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Im Jahr 1202 veröffentlichte Leonardo von Pisa, auch bekannt unter dem Namen Fibonacci, sein Buch Liber Abaci, den ersten westlichen Text, in dem der Umgang mit den indisch-arabischen Zahlen erklärt wird. Dieses Buch steht am Anfang der Tradition der italienischen Abakisten, die die „neuen “ Rechentechniken weiterverbreiteten. Gestützt auf an praktischen Problemen orientierten vereinfachten Fassungen des Liber Abaci unterrichteten sie hauptsächlich zukünftige Kaufleute an speziellen Schulen, nicht an den noch jungen Universitäten. Im Wettbewerb um Renommee und zahlungskräftige Schüler entwickelte sich eine Art „Duellkultur“, in der Abakisten sich gegenseitig Rechenaufgaben stellten, die innerhalb einer vereinbarten Frist gelöst werden mussten. Gewonnen hatte das Duell, wer mehr Aufgaben gelöst hatte. Natürlich waren nur solche Aufgaben zulässig, die der Aufgabensteller selbst lösen konnte.

Die Geschichte, die Toscano erzählt, ist die der Entdeckung der Lösungsformel für kubische Gleichungen, das heißt Polynomgleichungen dritten Grades (in einer Variablen) Anfang des 16. Jahrhunderts. Die Hauptprotagonisten dieser Geschichte sind Niccolo Tartaglia (1499/1500–1557), ein Abakist, der 1535 die Lösungsformel für einen Spezialfall fand, und Gerolamo Cardano (1501–1576), ein Arzt und Universalgelehrter, der 1545 die Lösungsformeln für allgemeine kubische und biquadaratische (d. h. 4. Grades) Gleichungen veröffentlichte.

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Luca Paccioli (ca. 1445–1514), ein hochangesehener Mathematikprofessor aus der Toskana, hatte 1494 in seinem Hauptwerk Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalità behauptet, es gäbe keine Lösungsformel für kubische Gleichungen. Aufgrund dieses Diktums musste Tartaglia erst durch einen konkurrierenden Abakisten dazu gebracht werden, die Existenz einer Lösungsformel in Betracht zu ziehen. Mithilfe seiner Lösungsformel für einen Spezialfall konnte Tartaglia 1535 einen anderen Abakisten vernichtend schlagen, der ihm 30 Aufgaben gestellt hatte, die alle auf kubische Gleichungen führten. Das brachte Tartaglia Ruhm und die Aufmerksamkeit von Cardano, dem er auf intensives und wiederholtes Drängen seine Lösungsformel 1539 unter dem Siegel der Verschwiegenheit überließ, was er aber umgehend bereute. Cardano entwickelte auf der Basis von Tartaglias Spezialfall eine allgemeine Lösungsformel für kubische Gleichungen und teilte seine Einsichten mit seinem Schüler Lodovico Ferrari (1522–1562), der daraufhin die Lösungsformel für biquadratische Gleichungen fand. Als Cardano und Ferrari 1542 herausfanden, dass der Spezialfall von Tartaglia schon 1526 von dem Bologneser Mathematikprofessor Scipione del Ferro (1465–1526) gefunden worden war, sah sich Cardano nicht mehr an sein Geheimhaltungsversprechen gebunden und veröffentlichte die Lösungsformeln 1545 in seinem Buch Artis Magnae Sive de Regulis Algebraicis.

Soweit die durch umfangreiche Quellen abgesicherten und lange bekannten Fakten. Der Wissenschaftsjournalist Fabio Toscano erzählt sie als eine spannende Geschichte von Ehrgeiz und Misstrauen, Arroganz und Regelverstößen, Enttäuschungen, unerwarteten Wendungen und einem finalen Showdown in sechs Kapiteln:

  1. 1.

    The Abbaco Master

  2. 2.

    The Rule of the Thing

  3. 3.

    The Venetian Challenge

  4. 4.

    An Invitation to Milan

  5. 5.

    The Old Professor’s Notebook

  6. 6.

    The Final Duel

Dass Toscano gerne zugespitzt formuliert, kann man schon am VorwortFootnote 1 erkennen, in dem heißt, vor den geschilderten Entdeckungen hätte es 3.000 Jahre keine signifikanten Fortschritte in der Algebra gegeben. Als hätten Euklid und Diophant, Bramagupta und al-Khwarizmi nie existiert. Im Haupttext erfährt man dann, dass Toscano mit diesen Namen sehr wohl vertraut ist. Man kann aus seinen Erläuterungen schließen, dass er die 3.000 Jahre zwischen den ersten babylonischen Tontafeln, in denen es um quadratische Gleichungen geht, und der Entdeckung der Lösungsformel für kubische Gleichungen meint.

Auch wenn die Lösungsformeln für kubische und biquadratische Gleichungen vielleicht nicht ganz die von Toscano behauptete Bedeutung für die Algebra haben, so ist ihre Entdeckung doch ein sehr wichtiges Ereignis. Diese Formeln stehen für den Eintritt Westeuropas als Akteur in die Geschichte der Mathematik. Die Frage nach dem nächsten Schritt (Gleichungen 5. Grades) hat großartige mathematische Entwicklungen motiviert.

Trotz der manchmal etwas reißerischen Darstellung ist The Secret Formula nicht nur ein gut zu lesendes, sondern auch ein informatives Buch mit einer Reihe von interessanten kulturhistorischen Exkursen und einer Vielzahl von Quellenangaben und weiterführenden Referenzen. Insbesondere lässt Toscano die Protagonisten recht ausführlich selbst zu Wort kommenFootnote 2. Die mathematischen Inhalte rund um die Lösungsformeln werden für Laien mit Kenntnissen gymnasialer Mathematik sorgfältig erklärt. Ich wünsche dem Buch eine breite Leserschaft.