Zusammenfassung
Hintergrund
Jedes berufliche Segment hat seine typischen Belastungsanforderungen, aus denen sich für die Angehörigen Körpervorstellungen und Schmerzdeutungen ergeben. Durch das Ertragen von typischen Belastungen werden Identität und Status zugewiesen sowie die Mitgliedschaften in Bezugsgruppen aktualisiert. Aus soziologischer Perspektive wird Schmerz als ein Medium für Vergesellschaftungsprozesse in Belastungskollektiven untersucht.
Ziel der Arbeit
Untersucht werden kulturelle Deutungsformen von Kopfschmerzen und Migräne bei Angehörigen von Produktions- und Dienstleistungsberufen sowie von Patienten in der schmerzmedizinischen Versorgung.
Patienten und Methoden
Durchgeführt wurden qualitative biographische Interviews mit 49 Personen mit Kopfschmerzen und Migräne aus der ambulanten Normalversorgung sowie der spezialistischen stationären Schmerzversorgung.
Ergebnisse
Für Angehörige der Produktionsberufe mit körperbetont-mechanischen Belastungsformen und dominierend maskulinen Einstellungen sind Kopfschmerzen eine untypische Abweichung, die als Körperschmerzen kontextualisiert werden. Für Angehörige der Dienstleistungsberufe mit kommunikativ-emotionalen Belastungsformen sind Kopfschmerzen eine typische und akzeptierte Abweichung. Beide Schmerzverständnisse repräsentieren dominierende Körpernormen und kollektive Verpflichtungen in den beiden Gruppen. Dieses Alltagsverständnis von Schmerz wird in der spezialisierten Schmerzmedizin zunehmend durch medizinische Deutungen überspielt, mit denen der Alltag neu arrangiert und veränderte soziale Identität zugewiesen wird.
Schlussfolgerung
Der Erfolg der Kopfschmerzversorgung hängt z. T. auch davon ab, ob es den Patienten gelingt, einen medizinisch regulierten Lebensstil gegenüber ihren signifikanten Anderen durchzusetzen. Damit gehen allerdings auch Konflikte mit den Anforderungen des täglichen Lebens einher.
Abstract
Background
Every professional segment has its own typical forms of stress, which for members result in patterns of bodily conception and interpretation of pain. The way individuals cope with these typical forms of pain reflects their social identity, social status and group membership. In this study pain was investigated from a sociological perspective as a medium contributing to socialization processes in stress collectives.
Objectives
Cultural conceptions of headache and migraine were investigated in members of blue collar occupations, in service professions and patients in specialized medical pain care.
Materials and methods
In this study 49 qualitative biographical interviews were conducted with patients suffering from headache and migraine. The study population included persons from the general outpatient population and patients recruited from specialized inpatient pain clinics.
Results
Members of blue collar occupations with specific body-oriented, mechanical stress patterns and dominant masculine attitudes, perceived headache and migraine as atypical deviations, which are contextualized as body pain. Professionals in the service sector with specific communicative-emotional work patterns perceived headache and migraine as typical and accepted deviations. Both pain conceptions represent dominant body norms and social commitments in each group; however, in specialized pain care these everyday concepts are transformed by increasing expert knowledge resulting in medicalized life styles and in identity conceptions conforming to the medical imperative.
Conclusion
The success of specialized treatment of headache depends to a certain extent on the ability of patients to impose a medically regulated life style on their significant others; however, this can conflict with the demands of everyday life.
Notes
Die Untersuchung wurde im Rahmen des DFG-geförderten Projekts „Schmerzhandeln und Identitätsmanagement von Kopfschmerzpatienten“ an der Universität Kassel durchgeführt. Zu bedanken habe ich mich bei dem Projektleiter Prof. Dr. Gerd Göckenjan für wertvolle Hinweise und Anregungen. An Datenerhebung und Auswertung mitgewirkt haben Alexander Urban, Sina Schadow und Markus Kuhn, bei denen ich mich ebenfalls bedanke. Der vorliegende Beitrag ist eine Vorveröffentlichung einer umfangreicheren Studie zu sozialen Konstruktionsprozessen bei Kopfschmerzen und Migräne.
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S. Dreßke gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine vom Autor durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Dreßke, S. Alltagsdeutungen und medizinische Deutungen von Kopfschmerzen und Migräne. Schmerz 30, 333–338 (2016). https://doi.org/10.1007/s00482-016-0129-2
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