Einleitung

Mit Wasserstoff soll die vollständige Defossilisierung des deutschen Energiesystems gelingen. Wasserstoff kann erneuerbare Energie langfristig speichern, ist interkontinental transportierbar und kann in den vier Verbrauchssektoren des Energiesystems, dem Strom‑, Mobilitäts‑, Industrie- und Wärmesektor, genutzt werden (BMWi 2020).

Jedoch setzt der Markthochlauf der Wasserstoffwirtschaft (die Verbreitung von Wasserstofftechnologien) eine Transformation der vier Verbrauchssektoren und der dazugehörigen Industriebranchen voraus. Während die bislang auf den Stromsektor fokussierte Energiewende die Geschäftsmodelle weniger Industriebranchen – wie der Kohleindustrie – gefährdete (Walker et al. 2021), stellt der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft die auf fossiler Energie beruhenden Geschäftsmodelle weiter Teile der deutschen Industrie infrage. Damit geht insbesondere in denjenigen Regionen Deutschlands ein Strukturwandel einher, in denen die betroffenen Industriebranchen konzentriert sind. Zugleich verspricht die Wasserstoffwirtschaft diesen Industriebranchen aber auch neue Wertschöpfung und Arbeitsplätze (Abb. 1).

Abb. 1
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Segmente der Wasserstoffwertschöpfungskette und wichtige, beteiligte Branchen. (eigene Darstellung)

Noch ist klimaneutraler (mit erneuerbarer Energie erzeugter) Wasserstoff jedoch gegenüber fossiler Energie nicht wettbewerbsfähig (Agora Energiewende und Guidehouse 2021). Der Markthochlauf ist also von Fördermitteln abhängig, deren Ausgestaltung im politischen Mehrebenensystem aufgrund der strukturpolitischen Auswirkungen umstritten ist und geeigneter Koordinationsstrukturen bedarf. Darum sollte sich die angewandte Geographie mit den Hintergründen der Konflikte beschäftigen und an der Formulierung von Verfahrensvorschlägen mitwirken. Sie kann dabei an Beiträge zur Governance der Energiewende (Klagge 2013) und der Wasserstoffwirtschaft (Hisschemöller et al. 2006) anknüpfen.

Die Literatur bietet bislang aber nur partielle Einblicke in die Governance der Wasserstoffwirtschaft. In Deutschland fokussierte die Governance-Forschung zur Wasserstoffwirtschaft auf die Automobilbranche (Budde und Konrad 2019), die zuerst ein kommerzielles Interesse an Wasserstofftechnologien entwickelte (Hekkert et al. 2005). Die ebenfalls an Wasserstoff interessierte Forschung zur Governance der Energiewende konzentrierte sich auf den Stromsektor (Walker et al. 2021). Die Koordination der gesamten Wasserstoffwertschöpfungskette fand hingegen bisher keine Aufmerksamkeit.

Dieser Forschungslücke widmet sich der folgende Artikel. Hierzu wird zuerst die Verteilung von Steuerungsfunktionen auf unterschiedliche Governance-Ebenen untersucht. Sodann werden entlang der 3 Segmente Erzeugung, Transport und Nutzung Interessenskonflikte analysiert. Abschließend formuliert das Fazit Verfahrensvorschläge und erklärt weiteren Forschungsbedarf. Die Analyse basiert auf der Auswertung von Positionspapieren und Studien, der Teilnahme an 28 Fachveranstaltungen sowie 34 leitfadengestützten Interviews mit Vertreter*innen aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Forschung und Politik, die zwischen Juli 2021 und März 2022 geführt wurden.

Mehrebenen-Governance des Markthochlaufs

Die Governance des Markthochlaufs kann anhand der Verteilung von Steuerungsfunktionen auf unterschiedliche Ebenen betrachtet werden. Auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene sind Beteiligte aus Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik in Netzwerken organisiert, in denen sie Einzelmaßnahmen erarbeiten. Die einzelnen Maßnahmen werden auf den verschiedenen Ebenen in den Wasserstoffstrategien der Regierungen zusammengefasst. In deren Entwicklung und Monitoring sind wiederum Stakeholder-Gremien wie der Nationale Wasserstoffrat einbezogen (BMWi 2020).

Neben der horizontalen Koordination unter den Beteiligten einer Ebene dienen die Wasserstoffstrategien auch der vertikalen Koordination zwischen den Ebenen, indem sie den Beteiligten gegenseitig Orientierung bieten (Abb. 2). Die vertikale Koordination ist jedoch kaum formalisiert. So können zwar z. B. die Länder an Treffen des Nationalen Wasserstoffrats teilnehmen (BMWi 2020), die Koordination unter den Ländern und Kommunen ist jedoch nicht explizites Ziel der Nationalen Wasserstoffstrategie.

Abb. 2
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Mehrebenen-Governance des Markthochlaufs der deutschen Wasserstoffwirtschaft. (eigene Darstellung)

Die schwache vertikale Koordination verstärkt die Arbeitsteilung zwischen den Ebenen, die in Anlehnung an die Governance-Forschung zum Ausbau Erneuerbarer-Energien-Anlagen (Klagge 2013) wie folgt beschrieben werden kann. Auf europäischer und nationaler Ebene werden mit regulatorischen, steuer-, infrastruktur- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen die Marktbedingungen gestaltet. Außerdem werden auf diesen Ebenen die finanzstärksten Förderprogramme ausgehandelt. Dagegen werden auf regionaler und lokaler Ebene Wasserstoffprojekte an spezifischen Standorten entwickelt und dafür Förderanträge erarbeitet (Abb. 2).

Bislang wird der Markthochlauf von Förderprogrammen bestimmt, weil die Marktbedingungen keine ausreichenden Anreize für Investitionen leisten (Agora Energiewende und Guidehouse 2021). Teilweise behindern die Marktbedingungen (z. B. Fortbestand fossiler Subventionen) sogar die Wettbewerbsfähigkeit von Wasserstoff und erhöhen damit den Finanzierungsaufwand der Förderprogramme.

Innerhalb der Förderprogramme stehen die Fördermittelanträge im Wettbewerb zueinander und es besteht kein Anspruch auf Förderung (Seier und Streitz 2021). Die horizontale Koordination des Markthochlaufs in den Bundesländern und Kommunen findet somit im Rahmen des Wettbewerbs einzelner Förderprogramme statt. Im Ergebnis reproduziert der Wettbewerb räumlich ungleiche Ausgangsbedingungen der Wasserstoffwirtschaft, denn für die meisten Förderprogramme stellen Strukturaspekte kein Auswahlkriterium dar. Deshalb fließen Gelder überwiegend an innovative, strukturstarke Standorte von Großunternehmen (Interview mit Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen am 22.03.2022).

Während die Förderstrategie einerseits ungleiche Entwicklungen fördert, werden andererseits Fördergelder für Strukturwandelregionen branchenspezifisch (z. B. für die Kohleindustrie) zwischen Bund, Ländern und Kommunen ausgehandelt. Eine branchenübergreifende Koordination der Strukturhilfemaßnahmen und der Förderprogramme für die Wasserstoffwirtschaft findet hingegen nicht statt. Deshalb ist fraglich, inwiefern mögliche Synergien zwischen Markthochlauf und Strukturwandel realisiert werden. Denn Fördermittel für den Strukturwandel oder die Strukturstärkung sind nicht spezifisch auf die Förderung von Wasserstoffprojekten zugeschnitten. Ihre Nutzung zur Finanzierung von Wasserstoffprojekten erfordert deshalb besonderes Engagement durch lokale und regionale Aktive, weshalb Erfolgsbeispiele noch rar sind (Interview H2-Netzwerk-Ruhr am 09.11.2021). Ein solches Beispiel ist die Stadt Herten, der es schon seit Anfang der 2000er-Jahre gelang, Strukturfördergelder zur Entwicklung eines Anwenderzentrums für Wasserstoffunternehmen auf einem ehemaligen Zechengelände zu mobilisieren (Abb. 3).

Abb. 3
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Anwenderzentrum der Stadt Herten auf einem ehemaligen Zechengelände. (eigene Aufnahme, 05.11.2021)

Zusammenfassend kann die Governance des Markthochlaufs als Zusammenspiel aus vertikaler Aufgabenteilung und horizontalem Wettbewerb beschrieben werden. Die in diesem Wettbewerb angelegten Verteilungskämpfe äußern sich entlang der Wasserstoffwertschöpfungskette in Konflikten um den Markthochlauf, die im Folgenden exemplarisch erläutert werden.

Wasserstofferzeugung

Die Förderung von Erzeugungsstandorten ist umstritten, weil sie die Maßstabsebene beeinflusst, auf der Wasserstoff zukünftig gehandelt wird, und sich daraus regional ungleiche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben. Prinzipiell kann Wasserstoff mit Schiffen interkontinental transportiert werden. Da die Bundesregierung davon ausgeht, dass innerhalb Deutschlands nicht genug Flächen für Erneuerbare-Energien-Anlagen zur Wasserstofferzeugung mobilisiert werden können und die Gestehungskosten im globalen Wettbewerb nur bedingt konkurrenzfähig sein werden, fördert sie außereuropäische Wasserstoffprojekte und die globale Handelsplattform H2-Global (Interview mit H2 Global Advisory GmbH am 20.10.2021).

Nichtsdestotrotz ist auch wissenschaftlich umstritten, ob Fördermittel nicht stärker inländischen und europäischen Erzeugungsstandorten zukommen sollten (Wietschel et al. 2021). Auf lokaler und regionaler Ebene setzen sich die Befürworter*innen der dezentralen Energiewende für die Erzeugung und Nutzung von Wasserstoff auf lokaler Ebene ein (Interview mit GP Joule am 04.11.2021). Dafür müssten Länder und Kommunen jedoch die notwendigen Flächen für Erneuerbare-Energien-Anlagen bereitstellen. In Anbetracht des damit einhergehenden Konfliktpotenzials vertritt der Wirtschaftsminister Brandenburgs, Jörg Steinbach, die Forderung, dass ein neuer Länderfinanzausgleich als horizontaler Koordinationsmechanismus entstehen muss, damit Länder und Kommunen ausreichend von der Bereitstellung von Flächen profitieren (teilnehmende Beobachtung am 1. Wasserstoff-Netzwerktreffen Brandenburg und Sachsen am 09.03.2022). Ebenso ist umstritten, welche Bedeutung europäischen Erzeugungsstandorten für die Versorgung Deutschlands zukommen soll. So bestehen z. B. in Bayern Projekte für Wasserstoffimporte aus Osteuropa mithilfe von Pipelines und Binnenschiffen (Interview mit bayernets am 25.03.2022), u. a. um unabhängig von Norddeutschland zu werden, wo global gehandelter Wasserstoff über die Seehäfen angelandet werden soll.

Wasserstofftransport

Die Förderung der Wasserstofferzeugung ist auch umstritten, weil sie den notwendigen Gas- und Stromnetzausbau beeinflusst, der sich ebenfalls regional ungleich auf den Markthochlauf der Wasserstoffwirtschaft auswirken könnte. So hatte die Bundesregierung angekündigt, Anreize zum netzdienlichen Betrieb von Elektrolyseuren in Regionen mit einem Überangebot erneuerbaren Stroms (v. a. in Norddeutschland) zu schaffen, um den Strom für die Energiewende nutzbar zu machen und den notwendigen Netzausbau zu reduzieren (BMWi 2020). Da Wasserstoff aufgrund fehlender Transportinfrastrukturen jedoch bislang nicht überregional gehandelt werden kann, würden solche Anreize die Verfügbarkeit von Wasserstoff in Süddeutschland minimieren (Interview mit Stiftung Arbeit und Umwelt der IGBCE am 26.11.2021). Im Interesse der Verfügbarkeit von Wasserstoff in ganz Deutschland fördert die Bundesregierung deshalb auch Elektrolyseure in Regionen ohne Überangebot erneuerbaren Stroms.

Für den überregionalen Wasserstofftransport kann perspektivisch das Erdgasnetz umgerüstet werden. Da erneuerbare Energie aber nicht nur in Form von Wasserstoff, sondern auch Strom transportiert werden kann und die räumliche Verteilung von Angebot und Nachfrage unsicher ist, ist die Entwicklung der Gas- und Stromnetze kontrovers (Bundesnetzagentur 2021). Bislang fehlt jedoch eine integrierte Planung des Gas- und Stromnetzausbaus auf nationaler Ebene, weshalb auf regionaler Ebene einzelne Projekte zur integrierten Netzplanung vorangetrieben werden.

Neben dem Netzausbau ist auch der mögliche Netzrückbau umstritten. So ist vor allem die Zukunft der lokalen Gasverteilnetze unsicher, da die Wasserstoffnutzung stärker an einzelnen Standorten konzentriert erfolgen könnte als die Erdgasnutzung (s. unten). Die Kosten der damit einhergehenden Entwertung würden die oft kommunalen Betreiber der Verteilnetze tragen (Interview mit Verband kommunaler Unternehmen am 14.10.2021), woran die ungleiche geographische Verteilung der Kosten des Markthochlaufs deutlich wird.

Wasserstoffnutzung

Um Entwertungen zu vermeiden, argumentieren Vertreter*innen betroffener Unternehmen oft für eine weitgehende Nutzung von Wasserstoff in allen Verbrauchssektoren. Dadurch könnte einerseits die Gasinfrastruktur ihren Wert erhalten. Andererseits ähneln die Wertschöpfungsketten von Wasserstofftechnologien stärker fossilen Technologien als direktelektrischen Alternativen, die Strom ohne Umwandlung in die Verbrauchssektoren lenken (Abb. 4). Deshalb versprechen Wasserstofftechnologien, bestehende Industriestandorte zu stärken.

Abb. 4
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Alternative Defossilisierungspfade und -technologien. (eigene Darstellung)

Ob die weitgehende Wasserstoffnutzung zukunftsfähig ist, ist jedoch umstritten, da unklar ist, inwiefern sich Wasserstofftechnologien am Markt gegenüber direktelektrischen Alternativen behaupten können, welche aufgrund ihrer besseren Energieeffizienz Betriebskostenvorteile aufweisen. Besonders umkämpft ist die Nutzung von Wasserstoff in Pkws sowie zur dezentralen Wärmeerzeugung, wo Brennstoffzellen mit batterieelektrischen Antrieben respektive Wärmepumpen konkurrieren (Abb. 4).

Deshalb ist auch fraglich, inwiefern Wasserstofftechnologien und die dafür notwendigen Infrastrukturen (Abb. 5) in Bereichen, in denen sie mit direktelektrischen Alternativen konkurrieren, Fördermittel erhalten sollten (Interview mit Klima-Allianz Deutschland am 15.10.2021). Bislang verzichten die Förderprogramme auf eine Priorisierung der direkten oder indirekten Elektrifizierung. Damit umging die Bundesregierung bislang, dass Standorte mit größerem Know-how im Bereich der direkten oder indirekten Elektrifizierung favorisiert werden. Die neue Bundesregierung will zukünftig aber die Förderung direktelektrischer Alternativen priorisieren (teilnehmende Beobachtung an der Vollversammlung des Forschungsnetzwerk Wasserstoff am 31.03.2022), woraus entsprechende Verteilungswirkungen resultieren würden.

Abb. 5
figure 5

Von der Bundesregierung geförderte Wasserstofftankstelle in Herten. (eigene Aufnahme, 06.12.2021)

Fazit

Zusammenfassend entstehen durch den Markthochlauf neue Koordinationsbedarfe auf und zwischen den Governance-Ebenen. Die Koordination erfolgt derzeit vertikal durch die Aufteilung von Steuerungsfunktionen auf unterschiedliche politische Ebenen sowie horizontal durch den Wettbewerb um Fördergelder. Sie stößt an verschiedenen Stellen an ihre Grenzen, wie die analysierten (Verteilungs‑)Konflikte zeigen, die zugleich den Finanzierungsaufwand erhöhen.

Zunächst erhöht ein Teil der Marktbedingungen den Finanzierungsaufwand der Förderprogramme. Die Förderprogramme verstärken wiederum ungleiche geographische Ausgangsbedingungen des Markthochlaufs, da sie überwiegend an innovative Standorte von Großunternehmen fließen, wodurch der Finanzierungsaufwand für Strukturhilfemaßnahmen an weniger innovativen Standorten steigt. Letztendlich ist fraglich, inwiefern dieser gesteigerte Finanzierungsaufwand mittelfristig aufgebracht werden kann, ohne dass eine Priorisierung einzelner Verbrauchssektoren, der dazugehörigen Industriebranchen und damit ihrer Standorte erfolgt.

In Anbetracht dessen sollten zuerst die Marktbedingungen so überarbeitet werden, dass sie den Markthochlauf nicht behindern. Um Unterstützung für die Anpassung der Marktbedingungen zu finden, könnte die Bereitstellung von Fördergeldern für einzelne Branchen und Regionen von deren politischer Unterstützung der Reformen abhängig gemacht werden. Sodann sollten strukturpolitische Kriterien Teil der Auswahlkriterien von Förderprogrammen werden, um Synergien zwischen Markthochlauf und Strukturwandel zu stärken und damit den Finanzierungsaufwand, insbesondere in strukturschwachen Regionen, zu reduzieren. Zuletzt kann die Priorisierung einzelner Verbrauchssektoren, wie von der Bundesregierung geplant, den Finanzierungsaufwand des Markthochlaufs reduzieren.

Die beschriebenen Interessenskonflikte konzentrieren sich bislang noch auf die Förderprogramme. Mit zunehmender Anzahl und Größe von Wasserstoffprojekten ist jedoch davon auszugehen, dass lokale Konflikte um ihre Standorte sowie zwischen Regionen um die mit den Projekten einhergehenden strukturpolitischen Auswirkungen zunehmen werden. Zugleich wird die europäische Ebene für die Gestaltung der Marktbedingungen sowie die globale Ebene für den Handel von Wasserstoff an Bedeutung gewinnen. Die dadurch entstehenden Koordinationsformen stellen interessante Gegenstände für weitere Forschungsarbeiten dar.