Inspiriert von Bell Hooks schreiben wir Kollektiv Orangotango klein – so es die Vorgaben der jeweiligen Publikation es zulassen – um die kollektive Praxis zu betonen, nicht die Personen, die Teil der vermeintlichen Gruppe sind. „kollektiv“ kann so als Substantiv aber auch als Adverb funktionieren, das die gemeinsame Arbeitsweise beschreibt. Wenn im Folgenden von „wir“ die Rede ist, meint das keine klar definierte Gruppe, sondern all jene, die in den einzelnen Prozessen mitgeforscht, mitgelernt und mitgestaltet haben, sie sind, in der gemeinsamen Praxis, Kollektiv Orangotango.
Kollektiv Orangotango entsteht von Beginn an im Überschneidungsfeld zwischen Aktivismus, Subkultur und Wissenschaft. Die vom Colectivo Situaciones geforderte Auflösung der Trennung dieser Sphären und der mit ihnen verbundenen Rollen liegt damit auch am Ausgangspunkt unserer gemeinsamen Entwicklung. Die Universität war in den 2000er-Jahren einerseits Ort der inhaltlichen Beschäftigung mit Themen wie jugendkultureller Raumaneignung, urbaner Landwirtschaft oder solidarischer Ökonomie, die uns auch in unserem eigenen Alltag beschäftigten. Andererseits bot sie, im Rahmen von Austauschprogrammen, Raum für das Aufeinandertreffen mit politischer Basisarbeit und militanter Geographie in Lateinamerika, in denen wir viele jener aktivistischen Praktiken erlernten, die unsere Arbeit bis heute prägen. Eigene aktivistische und subkulturelle Betätigungen eröffneten uns Zugang zu Alltagspraktiken und -wissen, das prägend in unsere Forschungspraxis einging (s. u. a. Halder 2018). Unser neben Freire auch von der Hip-Hop-Subkultur geprägtes Bildungsverständnis hielt uns stets dazu an, auch (junge) Nichtakademiker und Nichtakademikerinnen durch gemeinsame Veranstaltungen und Aktionen in die Praxis von Kollektiv Orangotango einzubinden, die über die Jahre zu festen Bestandteilen des Kollektivs wurden.
Heute besteht unsere Arbeit aus unterschiedlichen Bildungsformaten in variierenden Kontexten entlang der sich gegenseitig befruchtenden und zyklisch überlappenden Ebenen: gemeinsam den Raum lesen lernen, alternative Repräsentationen erschaffen, Räume gestalten und widerständige Praktiken unterstützen.
Einzelne von uns sind phasenweise über Projektverträge, Lehraufträge oder Stipendien formell an Universitäten angebunden. Soweit möglich, bemühen wir uns, durch die Einbeziehung von Nichtakademikern und Nichtakademikerinnen in Veranstaltungen und Forschungsprojekte universitäre Ressourcen und Privilegien an traditionell von diesen ausgenommene Menschen umzuverteilen (Moten und Harney 2004).
Unser primäres Wirkungsfeld sehen wir allerdings außerhalb akademischer Institutionen. Um es mit Chatterton (2008, S. 426) zu sagen: Die Themen, zu denen wir arbeiten, sind uns zu wichtig, um sie kleinen akademischen Seminaren und exklusiven Journals vorzubehalten. Ein Großteil unserer Aktivitäten sind Bildungsprozesse mit jungen Menschen (kollektive Kunstprojekte und Aktionsforschungen im öffentlichen Raum, Abb. 2) oder mit aktivistischen Gruppen (Kartierungsprozesse sowie Reflexions- und Gestaltungsworkshops, Abb. 3).
In all diesen (Selbst‑)Bildungsprozessen „popularisieren“ wir die wissenschaftliche Geographie in einer Doppelbewegung: Einerseits setzen wir Aktionsformen aus Subkulturen und sozialen Bewegungen ein, um inhaltliche Diskussionen beispielsweise zu stadtpolitischen Fragestellungen mit Akteuren und Akteurinnen zu führen, die sich sonst kaum öffentlich sichtbar zu diesen, ihr Alltagsleben unmittelbar betreffenden, Fragen äußern würden. In wochen- oder monatelangen kollektiven Arbeiten an Wandbildern, die wir beispielsweise mit Geflüchteten-Initiativen oder jungen Menschen erarbeitet haben, werden deren Alltagserfahrungen mit Argumenten aus wissenschaftlichen Debatten in Bildsprache verpackt. Im Gespräch mit Anwohnern und Anwohnerinnen werden Beteiligte zu Mitforschenden, die in informellen Gesprächen und Beobachtungen Daten erheben und in die gemeinsame Reflexion einfließen lassen.
Andererseits bringen wir wissenschaftliche Methoden in außeruniversitäre Kontexte ein, um sie für kollektive Reflexion und Organisationsformen nutzbar zu machen. So nutzen wir kollektive Kartierungen als Werkzeuge der gemeinschaftlichen Sensibilisierung und Aktivierung. Kartieren also als Bildungsprozess, bei dem die eigene Beziehung zum Raum reflektiert wird, in dem verschiedene intersubjektive Perspektiven sowie verschiedene Wissensarten zusammenfließen können und sich Handlungsspielräume eröffnen. In anderen Fällen dienen wissenschaftliche Methoden der Datenerhebung und Darstellung in Online-Karten und der Vernetzung von unterschiedlichen Gemeinschaften (Abb. 4).
Wie Bell Hooks (2010, S. 19–20) in ihrer Beschreibung einer „engaged pedagogy“ ausführt, gehören Kennenlern‑, Körper- und Vertrauensübungen, wie wir sie von kritischer Pädagogik und sozialen Bewegungen lernen, für uns ebenso zu diesen Prozessen, wie regelmäßige Reflexions- und Evaluationsphasen. Nur durch die Öffnung für körperliche und affektive Praktiken und die Kultivierung gemeinsamer Werte wie Freundschaft, Demut und Fürsorge (vgl. Freire 2000, S. 89–90) können Hierarchien aufgebrochen werden. Wie vom Colectivo Situaciones (2003) gefordert, verlieren die Rollen von Forschenden und Aktivisten bzw. Aktivistinnen so ihre Bedeutung für die gemeinsame Praxis und werden durch freundschaftliche und liebevolle Beziehungen ersetzt.
Auch in unserer Publikationspraxis verbinden wir akademisches Wissen und Ressourcen mit aktivistischem Anspruch und Strategie (kollektiv orangotango+ 2018; kollektiv orangotango 2010). Zusätzlich zu thematischen Publikationen, die wir neben wissenschaftlichen Fachpublikationen auch in journalistischen Formaten publizieren, veröffentlichen wir insbesondere praxisorientierte, multimediale Materialien „zum selber machen“ (vgl. Chatterton 2008, S. 425). Im Widerspruch zu akademischen Publikationszwängen bemühen wir uns bei all unseren Publikationen um einen offenen Zugang unter restriktionsarmen Lizenzen.