Einleitung

Die vielfältigen Themenstellungen der Energiewende betreffen ein breites Themenspektrum der angewandten Geographie wie Raumplanung, Regionalentwicklung, Daseinsvorsorge, Flächennutzung und regionale Wertschöpfung. In den letzten Jahrzehnten wurden aus humangeographischer Perspektive dezentrale Energiewendeprozesse untersucht, vor allem mit Blick auf Akteure, Prozesse und Konflikte im Kontext räumlich komplexer Mehrebenen-Governance (Gailing und Moss 2016; Bauriedl 2016; Moss et al. 2015; Klagge und Arbach 2013) sowie auf Bedingungen sozialökologischer Energietransformationen (u. a. Baasch 2016, 2021). Vor dem Hintergrund des doppelten Ausstiegs von Atom- und Kohleenergieerzeugung ist in Deutschland der Ausbau erneuerbarer Energie weiter eine vordringliche Aufgabe.

Bioenergie, also elektrische Energie, Wärme und Kraftstoffe aus der Umwandlung von Biomasse, hat eine besondere Bedeutung bei der Erreichung der Klimaziele durch Dekarbonisierung der globalen Produktions- und Konsummuster (Gawel et al. 2019). Im Gegensatz zu anderen erneuerbaren Energieträgern hat Biomasse den Vorteil, dass sie fossile Brennstoffe direkt ersetzen kann. Im Kontext der deutschen Energie- und Wärmewende spielt Bioenergie eine zunehmende Rolle, trotz erheblicher Nutzungs- und Flächenkonflikte (Pehlken et al. 2016; Steubing et al. 2020), auch vor dem Hintergrund internationaler Bioökonomiestrategien (Lago et al. 2019) und des seit 2014 weitgehend stagnierenden Ausbaus von Biogasanlagen (Purkus et al. 2018). In den letzten Jahren ist die Nutzung von Biomasserückständen und -abfällen stärker in den Fokus gerückt, denn sie gilt im Gegensatz zum Energiepflanzenanbau als nachhaltiger und weniger konfliktbehaftet (Pfeiffer und Thrän 2018). In Kombination mit dezentralen, regionalen oder lokalen Nutzungen sollen sich positive ökologische, ökonomische und soziale Effekte generieren lassen (Hauser und Wern 2016).

Bei der Bewältigung komplexer regionaler Herausforderungen werden interkommunale Kooperationen zunehmend bedeutsamer, wie bei der Erarbeitung von Klimaschutzkonzepten (Bock et al. 2020), der Gestaltung von dezentraler Energiewende (Ifas und DUH 2015) oder zur Sicherung der Daseinsvorsorge (Trapp et al. 2019). Dabei wird interkommunale Kooperation als Sammelbegriff für unterschiedliche Austausch‑, Aushandlungs- und Planungsprozesse mit dem Ziel einer Generierung von Synergieeffekten verwendet.

Dieser Beitrag stellt Ergebnisse eines transdisziplinären Forschungsprojekts vor, das Fragen nach der Verfügbarkeit von Biomassereststoffpotenzialen und ihren energetischen Nutzungsoptionen exemplarisch in 3 Kommunen aus 2 Landkreisen in Nordhessen (Abb. 1) untersucht. Hierbei wurde auch der Frage nachgegangen, ob sich durch interkommunale Kooperationen Synergieeffekte erzeugen lassen.

Abb. 1
figure 1

Untersuchungsregion mit den Projektkommunen Stadt Hofgeismar, Stadt Wolfhagen und Stadt Felsberg

Die Projektkommunen

Die 3 Kommunen stehen an unterschiedlichen Punkten ihrer Energietransformation: Wolfhagen ist ein Energiewendepionier, der in den 1990er-Jahren mit Nischenprojekten, wie dem Bau energieeffizienter öffentlicher Gebäude, startete und sich bis 2015 zu einer rechnerisch hundertprozentigen Erneuerbare-Energien-Kommune (in der Stromversorgung) mit Beteiligung einer Bürgerenergiegenossenschaft entwickelte (Baasch 2016). Die Kommunen Hofgeismar und Felsberg befinden sich noch in den Anfängen einer Energiewende.

In den Projektkommunen waren unterschiedliche Problemstellungen Ausgangspunkt für die vertiefenden Analysen. In Hofgeismar lag der Fokus auf dem Weiterbetrieb eines bestehenden Nahwärmenetzes, das zurzeit mit Deponie- und Erdgas gespeist wird. Seit 2005 ist die Ablagerung von organikhaltigem Material verboten und die auf der Deponie vorhandene Biomasse wird in den kommenden Jahren abgebaut sein, daher nimmt der Anteil an Deponiegas stetig ab. Zukünftig soll das Nahwärmenetz mit regenerativen Energieträgern betrieben werden, vorzugsweise aus Rest- und Abfallstoffen. In Wolfhagen war die Zielsetzung der Ausbau des Nahwärmenetzes und die Frage nach geeigneten reststoffbasierten Energieträgern. In Felsberg lag der Schwerpunkt auf der generellen Ermittlung von Biomassereststoffpotenzialen.

Kooperative Ermittlung von Biomassereststoffpotenzialen

In dem Projekt folgte die Ermittlung von Biomassereststoffpotenzialen in der Untersuchungsregion einem inkrementellen Design, indem Fragestellungen und Wissensbedarfe zwischen wissenschaftlichen Projektpartnern und Praxispartnern gemeinsam entwickelt, Ergebnisse diskutiert und weitere Untersuchungsschritte abgestimmt wurden. Ziel war es, sowohl wissenschaftliche Ergebnisse als auch Handlungswissen für die Praxis zu generieren. Hierfür wurden 3 Expertenworkshops der Energieagentur mit kommunalen Praxisakteuren sowie 70 Stakeholderinterviews und -gespräche von wissenschaftlichen Projektpartnern (Universität Bremen, Europa-Universität Flensburg) und der Energieagentur durchgeführt.

Zunächst wurde in einem dreistufigen Verfahren Biomassereststoff- (wie Landschaftspflegeholz (Abb. 2), Erntereste, Grünschnitt) und Biomasseabfallpotenzial (wie Altholz, Klärschlamm, Gülle) ermittelt.

Abb. 2
figure 2

Feldweg mit Hecke nach Landschaftspflegemaßnahmen (Landschaftspflegematerial)

Im ersten Schritt wurden die theoretischen Potenziale (Abb. 3) mit verschiedenen Datenbestände erfasst, u. a. mit einem von der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) entwickelten Verfahren zur flächenbasierten Erfassung von Biomassepotenzialen (Plutzar et al. 2016). Ergänzend wurden vorhandene Datenbestände auf kommunaler und regionaler Ebene integriert. Im zweiten Schritt wurden die technischen Potenziale mit Beteiligung regionaler Stakeholder (Energie‑, Abfall‑, Land- und Forstwirtschaft, öffentliche Verwaltung, Klimaschutzmanagement, Klima- und Energieberatung, Biomasseforschung) ermittelt. Es wurden Schätzungen vorgenommen, wie viel der theoretisch vorhandenen Biomassepotenziale tatsächlich gewonnen werden können. Im dritten Schritt erfolgte die Analyse der tatsächlich verfügbaren, d. h. noch nicht anderweitig in Nutzungspfaden gebundenen Potenziale (Baasch 2021; Lenz 2021). Mittels semistrukturierter Interviews mit regionalen Stakeholdern ließen sich Barrieren und Optionen für die Nutzung von Potenzialen identifizieren.

Abb. 3
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Modellierung von Straßenbegleitgrünflächen. Die bunt eingefärbten Flächen markieren die Bereiche, in denen durch Pflegemaßnahmen Biomasse anfällt. Zusammen mit Annahmen zum Bewuchs kann auf Basis der identifizierten Flächen das theoretisch verfügbare Potenzial verschiedener Biomassen berechnet werden

Die Bewertung von verfügbaren Biomassepotenzialen ist stark abhängig von lokalspezifischen Faktoren sowohl auf naturräumlicher (z. B. Bodenbeschaffenheit) wie auch sozialökonomischer Ebene (Akteurskonstellationen, Nutzungspfade). Am Beispiel Stroh lassen sich die Diskrepanzen zwischen theoretischem, technischem und verfügbarem Potenzial aufzeigen. In vielen Studien wird Stroh als unausgeschöpftes Potenzial bewertet und diesem eine zentrale Rolle für die energetische Nutzung beigemessen (Thrän et al. 2016, S. 294; Weiser et al. 2014). Auch die Modellierung im Projekt zeigt ein großes theoretisches Potenzial auf. Für den Landkreis Kassel liegt es bei 192.918,31 t Trockenmasse pro Jahr (t TM/a) (Abb. 4). Das technische Potenzial, bei dem das theoretische um einen von den regionalen Stakeholdern empfohlenen Prozentsatz reduziert wird, beispielsweise um Bergungsverluste abzubilden, beträgt mit 129.368,75 t TM/a etwa 67 % des theoretischen Potenzials. Dennoch wird in der nordhessischen Untersuchungsregion von den landwirtschaftlichen Stakeholdern (Maschinenring, Bauerverband) aufgrund der Bodenbeschaffenheit (lehmige Böden) kaum Potenzial für eine energetische Nutzung von Stroh gesehen, da dies nach ihrer fachlichen Einschätzung für die Humusbildung der Böden benötigt wird und daher zu großen Teilen auf den Feldern verbleibt. Das tatsächliche Potenzial, das dieser Nutzungskonkurrenz Rechnung trägt, beträgt daher lediglich 23.131,7 t TM/a. Das bedeutet, dass vom hohen theoretischen Potenzial nur ca. 12 % tatsächlich für eine energetische Nutzung zur Verfügung stehen.

Abb. 4
figure 4

Biomassepotenziale Stroh im Landkreis Kassel 2019. t TM/a t Trockenmasse pro Jahr (eigene Erhebung)

Dieses Beispiel zeigt, dass nur eine integrative Bewertung von Potenzialen, die lokale Wissensbestände mit einbezieht, konkrete Aussagen über Biomassepotenziale liefert. Die Bewertungen regionaler Akteure, insbesondere aus der Land- und Forstwirtschaft, basieren vor allem auf Erfahrungswissen und fachlichen Einschätzungen. Datenbestände aus wissenschaftlichen Erhebungen liegen hierzu in der Regel nicht vor. Kombiniert mit einer Nachhaltigkeitsbewertung ergeben sich belastbare Ressourcenpotenziale für eine klimaschonende energetische Reststoffnutzung (Degel und Hackfort 2021).

Grundsätzlich gilt, dass technisch leicht verwertbare Anteile von Biomassereststoffen bereits in unterschiedlichsten Nutzungspfaden genutzt werden. Dies gilt insbesondere für solche Abfälle und Reste, die im industriellen Produktionsprozess anfallen, beispielsweise Sägespäne und -mehl bei der Holzverarbeitung, die für die Pelletproduktion eingesetzt werden. Derzeit unmittelbar verfügbare Reststoffpotenziale sind im Gegensatz dazu aus ökonomischen und/oder verfahrenstechnischen Gründen schlechter verwertbar. Beispielsweise gilt dies für Grasschnitt an Straßen oder Flüssen, dessen Bergung an vielen Stellen aufgrund der Zugänglichkeit zu aufwendig ist und insbesondere an Straßen auch einen hohen Verschmutzungsgrad aufweist, was die Vergärung in Biogasanlagen stört.

Die tatsächlich verfügbaren Mengen sind aufgrund technischer Einschränkungen und Nutzungskonkurrenzen meist gering. Um das lokale Potenzial optimal auszuschöpfen, empfiehlt sich eine Überprüfung bestehender Nutzungspfade hinsichtlich Verwertungsstrukturen und Nachhaltigkeitswirkungen.

Kooperative Neubewertung fragmentierter Entsorgungs- und Verwertungspfade

Das Potenzial von Biomasserest- und Abfallstoffen als Beitrag einer nachhaltigen regionalen Energieversorgung wird außerhalb der Abfallwirtschaft oft unterschätzt. Meist gilt es für Kommunen und Landkreise, günstige Entsorgungsmöglichkeiten zu finden, sodass Reststoffe bis zu ihrer Entsorgung oder Verwertung in großen Anlagen über weite Strecken transportiert werden. Aus ökologischer Perspektive sind solche Entsorgungsstrategien nicht sinnvoll und können sich in Zukunft mit steigender CO2-Bepreisung als Kostenfaktor erweisen.

Bestehende Verwertungspfade basieren in der Regel auf gewachsenen, stark lokalspezifischen (Akteurs‑)Strukturen. Die folgende Grafik veranschaulicht solche Akteurs- und Prozessfragmentierungen exemplarisch am Beispiel der Verwertungspfade von holzigem und halmgutartigem Landschaftspflegematerial im Gebiet der Stadt Wolfhagen, die auf Basis von Interviews mit kommunalen Stakeholdern erstellt wurde (Abb. 5):

Abb. 5
figure 5

Vereinfachte Darstellung der Akteure und Prozesse am Beispiel Landschaftspflegematerial (holzige und halmartige Biomasse) im Gebiet der Stadt Wolfhagen

Die Abb. 5 zeigt, dass bereits auf kommunaler Ebene vielfältige Akteurs- und Eigentümerstrukturen, Nutzungs- und Entsorgungspfade existieren. Diese Komplexität und Fragmentierung hat zur Folge, dass einzelne Akteure oft nur Zugriff auf geringe (Teil‑)Potenziale haben und auch das Wissen um Potenziale und Verfahrensweisen fragmentiert ist.

Gründe für solche Fragmentierungen sind nach Ansicht regionaler Stakeholder neben den gewachsenen Strukturen auch das Fehlen von Bioenergiestrategien, was von der nationalen bis hin zur lokalen Ebene gilt. Ein Prozess zur Entwicklung einer regionalen Bioenergiestrategie im Kontext dezentraler Energiewende kann einen mittel- bis längerfristigen Ansatz darstellen, um notwendige Analyse‑, Abstimmungs- und Priorisierungsprozesse sowie hierfür erforderliche multiskalare Governance-Prozesse bzw. -Innovationen auf den Weg zu bringen. Für die kommunale und regionale Ebene sind aber auch kurzfristigere Ansätze der spezifischen Sondierung von Potenzialen und Nutzungspfaden sinnvoll. Interkommunale Kooperationen bieten hier sowohl auf der stofflichen Ebene, d. h. durch kooperative Nutzung von Potenzialen und Verwertungsstrukturen wie auch auf der nichtmateriellen Ebene des Wissensaustauschs (wie der Optimierung von Nutzungspfaden, Umgestaltung von Verfahrensprozessen, Verfahrenstechniken) Ansatz für Synergieeffekte und damit für optimierte Nutzungspfade.

Fazit

Der Ausbau reststoffbasierter Bioenergie und dezentrale Wärmewende sind hochgradig komplexe Themenfelder und unterscheiden sich deutlich von anderen Energiewendeprozessen, die auf Wind- und Photovoltaik oder Energiepflanzenanbau basieren. Ursächlich hierfür sind die vielfältigen Fragmentierungen sowohl auf stofflich-materieller wie auch auf prozessualer Ebene. Für die Ermittlung von verfügbaren Potenzialen und für die Sondierung von energetischen Nutzungspfaden kommt kooperativ-partizipativen Verfahren unter Einbeziehung regionaler Akteure eine zentrale Bedeutung zu. Bislang gelten Biomassereststoffe auf kommunaler Ebene immer noch eher als Entsorgungsproblem, denn als energetische Ressource. Für eine Neubewertung bestehender Entsorgungslogiken und -verfahren bietet sich interkommunales kooperatives Handeln an, um verlässliche Einschätzungen über Potenziale und geeignete Nutzungspfade zu erhalten. Nur so lassen sich auch Biomassereststoffpotenziale erschließen, die von einzelnen Kommunen aus ökonomischen Gründen nicht verwertbar sind. Hier können interkommunale Kooperationsprozesse durch einen strukturierten Wissens- und Erfahrungsaustausch Defizite offenlegen und zur Gestaltung von effizienteren und nachhaltigeren Nutzungspfaden beitragen.