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Wolfgang Tschirk hat zu seinen 2021 erschienenen Geistesgeschichten der Mathematik („Vom Spiegel des Universums“) und der Physik („Vom Universum“) eine weitere gesellt, eine Geistesgeschichte der Logik, die uns durch das „Universum des Denkens“ leiten will. Seit Anbeginn der Philosophie gehört die Logik in deren Kernbestand, und zwar als Denklehre neben der Ethik als Lehre vom guten Handeln und der (Meta‑)Physik, die sich mit der nicht-menschlichen Welt befasst. Im Verbund mit den sieben freien Künsten konstituierte sich daraus die allumfassende Weltweisheit als Summe aller Wissenschaften. Die Auffassung der Logik als Denklehre hielt sich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, allerdings spezialisiert als normative Theorie des Denkens, die lehrt, wie gedacht werden soll, um etwa aus gegebenen Prämissen einen korrekten Schluss ziehen zu können. Sie wurde dadurch von der Psychologie unterschieden, die das Denken, wie es sich in der Denkpraxis manifestiert, empirisch untersucht. Heute wird man allerdings mit logischen Problemen noch am ehesten in den Grundlagendisziplinen der Mathematik und in der theoretischen Informatik konfrontiert.

Obwohl sich Wolfgang Tschirks Büchlein als logikhistorische Skizze präsentiert, ist es auch systematisch orientiert und nach für die Logik zentralen Grundbegriffen gegliedert. Wer nun eine Einteilung nach Art traditioneller Logiklehrbücher erwartet, wird enttäuscht. Während bei einer traditionellen Einteilung die Lehren vom Begriff, vom Urteil und vom Schluss, mit einer sich anschließenden umfassenden Methodenlehre kanonisch wären, wird hier in acht Kapiteln von den Urteilen, den Aussagen, vom Glauben und Wissen, vom Subjekt und Prädikat, vom Müssen, Sein und Sollen, von der Erkenntnis, der Mathematik und schließlich von der Wahrheit gehandelt.

Im Kapitel 1 „Von den Urteilen“ geht es um die Aristotelische Theorie der Standardformen, also der partikulär und universell bejahenden und verneinenden Urteile, auf deren Grundlage die Syllogistik, die Theorie mittelbarer Schlüsse aus zwei Prämissen auf eine Konklusion, steht. Kapitel 2 „Von den Aussagen“ behandelt die Stoischen Modifikationen und Erweiterungen der Logik des Aristoteles, insbesondere die Aussagenlogik mit ihren Aussagenverknüpfungen. Der Autor erwähnt die unbeweisbaren Regeln des Chrysippos, deren erste dem unmittelbaren Schluss des Modus ponens, die zweite dem Modus tollens entspricht. Bei der Gelegenheit führt er heute übliche logische Notationsweisen ein und präsentiert die Definition logischer Junktoren mittels deren Wahrheitswertverläufen. Kapitel 3 „Vom Glauben und Wissen“ ist den mittelalterlichen Erweiterungen der griechischen Logik gewidmet. Es geht aber auch um die Rolle des Collegium Logicum im Studium in der mittelalterlichen „Artistenfakultät“, in dessen Zentrum die sieben freien Künste standen, mit dem auf die höheren Fakultäten (Theologie, Medizin, Jura) vorbereitet wurde. In dem Abschnitt geht es auch um die auf Mehrdeutigkeiten der Sprache beruhenden Sophismata und um Insolubiliae, also Paradoxien. Weitere Themen sind die großen Logiklehrbücher des Mittelalters, die Problematik der Gottesbeweise am Beispiel des Anselmischen ontologischen Gottesbeweises und den durch neue kosmologische Theorien und durch die beginnende Methodenreflexion geförderten Aufschwung der Wissenschaften in der Renaissance, ein Aufschwung, der auch mit der Präsentation von Logik und Wissenschaft nicht mehr nur in lateinischen Traktaten, sondern auch in den Nationalsprachen einherging. Im Zentrum von Kapitel 4 „Von Subjekt und Prädikat“ steht Gottlob Freges Prädikatenlogik, die sich mit ihrer Auffassung des Prädikats als Funktion auch für die Formalisierung von Relationen und damit von Sätzen wie „Platon war älter als Aristoteles“ eignet, die bis dato der syllogistischen Behandlung verschlossen waren. Der Autor behandelt Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung von Begriffen und von Aussagen und damit eine Kerntheorie der modernen Semantik. Das Kapitel schließt mit Bertrand Russells Theorie der Kennzeichnungen. Kapitel 5 „Vom Müssen, Sein und Sollen“ ist nicht-klassischen Logiken gewidmet: der Theorie der strikten Implikation von Clarence Irving Lewis, der modalen Prädikatenlogik von Ruth Barcan Marcus, Theorien möglicher Welten von Saul A. Kripke und David Kellogg Lewis, aber auch W. V. O. Quines Kritik an modallogischen Ansätzen, Arthur Norman Priors temporalen Logiken und Georg Henrik von Wrights deontischer Logik. Kapitel 6 „Von der Erkenntnis“ behandelt das Verhältnis von Denken und Erkennen, vor allem in Hinblick auf Erfahrungserkenntnis. Der Autor behandelt induktive Logiken und ausführlicher Wahrscheinlichkeitslogiken. Kapitel 7 „Von der Mathematik“ ist der mathematischen Logik gewidmet, die heute oft allgemein mit Logik identifiziert wird. Der Autor geht von den Kalkülschriften von Gottfried Wilhelm Leibniz aus, behandelt George Booles Algebra der Logik und erwähnt Claude Elwood Shannons Schaltalgebra. Die weitverbreitete Auffassung, dass Mathematik eigentlich Logik sei (Logizismus) implizierte die Notwendigkeit, mathematische Sätze logisch zu begründen. Der Autor behandelt die diesbezüglichen Ansätze von Gottlob Frege und die Principia Mathematica von Alfred North Whitehead und Bertrand Russell. Er bespricht die moderne Axiomatik David Hilberts, seine Begründung der Beweistheorie sowie die mit Kurt Gödels Unvollständigkeitssätzen von 1931 einhergehende Beschränkung des Hilbertschen Programms einer umfassenden widerspruchsfreien Axiomatisierung der Mathematik. Das abschließende Kapitel 8 „Von der Wahrheit“ behandelt Alfred Tarskis Wahrheitsdefinition und die dreiwertige Logik von Jan Łukasiewicz, in der neben den Werten „wahr“ und „falsch“ noch der Wert „unbestimmt“ zugelassen ist.

Auch wenn Tschirks Buch sich an ein breites Publikum richtet und nicht der Forschungsliteratur zuzuordnen ist, ist doch festzuhalten, dass es dem Autor in herausragender Weise gelingt, nicht nur eine kurze und prägnante Geschichte der Logik vorzulegen, sondern auch die Logik in ihrer Vielfalt und ihren komplexen Bezügen zu Denken, Erkenntnis und Wissenschaft darzustellen, ganz im Sinne des im Titel genannten Ziels, das Universum des Denkens zu präsentieren. Bei der Vielfalt der angesprochenen Themen muss er natürlich exemplarisch vorgehen und selbst dann kann manches nur angerissen werden.

Dies kann dann problematisch werden, wenn etwa für Beurteilungen nicht argumentiert wird. Dies sei beispielhaft an Tschirks Kritik an Immanuel Kant gezeigt, der ein besonderer Zielpunkt kritischer Bemerkungen zu sein scheint. Kant, dem wir immerhin den Begriff „formale Logik“ zu verdanken haben, wird häufig und auch in dieser Schrift (S. 42) die pointierte Bemerkung aus der Kritik der reinen Vernunft von 1787 vorgehalten, dass die Logik „seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat thun dürfen“, dass Kant es aber merkwürdig finde, „daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat thun können“, sie also „allem Anschein nach geschlossen und vollendet zu sein scheint“ (B VIII). Was Kant unter „Logik, wie sie von Aristoteles ausgegangen ist“, verstand, wird sehr deutlich in seinem umfassenden, 1800 von Gottlob Benjamin Jäsche herausgegebenen Logiklehrbuch. Kant meinte offenbar nicht die Logik des Aristoteles, sondern das, was bis heute „Aristotelische Logik“ genannt wird und die Ergänzungen und Erweiterungen von der Stoa bis ins 18. Jahrhundert umfasste. Diese Ergänzungen und Erweiterungen wurden von Kant durchaus gewürdigt, aber er tat sie als „Wegschaffung einiger entbehrlicher Subtilitäten“ und als „deutlichere Bestimmung des Vorgetragenen“ ab. Gleichwohl ist festzustellen, dass das inkriminierte Zitat weniger als naive Fehleinschätzung, sondern als durchaus zutreffende Charakterisierung der Logik als über Jahrtausende stabiles Maß für Rationalität und wissenschaftliche Methode zu sehen ist.

Der Jäsche-Logik kann auch entnommen werden, dass es schlicht falsch ist, Kant die Auffassung zuzuschreiben, die Logik sage, wie wir tatsächlich denken (so auf S. 76), sie würde das Denken lediglich beschreiben, sie sei daher Erfahrungswissenschaft (so auf S. 111). In der Jäsche-Logik heißt es ausdrücklich, dass die Logik die „Wissenschaft von den nothwendigen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt“ sei (1800, S. 4). Ihre Gesetze gelten also apriorisch, sie ist damit eben keine Erfahrungswissenschaft. Anders als die Logik untersuche dagegen die Psychologie, „wie das Denken vor sich geht“ (S. 6). Die psychologische Untersuchung führt aber zur Erkenntnis nicht der notwendigen, sondern der zufälligen Gesetze des Denkens. Die Logik untersucht also nicht, „wie der Verstand ist und denkt und wie er bisher im Denken verfahren ist, sondern wie er im Denken verfahren sollte“ (S. 6). Tschirk behauptet auch vom britischen Algebraiker der Logik George Boole, dass er eine deskriptive Logikauffassung vertrete, also Psychologist sei (S. 111). Offenbar wird diese Behauptung aus Booles Bestreben abgeleitet, die Laws of Thought, also die Gesetze des Denkens aufzustellen. Selbst wenn solche Gesetze analog zu den Naturgesetzen aufgefasst würden: sind Naturgesetze deskriptive Gesetze des Naturgeschehens? Wer das behauptet, vertritt eine zumindest nicht unumstrittene Auffassung (die Kant übrigens nicht teilte).

Trotz dieser Kritik: Mit seinem Universum des Denkens steht Wolfgang Tschirk in der Tradition des in Umfang und Ausrichtung ähnlichen Pionierwerkes der modernen Logikgeschichtsschreibung, der 1931 erstmals veröffentlichten Geschichte der Logik des Münsteraner Theologen, Philosophen und Logikers Heinrich Scholz. In dieser Traditionslinie macht es eine sehr gute Figur.