeigt gleich deren Grenzen. Es entstehen in Konstruktionen nur abzählbar viele Punkte der Ebene – „missing some points“, wo doch der \(\mathbb{R}^{2}\) überabzählbar ist. Er bringt zahlreiche geometrische Anregungen, zeigt die bekannten Probleme wie die Winkeldreiteilung, reduziert oder erweitert die Zeicheninstrumente – immer illustriert an suggestiven Abbildungen – und stellt ontologische Fragen. Die nichteuklidischen Geometrien werden vorgestellt und ihre philosophische Bedeutung diskutiert.

Und dennoch: Eine Schwäche der Darstellung ist der vornehmlich aktualisierende Blick. Trotz der Würdigung wird die alte euklidische Geometrie mit heutigen Maßstäben gemessen. Man kann alte und neue Geometrie vergleichen, aber sollte die alte nicht z. B. als „strangely – by contemporary standards“ werten. Im Abstract schon kündigt Hamkins „correcting Euclid“ an. „Errors in Euclid?“, lautet der Abschn. 4.7.

Als Defizit aus heutiger Sicht wird das Fehlen von Axiomen zur Zwischenrelation der Punkte auf einer Geraden registriert und die fehlenden Stetigkeitsaxiome werden moniert. Beides ist unangemessen. Stetigkeit war bis ins 19. Jahrhundert Teil der Anschauung, die die Grundlage der Geometrie war. Es war unmöglich gewesen, hier Axiome zu formulieren. Stetigkeit wurde erst durch unsere Mengenmathematik zum Problem, die die alten Größen zu Zahlen und Punkten gemacht und die Punktmengen erschaffen hat.

Beispiel: „Schneiden sich zwei Kreise?“ fragt Hamkins. „Perhaps each passes through a gap in the other“, gibt er zu bedenken – ganz in der Punktmengenauffassung der Geraden. Er vermisst in Euklids Geometrie die „Strenge“, die er im Kap. 2 („Rigor“) am Beispiel des Stetigkeitsbegriffs demonstriert. Wie schwierig und künstlich es ist, die alte Stetigkeit neu wieder herzustellen, zeigt die Logik und die Voraussetzung der infiniten Wirkungsbereiche der Quantoren im modernen Begriff der Stetigkeit. Die einfachere strenge („rigorous“) Nonstandardversion fehlt im Kap. 2.

Genauso ahistorisch ist es, zu erwarten, dass Euklid Axiome einer Zwischenrelation formuliert. In der alten Geometrie lagen Punkte nicht auf einer Geraden vor wie heute, sondern sie wurden gesetzt oder entstanden in den Konstruktionen. Die Zwischenrelation der Punkte entstand in der Konstruktion oder der Setzung.

Es ist erlaubt – wie eben geschehen –, in einer Buchbesprechung auch Kritik oder unerfüllte Wünsche zu äußern. Eine Schwäche des Buches scheint eine Nebenerscheinung seiner großen Stärke zu sein, nämlich der Position in mathematischer Logik und Mengenlehre. Sie mag der Grund sein, dass Hamkins Philosophie der Mathematik historisch erst dort einsetzt, wo die mathematischen Grundlagen entstanden – im 19. Jahrhundert. Historisches zuvor wird im Text gestreift, historische Mathematiker oder Philosophen und Details werden genannt, aber aus der Perspektive heutiger Mathematik gesehen. Das Beispiel der Geometrie haben wir genannt. Da die Position der alten, anschaulich-geometrischen Mathematik nicht eingenommen wird, wird auch nicht erkennbar, welche revolutionäre Wende im 19. Jahrhundert von der alten Mathematik der Größen zur arithmetisierten, besser: mengentheoretisierten Mathematik stattgefunden hat. Die reellen Zahlen, die der Repräsentant der Wende sind, werden in wenigen Absätzen abgehandelt.

Der Nonstandardansatz der Analysis, der eine entscheidende Wendung in die Wende gebracht hat, erscheint am Rande (2.7 „Infinitesimals revisited“), weniger philosophisch als unter Grundlagengesichtspunkten. „‚The‘ hyperreal numbers?“ tauchen hier auf, nicht im Kapitel „Numbers“. Die hyperreellen Zahlen sind der Repräsentant einer Wende in der Philosophie der Mathematik, die manche Standardauffassungen aufhebt, die sich seit der mathematischen Wende ausgebildet haben und zum selten hinterfragten Repertoire gehören. Beispiel: Zahlengerade. Sie gibt es seit den hyperreellen Zahlen nicht mehr, d. h. nur dann, wenn man die reellen Zahlen bewusst als theoretisches Modell für die Gerade setzt. Die allgemeine Vorstellung, dass Kontinua Punktmengen sind, ist aufgehoben. Auch sie ist nur Modell.

Ich habe oben hervorgehoben, dass der Text des Buches grundlagenmathematisch geprägt ist. Von den Grundlagen her, scheint mir, ist der Autor Philosoph geworden. Die mathematischen Grundlagen, Logik und Mengenlehre, waren es, die die Mathematik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von der Philosophie emanzipierten. Jedoch dort, wo die Grenzen der Mathematik liegen (Kap. 6 bis 8) – die die Mathematik übrigens selbst erkennt, singulär unter den Wissenschaften –, da tritt die Philosophie wieder in ihr Amt. Hier liegt klar die Notwendigkeit einer Philosophie der Mathematik begründet, aus der heraus Hamkins seine Darstellung entwickelt. Er hat eine wichtige Philosophie der Mathematik geschrieben.

Das Buch von Hamkins ist, ich meine es nicht nur umgangssprachlich, „genial“. Es ist anregend geschrieben, ja auffordernd. Es sei jedem empfohlen, der mathematisch studiert und arbeitet und nachdenklich etwas Abstand vom mathematischen Alltag nehmen will. Er wird immer wieder überrascht sein – und sich am „fresh approach“ erfreuen.