In diesem Themenheft finden Sie die zweite Aktualisierung der S3-Leitlinie zum Fibromyalgiesyndrom (FMS). Im Editorial zur ersten Version dieser Leitlinie – „Fibromyalgiesyndrom: Leitlinie zu einer Fiktion?“ – haben wir im Jahr 2008 auf die Kontroversen zwischen den Wissenschaftlern, Klinikern und Betroffenen hingewiesen [4]. Dr. Wolfe (USA), der Erstautor der derzeit am meisten verwendeten Klassifikations- und Diagnosekriterien des FMS, hat im Jahr 2009 in einem Editorial im Journal of Rheumatology mehrere „Fibromyalgia wars“ beschrieben, in deren Zentrum immer auch die Legitimität der Krankheitserfahrung der betroffenen Patientinnen und Patienten steht [12]. Oder sind die „Kriege“ tatsächlich beendet und wir sollten dem „Frieden“ eine Chance geben, wie Dr. Harth in einem Gegeneditorial im Journal of Rheumatology schrieb [7]? Im Folgenden ziehen die Autorinnen und Autoren eine Bilanz über 12 Jahre S3-Leitlinie FMS und beantworten die Frage aus ihrer jeweiligen Perspektive.

Sicht der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung und der Deutschen Rheuma-Liga

Seit der Erstellung der ersten Version der Leitlinie im Jahr 2008 sind neun Jahre der Hoffnung auf Akzeptanz ins Land gezogen. Doch leider muss aus unserer Sicht festgestellt werden, dass es diese Akzeptanz, vor allen Dingen in den ländlichen Bereichen, immer noch nicht ausreichend gibt. Noch immer werden Betroffene als Hypochonder und Faulenzer abgestempelt. Noch immer weigern sich viele Ärzte, Fibromyalgie als Krankheit anzuerkennen. Allerdings hat gerade bei diesem Punkt die bloße Existenz der Leitlinie eine Verbesserung der Situation erreicht.

Überraschend ist, dass weiterhin viele Ärzte keine Kenntnis von der Existenz der Leitlinie haben. Leider zeichnet sich ein Trend ab, dass für viele Hausärzte und Rheumatologen der Aufwand zu groß ist, die Diagnose FMS zu stellen. Sie sind bereit zur Weiterbehandlung, fordern aber die Betroffenen auf, sich vorher von anderer Stelle die Diagnose FMS stellen zu lassen. Weiterhin berichten viele Betroffene, dass internistische Rheumatologen zwar die Diagnose stellen, die weitere Behandlung aber ablehnen und auf Schmerztherapeuten verweisen.

Auf der anderen Seite stellen wir aber eine deutliche Qualitätsverbesserung bei der Patientenversorgung, vor allem in Kliniken, die sich der Fibromyalgie angenommen haben, fest. So wurde mit der multimodalen Schmerztherapie, die in vielen Kliniken angeboten wird, eine wichtige Verbesserung erzielt. Auch wird uns von unseren Mitgliedern berichtet, dass es bei der Genehmigung dieser Therapie durch die meisten Krankenkassen kaum Probleme gibt. Die Aufwertung des Funktionstrainings als „starke Empfehlung“ in der Aktualisierung von 2012 [11] hat erfreulicherweise zu einer breiteren Verschreibungspraxis geführt. Die Rückmeldungen der Betroffenen zeigen, dass die meisten Krankenkassen die Verschreibung von Funktionstraining problemlos akzeptieren.

Erfreulich ist auch, dass die neue Leitlinie die Behandler explizit animiert, Betroffene auf Broschüren und Internetseiten ausgewählter Selbsthilfeorganisationen hinzuweisen.

Sicht der AWMF

Die AWMF begleitet Leitlinienprojekte methodisch und durch unabhängige Moderation der strukturierten Konsensfindung. Kontroversen über Diagnosestellung und Therapiemöglichkeiten sind bei diesen Prozessen nichts Ungewöhnliches. Dabei bestehen nicht selten bei der Beurteilung der Studienevidenz Interpretationsspielräume, die verschiedene Schlussfolgerungen zulassen – je nach Werturteil. Dies ist die Rationale für die Option auf sogenannte Sondervoten, die von einzelnen Fachgesellschaften gut begründet auch entgegen einem bestehenden Konsens eingebracht werden können. Sondervoten bilden demzufolge wissenschaftlich mögliche Heterogenität ab. In dieser Leitlinie finden sich zur Diagnosestellung bei Kindern und Jugendlichen, aber auch zu zwei therapeutischen Verfahren Sondervoten.

Was bei der vorliegenden Leitlinienaktualisierung zum FMS sehr positiv hervorzuheben ist, ist im Unterschied zur Diagnosevergabe die große Einigkeit in Bezug auf das therapeutische Vorgehen bei Kindern und Jugendlichen. Die Nutzer finden so in einer Leitlinie alle wichtigen Fragestellungen abgebildet.

Die AWMF unterstützt mit Nachdruck die Evaluation der Umsetzbarkeit und Umsetzung von Leitlinienempfehlungen. Für diese Leitlinie wäre auch eine qualitative Evaluation in Bezug auf die Diagnosevergabe denkbar und sinnvoll.

Sicht der Deutschen Schmerzgesellschaft

Die Kontroversen um die Sinnhaftigkeit der Diagnose „FMS“ sind auch für diese dritte Auflage der Leitlinie nicht mit allen Gebieten der Medizin beendet. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) beteiligte sich nicht an den beiden Aktualisierungen der Leitlinie, weil ihr Vertreter in der Steuergruppe der ersten Fassung der Leitlinie den Gebrauch der Diagnose im Kontext der Hausarztmedizin ablehnt [5]. Bei der vorliegenden Aktualisierung schieden vier Vertreter der Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie aus der Leitliniengruppe aus, weil sie nicht mit der Verwendung der Diagnose FMS bei Kindern und Jugendlichen einverstanden waren, aus Sorge um einen negativen Einfluss der Diagnose auf die Betroffenen bei günstigerer Prognose in dieser Patientengruppe im Vergleich zu Erwachsenen [2]. Mit den psychologischen, psychosomatischen und psychiatrischen Fachgesellschaften besteht dagegen weiterhin Konsens über die Benutzung des Diagnosecodes, auch bei Kindern und Jugendlichen, mit Überlappungen und Unterschieden zu somatoformen und anderen psychischen Störungen. Der starke Konsens über das biopsychosoziale Modell des FMS beinhaltet sowohl die Akzeptanz psychosozialer Krankheitsfaktoren (belastende Lebensereignisse, Trauma, Depression) durch die Patienten und Vertreter der „somatischen“ Fächer als auch die Akzeptanz biologischer Krankheitsfaktoren (z. B. chronisch-entzündliche rheumatische Erkrankungen) durch die „psychosozialen“ Fächer.

Die öffentliche Akzeptanz der Erkrankung hat weiter zugenommen, wie Fernsehbeiträge in öffentlich-rechtlichen Programmen und die Patienteninformation des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin [1] zeigen.

Leider konnte die im Jahr 2012 angekündigte Evaluation der Leitlinie mit der Frage, ob sich die Verschreibungspraxis von Medikamenten, physikalischen Therapien und Psychotherapie geändert hat, nicht durchgeführt werden. Eine solche Evaluation wäre nur mit Daten der Krankenkassen möglich gewesen. Die geplante Studie mit der BEK/GEK konnte nicht realisiert werden. Ein Grund hierfür kann die bis heute zögerliche Anwendung der ICD-Codierung des FMS im klinischen Alltag sein, mit Prävalenzraten bei BEK/GEK-Daten von 0,3 % [8] im Gegensatz zu Prävalenzraten von bis zu 2,1 % bei Befragungen der allgemeinen Bevölkerung [13]. Die Diskrepanz zwischen administrativen und epidemiologischen Prävalenzraten deckt sich mit der Wahrnehmung der Patientenvertreter, dass viele Ärzte den Diagnosecode „Fibromyalgie“ nicht verwenden bzw. nicht anerkennen. Für die Krankenkassen können die geringe Prävalenzrate und die höheren Kosten bei anderen Erkrankungen ein Grund gewesen sein, zunächst andere Prioritäten in der Versorgungsforschung zu setzen, z. B. „biologicals“ bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen [3].

Es ist zu begrüßen, dass es weiter wissenschaftliche Kontroversen (keine Kriege) über das FMS gibt, da sie ja den wissenschaftlichen Fortschritt signalisieren können. Die erste Publikation zu pathologischen Befunden an den kleinen Nervenfasern („small fibers“) bei FMS-Patientinnen stammt aus Deutschland [9]. Das vorliegende Themenheft enthält die erste Übersichtsarbeit zu dem Thema mit einer kritischen Würdigung der Befunde [10].

Die Methodik der Leitlinienerstellung wurde weiterentwickelt. Der Interdisziplinarität der Deutschen Schmerzgesellschaft wurde durch die Erweiterung der Leitliniengruppe um Vertreter der Ergotherapeuten, Pflegewissenschaften und Pharmazeuten Rechnung getragen. Die erste Version der Leitlinie stützte ihre Empfehlungen auf eine qualitative Analyse von randomisierten klinischen Studien (RCT). Die erste Aktualisierung führte eigene Metaanalysen von RCT durch. Die wachsende Zahl von RCT und systematischen Übersichtsarbeiten führte dazu, dass bei der zweiten Aktualisierung überwiegend systematische Übersichtsarbeiten von RCT berücksichtigt wurden [6]. Die Summe der Evidenz zum FMS hat damit mittlerweile ein echtes Gewicht.

Dieses Gewicht ist Chance und Verpflichtung zugleich, für Behandler in gleicher Weise wie für Betroffene. Nach 12 Jahren Leitlinie wird immer deutlicher, dass eine einzelne Maßnahme wenig bewirken wird, sei sie ein Medikament, eine physiotherapeutische oder physikalische Behandlung oder ein therapeutisches Gespräch. Sowohl das Behandeln als auch das Behandeltwerden ist harte Arbeit. Deshalb werden sich die an der Leitlinie beteiligten Selbsthilfeorganisationen und Fachgesellschaften weiter für eine Verbreitung der Leitlinie einsetzen. Aus unserer Sicht bildet die Leitlinie einen realistischen und konstruktiven Umgang mit dem FMS ab, sie schildert Möglichkeiten der Versorgung und des Selbstmanagements. Ziel ist dabei, eine aktive soziale Teilhabe der Betroffenen zu erhalten – ein Auftrag und Anspruch, dem sich Behandler und Betroffene in gleicher Weise stellen sollten.

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W. Häuser

Für die Autorinnen und Autoren