In dem Projekt folgte die Ermittlung von Biomassereststoffpotenzialen in der Untersuchungsregion einem inkrementellen Design, indem Fragestellungen und Wissensbedarfe zwischen wissenschaftlichen Projektpartnern und Praxispartnern gemeinsam entwickelt, Ergebnisse diskutiert und weitere Untersuchungsschritte abgestimmt wurden. Ziel war es, sowohl wissenschaftliche Ergebnisse als auch Handlungswissen für die Praxis zu generieren. Hierfür wurden 3 Expertenworkshops der Energieagentur mit kommunalen Praxisakteuren sowie 70 Stakeholderinterviews und -gespräche von wissenschaftlichen Projektpartnern (Universität Bremen, Europa-Universität Flensburg) und der Energieagentur durchgeführt.
Zunächst wurde in einem dreistufigen Verfahren Biomassereststoff- (wie Landschaftspflegeholz (Abb. 2), Erntereste, Grünschnitt) und Biomasseabfallpotenzial (wie Altholz, Klärschlamm, Gülle) ermittelt.
Im ersten Schritt wurden die theoretischen Potenziale (Abb. 3) mit verschiedenen Datenbestände erfasst, u. a. mit einem von der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) entwickelten Verfahren zur flächenbasierten Erfassung von Biomassepotenzialen (Plutzar et al. 2016). Ergänzend wurden vorhandene Datenbestände auf kommunaler und regionaler Ebene integriert. Im zweiten Schritt wurden die technischen Potenziale mit Beteiligung regionaler Stakeholder (Energie‑, Abfall‑, Land- und Forstwirtschaft, öffentliche Verwaltung, Klimaschutzmanagement, Klima- und Energieberatung, Biomasseforschung) ermittelt. Es wurden Schätzungen vorgenommen, wie viel der theoretisch vorhandenen Biomassepotenziale tatsächlich gewonnen werden können. Im dritten Schritt erfolgte die Analyse der tatsächlich verfügbaren, d. h. noch nicht anderweitig in Nutzungspfaden gebundenen Potenziale (Baasch 2021; Lenz 2021). Mittels semistrukturierter Interviews mit regionalen Stakeholdern ließen sich Barrieren und Optionen für die Nutzung von Potenzialen identifizieren.
Die Bewertung von verfügbaren Biomassepotenzialen ist stark abhängig von lokalspezifischen Faktoren sowohl auf naturräumlicher (z. B. Bodenbeschaffenheit) wie auch sozialökonomischer Ebene (Akteurskonstellationen, Nutzungspfade). Am Beispiel Stroh lassen sich die Diskrepanzen zwischen theoretischem, technischem und verfügbarem Potenzial aufzeigen. In vielen Studien wird Stroh als unausgeschöpftes Potenzial bewertet und diesem eine zentrale Rolle für die energetische Nutzung beigemessen (Thrän et al. 2016, S. 294; Weiser et al. 2014). Auch die Modellierung im Projekt zeigt ein großes theoretisches Potenzial auf. Für den Landkreis Kassel liegt es bei 192.918,31 t Trockenmasse pro Jahr (t TM/a) (Abb. 4). Das technische Potenzial, bei dem das theoretische um einen von den regionalen Stakeholdern empfohlenen Prozentsatz reduziert wird, beispielsweise um Bergungsverluste abzubilden, beträgt mit 129.368,75 t TM/a etwa 67 % des theoretischen Potenzials. Dennoch wird in der nordhessischen Untersuchungsregion von den landwirtschaftlichen Stakeholdern (Maschinenring, Bauerverband) aufgrund der Bodenbeschaffenheit (lehmige Böden) kaum Potenzial für eine energetische Nutzung von Stroh gesehen, da dies nach ihrer fachlichen Einschätzung für die Humusbildung der Böden benötigt wird und daher zu großen Teilen auf den Feldern verbleibt. Das tatsächliche Potenzial, das dieser Nutzungskonkurrenz Rechnung trägt, beträgt daher lediglich 23.131,7 t TM/a. Das bedeutet, dass vom hohen theoretischen Potenzial nur ca. 12 % tatsächlich für eine energetische Nutzung zur Verfügung stehen.
Dieses Beispiel zeigt, dass nur eine integrative Bewertung von Potenzialen, die lokale Wissensbestände mit einbezieht, konkrete Aussagen über Biomassepotenziale liefert. Die Bewertungen regionaler Akteure, insbesondere aus der Land- und Forstwirtschaft, basieren vor allem auf Erfahrungswissen und fachlichen Einschätzungen. Datenbestände aus wissenschaftlichen Erhebungen liegen hierzu in der Regel nicht vor. Kombiniert mit einer Nachhaltigkeitsbewertung ergeben sich belastbare Ressourcenpotenziale für eine klimaschonende energetische Reststoffnutzung (Degel und Hackfort 2021).
Grundsätzlich gilt, dass technisch leicht verwertbare Anteile von Biomassereststoffen bereits in unterschiedlichsten Nutzungspfaden genutzt werden. Dies gilt insbesondere für solche Abfälle und Reste, die im industriellen Produktionsprozess anfallen, beispielsweise Sägespäne und -mehl bei der Holzverarbeitung, die für die Pelletproduktion eingesetzt werden. Derzeit unmittelbar verfügbare Reststoffpotenziale sind im Gegensatz dazu aus ökonomischen und/oder verfahrenstechnischen Gründen schlechter verwertbar. Beispielsweise gilt dies für Grasschnitt an Straßen oder Flüssen, dessen Bergung an vielen Stellen aufgrund der Zugänglichkeit zu aufwendig ist und insbesondere an Straßen auch einen hohen Verschmutzungsgrad aufweist, was die Vergärung in Biogasanlagen stört.
Die tatsächlich verfügbaren Mengen sind aufgrund technischer Einschränkungen und Nutzungskonkurrenzen meist gering. Um das lokale Potenzial optimal auszuschöpfen, empfiehlt sich eine Überprüfung bestehender Nutzungspfade hinsichtlich Verwertungsstrukturen und Nachhaltigkeitswirkungen.