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In ihrem Buch „Von der Mathematisierung in der Ökonomie zur modernen Finanzmathematik“ zeichnet die Journalistin Agnes Handwerk die Entstehungsgeschichte der modernen Finanzmathematik nach. Ausgehend von der „Formalist Revolution“ der Wirtschaftswissenschaften in den 1950er-Jahren bis zur Finanzkrise 2007/08 wird diese Entwicklung vor allem aus dem Blickwinkel deutscher und europäischer Mathematiker und mathematisch ausgebildeter Ökonomen erzählt. Neben Archiv- und Literaturrecherche sind Interviews mit den Wissenschaftlern Freddy Delbaen, Paul Embrechts, Hans Föllmer, Werner Hildenbrand, Thomas Mikosch und Dieter Sondermann eine wesentliche Grundlage von Agnes Handwerks Buch. Ein geplantes Interview mit dem 2014 verstorbenen Mathematiker Marc Yor kam nicht mehr zustande.

Anschaulich schildert Agnes Handwerk, wie Ende der 1960er und Anfang der 1970er die zunehmende Formalisierung und Mathematisierung in den Wirtschaftswissenschaften junge Mathematiker anzieht. An Orten wie CORE, dem Center for Operations Research an der Université Catholique de Louvain, dem DFG-Sonderforschungsbereich 21 in Bonn oder auf Workshops in Luminy und Oberwolfach treffen mathematisch versierte Ökonomen wie Gérard Debreu und Werner Hildenbrand auf aufstrebende Mathematiker wie den Wahrscheinlichkeitstheoretiker Hans Föllmer oder den Funktionalanalytiker Freddy Delbaen. Die Einsicht, dass sie mit ihrem Fachwissen zur ökonomischen Theoriebildung beitragen können fasziniert die Wissenschaftler und prägt ihre weiteren Forschungsschwerpunkte. In den 1980er-Jahren und Anfang der 1990er wird nach den bahnbrechenden Arbeiten von Kreps, Harrison und Pliska die entscheidende Bedeutung der Stochastik, insbesondere der Martingaltheorie, für die Bewertung von Finanzderivaten offensichtlich. Die Mathematisierung der Ökonomie erhält einen weiteren entscheidenden Impuls und wandelt sich zur Mathematical Finance, der modernen Finanzmathematik. Agnes Handwerk zitiert Freddy Delbaen zur damals herrschenden Aufbruchsstimmung: „Es war für mich sowieso verblüffend, wie stark solche mathematischen Begriffsbildungen und Argumentationen, z.B. die äquivalenten Martingalmaße, offene Türen vorfanden in den Finance und Economic Departments. Dass die bereit waren, so stark mitzugehen bei der Mathematisierung! Das war faszinierend und es hat auch besonders viel Spaß gemacht, dass man auf Tagungen so viel Gemeinsamkeiten in der Sprechweise und Argumentation fand.

In der Mitte ihres Buches dokumentiert Agnes Handwerk diese Entwicklung mit einigen interessanten wissenschaftsgeschichtlichen Dokumenten; darunter das Programm und der Förderantrag einer Tagung, welche 1989 an der US-amerikanischen Cornell-University als erste Veranstaltung Ökonomen und Mathematiker aus den Vereinigten Staaten und Europa im neuen Gebiet der Mathematical Finance zusammenbrachte. Hier lässt sich ein unmittelbarer Blick auf eine Keimzelle der modernen Finanzmathematik werfen, welche im anschließenden Jahrzehnt einen regelrechten Boom erlebte und in der Folge eine Vielzahl von Publikationen, Forschungsprojekten und wissenschaftlichen Werdegängen innerhalb der angewandten Mathematik prägte.

Der letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Zeit der globalen Finanzkrise 2008/09 welche auch für die Finanzmathematik eine veritable Krise darstellte. Die idealisierten mathematischen Modelle, welche einen vermeintlich kontrollierten Umgang mit immer komplexeren und – für viele Marktteilnehmer – undurchschaubaren Finanzprodukten erst ermöglichten, standen vielfach in der Kritik. Bereits in den vorangehenden Kapiteln gibt Agnes Handwerk auch Kritikern der ökonomischen Formalisierung wie Mark Blaug und John K. Galbraith Raum. So wird die Frage aufgeworfen, ob der Hang der Mathematiker zur Axiomatisierung und Abstraktion in Tradition von Hilbert und Bourbaki in den Wirtschaftswissenschaften den Blick auf die eigentlich wesentlichen Fragestellungen verstellt habe. Werner Hildenbrand zitiert sie selbstkritisch: „Ganz am Anfang haben wir das gar nicht hinterfragt. Ich habe das so gesehen, wie man das in der Mathematik sieht: sind interessante Axiome, das ist ein interessantes Modell, das ist eine interessante Frage. Das Modell hat man so naiv genommen, wie es war. Naiv! Das ist der richtige Begriff. Ich habe mich gefreut, dass ich da ein mathematisches Problem habe, das ich lösen kann […]“ Zur Finanzkrise von 2008/09 verweist Agnes Handwerk auf die von Thomas Lux geleitete Arbeitsgruppe „Modelling financial markets“ des 98. Dahlem Workshop, welche einen Paradigmenwechsel der ökonomisch-mathematischen Modellbildung fordert und insbesondere bessere Kommunikation zu Grenzen und Annahmen der eingesetzten Modelle einmahnt.

Im Fazit von Agnes Handwerk bleibt offen, ob die Finanzkrise bereits als „Anfang vom Ende“ der modernen Finanzmathematik gelesen werden kann und einen Paradigmenwechsel notwendig gemacht hat oder – wie von Hans Föllmer vertreten – die Finanzkrise zwar ethische Probleme und Probleme der Finanzmarktregulierung offenbart hat, aber keine Probleme der unzureichenden mathematischen Analyse. Auch wenn sich dieser Schlusspunkt für das Buch aus erzählerischer Sicht anbietet, fällt auf, dass die globale Finanzkrise bereits mehr als zehn Jahre zurückliegt. Es wäre also überaus interessant gewesen, auch einen Blick auf die Finanzmathematik „nach der Finanzkrise“ zu werfen und zu untersuchen, ob neu entstandene Forschungsschwerpunkte zu systemischen Risiken, zur robusten Modellierung oder zu Marktfriktionen die Forderungen zur inneren Erneuerung des Gebietes einlösen konnten.

Zusammenfassend ist Agnes Handwerk ein spannendes, kurzweilig zu lesendes und in dieser Art einzigartiges Buch und wissenschaftsgeschichtliches Dokument gelungen. Der mit vielen Interview-Ausschnitten und Zitaten angereicherte Stil ist abwechslungsreich und direkt, wodurch er sich erfreulich von dem gewöhnlich etwas trockeneren akademischen Stil unterscheidet. Gerne hätte das Buch noch umfangreicher – mit mehr Dokumenten und Interviews – ausfallen können. Andererseits ist es durch die Kürze auch für vielbeschäftigte Wissenschaftler noch sehr gut „nebenbei“ lesbar. Fazit: Für Insider der Finanzmathematik ein „Muss“; für alle anderen mathematisch, ökonomisch oder wissenschaftsgeschichtlich interessierten Leser ebenfalls eine Empfehlung.