Mit der zunehmenden Fülle medizinischen Wissens fällt es schwer, die aktuellen Entwicklungen auch nur im eigenen Fachgebiet zu verfolgen. Für die klinische Praxis werden deshalb Leitlinien immer wichtiger, in denen der Stand des Wissens zusammengefasst wird und daraus eine Empfehlung für den klinisch tätigen Arzt formuliert wird.

Die Zeitschrift Der Schmerz hat es mit der zunehmenden Bedeutung von Leitlinien als Aufgabe angenommen, solche aktuellen Leitlinien zu veröffentlichen. So wurden im letzten Jahr beispielsweise in den beiden Schwerpunktheften die Leitlinien „Fibromyalgie“ und „Palliativmedizin“ entwickelt. Solche Leitlinien geben eine Anleitung für die tägliche Praxis. Dabei muss eine Leitlinie aber immer auf ihre Anwendbarkeit im konkreten Einzelfall überprüft werden, bevor sie angewendet wird. Leitlinien sind keinesfalls als unabänderliche Leitplanken zu verstehen [1].

Während einerseits die Notwendigkeit der Erstellung von Leitlinien für alle Bereiche der Medizin, auch für die Therapie akuter oder chronischer Schmerzen, immer weiter steigt, wird die Entwicklung von Leitlinien in der Medizin andererseits immer komplizierter und damit aufwendiger. Ob sich der zunehmende Aufwand, der in die Erstellung von Leitlinien investiert wird, immer und auf jeden Fall lohnt, kann zumindest in den Bereichen kritisch hinterfragt werden, in denen die klinische Forschung bisher wenig Evidenz produziert hat [2]. Für manche Themen mit dünner Forschungsdatenlage wäre es vielleicht besser, statt des Aufwands für die Entwicklung einer Leitlinie eine oder zwei gute klinische Studien zu planen und durchzuführen.

In Deutschland werden Leitlinien von unterschiedlichen Gremien mit unterschiedlichen Systemen entwickelt. Die Arzneimittelkommission der Ärzteschaft (AkdÄ) veröffentlicht Therapieempfehlungen (http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/TE/index.html), u. a. zu Tumorschmerz [3]. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) veröffentlicht Leitlinien (http://www.awmf.org/leitlinien.html), z. B. die von der Deutschen Schmerzgesellschaft erstellte Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingtem Schmerz (LONTS; [4]).

Die Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) werden gemeinsam von der AWMF, der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) herausgegeben. Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) übernimmt die organisatorische und redaktionelle Umsetzung des NVL-Programms für BÄK und KBV, das AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi) übernimmt die Umsetzung für die AWMF. Die NVL folgen einer ausgefeilten Methodik, die für jede Leitlinie in einem Methodenreport detailliert dargestellt wird. Dieses Vorgehen wurde auch bei der NVL Kreuzschmerz [5] eingehalten, die auf der Basis von älteren Therapieempfehlungen der AKdÄ zu Kreuzschmerz entstanden ist und 2011 mitsamt dem Leitlinienreport zur Methodik [6] veröffentlicht wurde.

Juristische Unterstützung für die Leitlinien

Zu dieser Leitlinie hat das Oberlandesgericht Köln im November 2012 ein interessantes Urteil gefällt [7]. Worum ging es bei diesem Rechtsstreit? Eine Herstellerfirma hatte geklagt, da das von ihr produzierte Medikament Katadolon in der NVL Kreuzschmerz negativ bewertet wird.

In der NVL wird empfohlen: „Flupirtin soll zur Behandlung von akutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nicht angewendet werden“ (Empfehlung 6.9). Flupirtin ist zur Anwendung bei akuten und chronischen Schmerzen wie schmerzhaften Muskelverspannungen der Halte- und Bewegungsmuskulatur zugelassen. Aus den zusätzlichen myotonolytischen Eigenschaften wurde eine besondere Eignung zur Behandlung von nichtspezifischem Kreuzschmerz abgeleitet. Die negative Bewertung in der NVL wird demgegenüber mit einem nicht erbrachten Wirksamkeitsvorteil im Vergleich zu anderen Analgetika, einer möglichen Lebertoxizität der Substanz, da unter Flupirtin Leberschäden gemeldet wurden, sowie mit Verdachtsberichten zu einer Flupirtinabhängigkeit begründet.

Das pharmazeutische Unternehmen hatte gegen diese Empfehlung geklagt, da die Aussagen in der NVL nicht neutral und objektiv seien und auf einer falschen Tatsachengrundlage beruhen würden. Das Oberlandesgericht wies nun die Berufung ab und bestätigte in seinem Urteil die Entscheidung des Landgerichts Köln, das diese Klage abgewiesen hatte. In der Begründung wird klargestellt, dass es sich bei den strittigen Aussagen um Meinungsäußerungen handelt, „mit denen die als Ergebnis einer Sichtung und Analyse vorhandener Quellen gewonnene subjektive Wertung zu einer Geeignetheit“ des Medikaments zum Ausdruck gebracht werde. Die Begründung führt weiter aus, dass die Abgrenzung zwischen solchen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen, die per Definition mit den Mitteln eines Beweises überprüft werden können, im Einzelfall schwierig sein kann, insbesondere wenn beide miteinander verbunden würden und erst in dieser Kombination den Sinn der Aussage machen würden. Das Gericht stellt klar, dass in einem solchen Fall der Begriff der Meinung im Interesse eines wirksamen Schutzes des Grundrechts auf Meinungsfreiheit weit auszulegen sei. Diese weite Auslegung rechtfertigt auch eine unterschiedliche Auslegung der Ergebnisse von klinischen Studien. So hatten die Autoren der NVL Kreuzschmerz die Ergebnisse aus zwei klinischen Studien mit Flupirtin deutlich schlechter bewertet als die Autoren dieser Studien selbst.

Schwachstelle Subjektivität

Die Juristen weisen damit auf eine wesentliche Schwachstelle von Leitlinien hin. Auch wenn die Methodik der Leitlinienentwicklung immer ausgefeilter wird, beispielsweise mit der Einführung von komplizierten Bewertungssystemen für die Methodik der bewerteten Studien, bleibt am Schluss ein Schritt, in dem die Autoren die vorhandene Evidenz bewerten und daraus eine Empfehlung erstellen müssen. Bei diesem Schritt ist eine gewisse Subjektivität nicht zu vermeiden [8]. Leitlinien können deshalb nicht vollständig objektiv sein. Andere Autoren können aus der gleichen Evidenz andere Werturteile ziehen und damit andere Empfehlungen aussprechen. Der Methodenreport zur Leitlinie bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma zwischen möglichst objektiver Empfehlung und notwendigerweise subjektiv gefärbtem Werturteil. Hier sollten die Wertungen und Wichtungen nachvollziehbar dargestellt werden. Auf mögliche Schwachstellen und darauf, wie die Autoren der Leitlinie damit umgegangen sind, ist hinzuweisen.

Die Klarstellung, dass Leitlinienempfehlungen Meinungsäußerungen und Werturteile sind und nicht unumstößliche objektive Wahrheiten verkörpern, bestätigt auch, dass Abweichungen des klinisch tätigen Arztes von den Empfehlungen einer Leitlinie nicht zu Sanktionen führen dürfen, wenn sie angemessen begründet werden.

Vor allem aber ist zu begrüßen, dass mit dem Urteil des Oberlandesgerichts verhindert wird, dass Leitlinien wie die NVL Kreuzschmerz nach ihrer Erstellung zum Spielball juristischer Auseinandersetzungen werden. Sonst stünde zu befürchten, dass die Leitlinientexte bald mehr von Juristen als von Medizinern geprägt werden. Es ist also sehr zu begrüßen, dass die Bewertung der vorhandenen Evidenz durch die Leitlinienautoren weiterhin ungehindert von möglichen juristischen Implikationen in die Leitlinien einfließen kann. Für den sich daraus ergebenden Diskurs steht die Zeitschrift Der Schmerz als Diskussionsplattform zur Verfügung.