In einer Zeit mit vielen, zum Teil ungewohnten Aufgaben und Beeinträchtigungen ist es nicht verwunderlich, dass Kopfschmerzerkrankungen, die unter anderem von Ängsten, psychischen Belastungen und subjektiv erlebtem Stress beeinflusst werden, zunehmen und bei Betroffenen vermehrt zu einem Verlust an Lebensqualität führen. Kopfschmerzen sind aber keine Erkrankung unserer Zeit, wie historische Funde belegen. So befassten sich schon die Ägypter mit der Therapie von Kopfschmerzen (Papyrus Ebers 1550 Jahre vor Christus) und die ersten Klassifikationsversuche gehen auf die griechische Medizin (Aretaios von Kappadokien) zurück. Das Symptom Kopfschmerz, dessen mit Abstand häufigste Ursache eine primäre Kopfschmerzerkrankung ist, gehört mit einer Einjahresprävalenz von circa 60 % [7] bei Erwachsenen und von über 70 % bei Jugendlichen zusammen mit den unspezifischen Rückenschmerzen zu den zwei häufigsten Beschwerden unserer Zeit überhaupt. Nach epidemiologischen Erhebungen geht man allein in Deutschland von über 8 Mio. Migränepatienten, 16 Mio. Patienten mit Spannungskopfschmerz und 150.000 Patienten mit einem Clusterkopfschmerz aus [8]. Trotz dieser erheblichen Patientenzahlen findet man in Deutschland nur wenige Spezialambulanzen (zz. 7) und keinen universitären neurologischen Lehrstuhl, der sich mit der Erforschung von Kopfschmerzerkrankungen als Schwerpunkt beschäftigt. Worin ist dies begründet? Mehrere Faktoren mögen dabei eine Rolle spielen:
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1.
Lange Jahre gab es in der Therapie nur wenige Optionen und Neuerungen, was Kopfschmerzerkrankungen als wenig lohnendes Arbeitsfeld hat erscheinen lassen.
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2.
Primäre Kopfschmerzen gelten bis heute als harmlose Erkrankungen, die keiner spezifischen Therapie bedürfen und keine Gesundheitsbelastung hervorrufen.
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3.
Primäre Kopfschmerzen wurden in Diagnostik und Therapie lange Zeit nicht im Kontext ihrer häufigen Begleiterkrankungen betrachtet
Ad 1) Der Meilenstein in den Behandlungsmöglichkeiten der Migräne waren die Entwicklung der Triptane und die damit verbundenen Kenntnisse über die Mechanismen der neurovaskulären Entzündung. Auf den wissenschaftlichen Arbeiten aufbauend wurde die Kopfschmerzforschung weitergetragen. Das Wissen um die Abläufe bei Migräneattacken, die Mechanismen der Schmerzchronifizierung und das Zusammenspiel hirnorganischer Abläufe und psychischer Faktoren hat in den letzten Jahrzehnten zu einem deutlich verbesserten, wenn auch noch unvollständigen Verständnis der Migränepathophysiologie beigetragen und darauf basierend die Entwicklung neuer Behandlungsoptionen vorangetrieben. Hierzu zählen z. B. die Anwendung von Botulinumtoxin in der Schmerztherapie der chronischen Migräne und der Trigeminusneuralgie, die Entwicklung von neuen spezifischen Substanzklassen, die in das CGRP-System eingreifen, wie den Gepanten (CGRP-Antagonisten) und den CGRP-Liganden und CGRP-Rezeptor-Antikörpern, aber auch Verfahren der Neurostimulation. Mit den Ditanen (5-HT1f-Agonisten) werden in den nächsten Monaten weitere neue Therapieoptionen hinzukommen, und weitere Substanzklassen werden entwickelt: So können in der etwas weiteren Zukunft auch mit den PACAP-Antikörpern und Wirkstoffen aus der Orexingruppe weitere neue Wirkstoffgruppen hinzukommen [3,4,5]. Weiter finden sich eine Reihe von Ansätzen durch Nervenstimulation (z. B. des N. vagus) um primäre Kopfschmerzen akut oder prophylaktisch zu beeinflussen [2].
Ad 2) Neben der direkten Beeinträchtigung durch die Kopfschmerzen führt die dadurch verlorene Zeit (in der Freizeit wie auch am Arbeitsplatz) zu einer messbaren Beeinträchtigung und zum Verlust an Lebensqualität. Nach Berechnungen der Arbeitsgruppe der WHO (World Health Organisation), die sich mit den durch spezifische Erkrankungen hervorgerufenen Beeinträchtigungen in der Bevölkerung befasst („burden of disease“), stellt die Migräne die Erkrankung dar, die unter den neurologischen Erkrankungen noch vor dem Schlaganfall in Westeuropa zu der größten Zahl an Lebensjahren mit Beeinträchtigung führt [1].
Ad 3) Verschiedene prospektive Langzeitstudien haben eindeutig gezeigt, dass das Risiko, auch an verschiedenen anderen Erkrankungen zu leiden, beim Vorliegen einer primären Kopfschmerzerkrankung signifikant erhöht ist. Da ist in erster Linie die Migräne zu nennen, die unter anderem zu einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Depression, Angsterkrankungen und auch andere Schmerzerkrankungen führt. In der letzten Zeit zeigen sich auch ähnliche, wenn auch etwas schwächere Verbindungen für den Spannungskopfschmerz. Basierend auf genetischen Untersuchungen finden sich auch erste Erklärungsmodelle für diese gehäuften Komorbiditäten [6, 9].
Es gibt also eine Vielzahl von Gründen und Argumenten, warum die Beschäftigung mit Kopfschmerzerkrankungen für den Kliniker wie den Wissenschaftler eine spannende, abwechslungsreiche und lohnende Tätigkeit ist. Die in diesem Schwerpunktheft von Der Schmerz vorgestellten Beiträge geben Ihnen vielleicht den Anreiz, sich mehr mit der Thematik und den vielen Betroffenen zu beschäftigen, auf dass die Zahl der Kopfschmerzambulanzen in Deutschland steigen möge! Folgende Themen erwarten Sie:
Die Arbeitsgruppe um T. Jürgens aus Rostock gibt einen Überblick über die Optionen einer modernen Migräneprophylaxe und räumt dabei den offenen Fragen in Bezug auf die neuen CGRP-(Rezeptor‑)Antikörper besonderen Raum ein. Die Prophylaxe mit den Standardmitteln bleibt weiterhin die primäre Therapieoption. Der Spannungskopfschmerz gilt weiterhin als der häufigste primäre Kopfschmerz und trotzdem fehlt bis heute ein tragfähiges Konzept über die Pathophysiologie. In dem Beitrag „Kopfschmerz vom Spannungstyp: Quo vadis?“ wird die Schwierigkeit in der Abgrenzung zur Migräne diskutiert. Die Trigeminusneuralgie wird klassischerweise als eine Erkrankung gesehen, bei der es durch einen Gefäß-Nerven-Kontakt zu einer Schädigung der Myelinisierung im Bereich der „Root-entry-Zone“ des Nerven kommt. R. Ruscheweyh und Kollegen diskutieren, wie dieses Konzept vereinbar mit den neuen Beobachtungen der Wirksamkeit von subkutaner lokaler Botulinumtoxininjektion in die vom Schmerz betroffenen Gesichtsareale ist. Eines der beherrschenden Themen in den letzten Monaten war die Digitalisierung in der Arbeitswelt und auch im Gesundheitssystem. Diese Entwicklung hat durch die Coronapandemie einen bis vor einem halben Jahr noch undenkbaren Schub hin zu digitalen Hilfsmitteln in der nichtmedikamentösen Therapie von Kopfschmerzen gebracht und auch hergebrachte Ambulanzstrukturen um moderne Methoden der Videotelefonsprechstunde erweitert. Lars Neeb und Kollegen stellen zwei Projekte zu E‑Health vor, an denen die DMKG bzw. Mitglieder der DMKG wesentlich beteiligt waren: Konkret geht es um den Einsatz einer Migräne-App zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Migräne und das Register der DMKG zur Sammlung von Daten zur Therapie mit neuen Prophylaktika, welches für jeden Interessierten offen ist. Inwieweit die Digitalisierung die nichtmedikamentösen Therapien beim Kopfschmerz revolutionieren kann, diskutiert T. Dresler. Er versucht, die Frage zu beantworten, wie die psychologische Schmerztherapie durch die COVID-19-Pandemie verändert wird und digitale Angebote eine Alternative zu den traditionellen Angeboten sein können.
Trigeminoautonome Kopfschmerzen sind durch ihre hohe Schmerzintensität eine Gruppe von Kopfschmerzen, die zum Teil besonders belastend für die Patienten sind und dazu aufgrund ihrer Seltenheit oft erst nach vielen Arztbesuchen korrekt diagnostiziert und behandelt werden. C. Gaul setzt sich mit den bisherigen Therapien auseinander und beleuchtet, warum die Studien zu den CGRP-Antikörpern in der Prophylaxe des Clusterkopfschmerzes nicht die von allen Experten erwarteten Ergebnisse erbrachten.
Neben den primären Kopfschmerzen, die in der täglichen Praxis mehr als 90 % aller Patienten betreffen, dürfen aber auch die sekundären Kopfschmerzen nicht vergessen werden. Bei diesen ist der Kopfschmerz Folge einer Grunderkrankung, die zum Teil bei Nichterkennen erhebliche Konsequenzen haben kann (z. B. Subarachnoidalblutung, Riesenzellarteriitis). Welche Warnsignale in der täglichen Praxis beachtet werden sollten, um akut behandlungsbedürftige Kopfschmerzen nicht zu übersehen, ist ein weiteres Schwerpunktthema.
Dieses Heft bietet einen Querschnitt durch die Welt der Kopfschmerzen mit wichtigen Aspekten für den in der täglichen Versorgung arbeitenden Kliniker und auch für den an neuen Entwicklungen interessierten Wissenschaftler. Als Herausgeber dieser Ausgabe hoffen wir, dass die Leser viele neue und spannende Aspekte der primären Kopfschmerzen entdecken, und bedanken uns bei den Herausgebern der Zeitschrift Der Schmerz für die Möglichkeit, ein solches Schwerpunktheft zusammenzustellen.
Andreas Straube
Stefanie Förderreuther
Literatur
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Gaul C, Diener HC, Silver N et al (2016) Non-invasive vagus nerve stimulation for PREVention and acute treatment of chronic cluster headache (PREVA): a randomised controlled study. Cephalalgia 36:534–546
Goadsby PJ (2019) Primary headache disorders: five new things. Neurol Clin Pract 9:233–240
Hoffmann J, Miller S, Martins-Oliveira M et al (2020) PAC1 receptor blockade reduces central nociceptive activity: new approach for primary headache? Pain 161:1670–1681
Loo LS, Plato BM, Turner IM et al (2019) Effect of a rescue or recurrence dose of lasmiditan on efficacy and safety in the acute treatment of migraine: findings from the phase 3 trials (SAMURAI and SPARTAN). BMC Neurol 19:191
Nurnberg ST, Guerraty MA, Wirka RC et al (2020) Genomic profiling of human vascular cells identifies TWIST1 as a causal gene for common vascular diseases. PLoS Genet 16:e1008538
Straube A, Aicher B, Förderreuther S et al (2013) Period prevalence of self-reported headache in the general population in Germany from 1995–2005 and 2009: results from annual nationwide population-based cross-sectional surveys. J Headache Pain 14:11
Straube A, Ruscheweyh R (2019) Epidemiologie von Kopfschmerzen über die Lebensspanne. Nervenheilkunde 38:735–739
Tana C, Giamberardino MA, Cipollone F (2017) microRNA profiling in atherosclerosis, diabetes, and migraine. Ann Med 49:93–105
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Straube, A., Förderreuther, S. Primäre Kopfschmerzen. Schmerz 34, 461–463 (2020). https://doi.org/10.1007/s00482-020-00511-8
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